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Dienstag, 14. Juli 2015

What's radical?

Zugegeben, in den letzten Wochen war es etwas ruhig auf dem RENFIELD-
Blog. Das hat aber nichts mit dem Sommer oder dem dazugehörigen Inhaltsloch zu tun. Die Gründe waren dringend not-
wendige Renovie
rungsarbeiten im neuen Renfield-Hauptquartier. Und der dazugehörige Umzug, klar. Raus aus Kreuzberg, ab nach Lichtenberg. Kreuz weg, Licht rein, Berg bleibt. So einfach ist das.


Aber jetzt, nachdem sich das größte Chaos des Umzug-Big-Bangs gelegt hat und alle Teilchen einigermaßen Platz im neuen Bau gefunden haben, ist wieder Zeit, regelmäßig Texte und Interviews aus dem Renfield zu posten.
Wir starten gleich mal mit dem ersten Artikel aus RENFIELD No. 30.
Worüber? Über den überaus interessanten Fotografen/Filmemacher/Schriftsteller MIRON ZOWNIR.
Von wem? Von der geschätzten Renfield-Kollegin LRTT*.
Los geht's!

Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich am Tresen in einer Kreuzberger Kneipe saß und ein groß gewachsener glatzköpfiger Mann mittleren Alters meine Bestellung entgegennahm. Zunächst eine unscheinbare Situation, jedoch erkannte ich nach einigen Minuten in dem Barkeeper MIRON ZOWNIR. Kurz zuvor hatte ich den Bildband RADICAL EYE geschenkt bekommen und ihn seither immer wieder durchgeblättert und mir überdurchschnittlich viel Zeit für jede einzelne Seite, jede einzelne Fotografie genommen, weil ich zwar schon viel in meinem Leben gesehen hatte, so etwas aber noch nie. Aus Ehrfurcht fragte ich ihn lediglich, ob er Fotograf sei, was er bejahte. Danach nippte ich weiter an meinem Bier. „Was hat so ein brillanter Typ hinter dem Tresen einer miefigen Berliner Kneipe verloren?“ habe ich mich gefragt, aber eben auch nur mich. Ich weiß ja um die Kulturindustrie und ihre Ambitionen gute Kunst zu fördern. Fürn Arsch!

Das Licht ging aus und ein Film wurde auf die Wand projiziert. Bennett Togler, Kurator der NACHTSCHICHT im BABYLON MITTE und wandelndes Filmlexikon, sprach ein paar einleitende Wort zum folgenden Film. Hier traf sich ein Filmclub, um noch einmal die Chronik der Western und des Film Noir zu durchleben und ich bekam langsam eine Ahnung, wo ich hier gelandet war. Jemand zündete sich eine Zigarette an und der Redner blaffte ihn an, dass er ja gern nach Hause gehen könne, wenn er meint, hier stören zu müssen. Ich bekam Angst, ZOWNIR lachte schallend, dass alle erschraken.

Ein Zufall also, der mich unter diese Leute spülte, von denen ich mich mittlerweile so gern umzingeln lasse, weil es mich erdet, wie es sonst kaum etwas anders vermag. Der direkte und zeitweise auch rohe Umgang miteinander, wenn Menschen, die wissen was sie wollen, was sie für richtig und falsch halten, aufeinander treffen, das ist es, was mich erdet. Grade raus sagen, was die Schnauze ausspuckt, ohne Schnörkel und falsche Weichzeichner.
Leute mit Visionen – das hat mir gefehlt, weswegen ich froh war einige Zeit später bei der Realisierung eines Films von MIRON ZOWNIR dabei sein zu dürfen, bei dem Birol Ünel, Milton Welsh, Rummelsnuff, Gloria Viagra oder King Khan, um nur einige zu nennen, sich gegenseitig die Köppe einhauen. Wunderbar! Ganz wunderbar! Ich hatte mir extra frei genommen, von meinem bezahlten Irgendwas-mit-Medien-Job, um mal wieder was Richtiges und für mein Verständnis Wichtiges zu tun.

Das Drehbuch zum Film stammt von niemand geringerem als ZOWNIR selbst. Seine Leidenschaft galt bereits in junge Jahren der Literatur, den Märchen, den Existenzialisten, den russischen Autoren. Jedoch befiele ihn ein Gefühl der Isolation, wenn andere Kanäle des Ausdrucks verstopft wären, weswegen er nicht nur schreiben, sondern auch Filme machen und über dies hinaus auch fotografieren muss. Er muss! Einerseits aus seinem Schaffensdrang heraus und andererseits weil man zum Beispiel beim Schreiben nur ein bestimmtes Publikum erreicht, man für einen Film immer ein Budget braucht und auch, weil seine Fotografien einen eher dokumentarischen als fiktionalen Charakter haben. Völlig verschiedene Paar Schuhe also, jedoch immer mit der unverkennbaren Handschrift ZOWNIRs.

Einige bezeichnen seine Motive als tabubrechend oder provokant, psychotisch oder schmutzig, radikal oder obszön. Und JA, das kann man gern so sehen, aber in mir lösen sie, wie gesagt, eher ein Gefühl der Erdung aus. Die abgebildeten, sogenannten Outsider sind keine Paradiesvögel, sondern Ausgestoßene der Gesellschaft, geopferte Menschen, aber immer noch Menschen, wenn auch teilweise mit verlorener Würde.
Jedoch frage ich mich, bei dem breiten Spektrum an „Outsidern“, die hier im Fokus stehen, ob man da noch von Außenseitern sprechen kann? Die Transsexuellen, die körperlich Behinderten, die Obdachlosen, die Nutten, die AIDS-kranken Kinder, die auf der Straße Krepierten, die traumatisierten Veteranen, die Fetischisten, die Roma, die Schwulen oder Pornodarsteller – Wo ist da die Schnittmenge?
Hier kann man nicht mehr von einer Parallelgesellschaft sprechen, denn das, was man hier sieht, das ist sie – die Gesellschaft. So sieht sie aus und MIRON ZOWNIR sagt: Sieh hin! Er reißt den Schleier von den Augen und betreibt Gehirnwäsche der reinigenden Art. Der Kosmos, der aus den immer wiederkehrenden stilistischen Elementen ZOWNIRs entsteht, versetzt einem immer wieder und jedes Mal anders einen Tritt, der zumindest mich näher an den Ist-Zustand heranführt. Im heutigen Verständnis würden die Leute gern ihr mickriges Ich dadurch pimpen, indem sie sich selbst gern in der Außenseiterrolle sehen und diesem Begriff irgendwie positiv besetzen. ZOWNIR zeigt aber das diesem Hedonismus ein Hangover folgt.

Aktuell findet sich die Schattenseite des Lebens in dem Fotobuch UKRAINIAN NIGHTS wieder, das MIRON ZOWNIR in Zusammenarbeit mit Kateryna Mishchenko erstellt hat. Es geht um die Menschen und deren Alltag, aber vor allem wieder um genau jene, die an der Peripherie des vermeidlichen Mainstream leben und die Gesellschaft doch besser widerspiegeln als alle anderen. Sie werden sichtbar gemacht und somit zu den wahren Rebellen bzw. Demonstranten für ein würdevolleres Leben. Auch hier geht es nicht um Opferdarstellungen, sondern um die Beschreibung von Situationen und Umständen, unter denen die Ukrainer leben, nicht nur in Kiew, nicht nur auf der Krim, sondern in der gesamten Ukraine. Das, was außerhalb des Fokus der öffentlichen Medien geblieben ist, wird nun in UKRAINIAN NIGHTS in den Vordergrund gerückt.

MIRON ZOWNIR, der selbst ukrainische Wurzeln hat und dessen Vater sich seinerzeit zwischen „Gulag oder Westen“ entscheiden musste, erhielt ein Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung, durch welches er diese Reise und deren Dokumentation realisieren konnte. Nach vielen Jahren des Fotografierens scheint es, dass nun endlich demjenigen Ehre zuteilwird, dem Ehre gebührt. Vermutlich kackt MIRON ZOWNIR einen großen Haufen auf Ruhm und Anerkennung, aber meiner Meinung nach wird es höchste Zeit, dass beispielsweise sein Fotobuch DOWN AND OUT IN MOSCOW unter den besten des Jahres ist (Virtual Bookshelf).

Immerhin ist seine Russlandreise bereits 10 Jahre her und der auf dem Cover abgedruckte tote Mann, der unbeachtet mitten auf der Straße verrottet und von Fliegen umschwirrt wird, ist nach wie vor ein schockierendes und tragisches Moment, das nichts von seiner Schlagkraft eingebüßt hat. Allein in diesem Bild werden die Grenzen erkennbar, die sonst unsichtbar die Menschen voneinander trennen. Hier zeigt sich der Zaun zwischen denjenigen, die leben und denen, die ums Überleben kämpfen. Die Bedingungen im Osten sind gnadenloser und härter, sagt ZOWNIR, das Milieu aggressiver. Es zieht ihn jedoch vor allem auch in die Metropolen der Welt, die durch die Kamera ununterscheidbar werden. Berlin, New York, London – sie alle werden durch ihre Parkbänke und Motelzimmer, ihre Nachtclubs und schummrigen Straßen geeint.

Doch es sind natürlich nicht die Orte allein, sondern die rastlosen Menschen, die diese Orte aufsuchen und durch ZOWNIRs Blick von einem Funken Sinn erhellt werden. Der sogenannte Underground bekommt ein Gesicht, welches zu Erkennen ZOWNIR nach wie vor auf der Spur ist. Fotografierend, schreibend, Filme-machend nähert er sich einem Gesamtkunstwerk, das nicht nur seine persönliche Perspektive auf die Welt darstellt, sondern ein Licht in die dunklen Ecken bringt, die genauso zu unsere Alltag gehören, wie die Shopping Mall oder die Autowaschanlage.

Es geht hier also um einen versteckten bzw. nicht offensichtlichen Teil des täglichen Wahnsinns, wie ZOWNIR es nennt. Er selbst wird zum Bestandteil dieser „Anderswelt“, wenn er sich in bestimmte Milieus begibt. Nichts ist inszeniert, nicht die Blutlache und auch nicht der Gangbang. Und gerade das Authentische macht den Reiz an seinen Bildern aus. Das Bildmaterial, das in der Tagespresse abgedruckt ist, versucht ein Publikum zu bedienen. ZOWNIR nicht! Um den Schritt mehr zu meistern, den ZOWNIR hinter die Kulissen macht, muss er diskret und entschlossen zugleich sein. Es bedarf eines gewissen Gespürs für bestimmt Situationen, die durchaus auch gefährlich werden können, aber als Ex-Rausschmeißer, der den Knast nicht nur einmal von innen gesehen hat, weiß ZOWNIR sich zu verteidigen.

Zum Glück hält ihm nicht gleich jeder ein Messer an die Halsschlagader. So strecken exhibitionistischer veranlagte Menschen gern ihren Arsch in die Richtung seines analogen Objektivs, um es später in schwarz-weiß abgebildet einer Ausstellung herzugeben. Wagt es ein Gallerist ZOWNIRs Werke zu zensieren, wird nur noch eine Staubwolke des legendären Fotografen übrig bleiben. Da ZOWNIR sich nicht selbst zensiert, würde er es auch nie zulassen, dass es jemand anderes tut. Man kann die Welt nicht ändern, indem man ein Bild von der Wand reißt und so tut, als hätte es dieses nie gegeben. Die Tatsache, dass das Abgelichtete da draußen ist, kann nur ein Idiot ignorieren. Es gibt sie, die Naziaufmärsche, unter deren braune Masse sich ZOWNIRs Auge mischt oder die religiösen Fanatiker, die die Passion nachstellen und sich selbst das Fleisch in Fetzen peitschen. Denn „jeder Mensch sucht nach einer Erlösung, ein Pilger ebenso wie ein Junkie. Der Unterschied liegt lediglich im individuellen Umgang mit Einsamkeit und Elend.“ ZOWNIR sucht seine eigene Erlösung, aber nicht indem er sich voyeuristisch von der Welt isoliert, sondern sich selbst mitten in sie hinein schleudert.

Die eingangs genannten Protagonisten, wie beispielsweise RUMMELSNUFF, für den er das Musikvideo FREIER FALL (bei -17°C) gedreht hat, gehören zu Unterstützern von ZOWNIRs Filmvisionen, die einen fließenden Übergang darstellen, zwischen den von ihm geschaffenen Fotos und seinen Romanen, Kurzgeschichten oder Gedichten. So schrieb ZOWNIR, den von mir sehr geliebte Kurzgeschichtenband PARASITEN DER OHNMACHT.
Bei der Lesung werden diese Texte von BIROL ÜNEL vorgetragen. Und wieder finde ich mich in einer Berliner Kneipe wieder. Diesmal mit Wein statt Bier. Der etwas lädierte und dadurch ungeheuer sexy und authentisch wirkende Ünel rezitiert die Texte, als hätte er sie noch nie gesehen. Wiegt diese vermeidliche Unsicherheit aber durch seinen Trinker-Scharm auf und verleiht den Worten somit auf seine ganz eigene Weise ein Profil, als würde eine Fotografie ZOWNIRs zum Leben erweckt. Der geborene Schauspieler. Und wieder lacht ZOWNIR laut, dass alle erschrecken. Ein paar Wochen später, fand ich mich beim Dreh von MIRONs Film ABSTURZ wieder. In dem Film geht es grob um einen etwas lädierten, aber sexy Birol Ünel, der ZOWNIRs Kurzgeschichten in einer Berliner Kneipe liest.

ZOWNIR bereitet die Realität zu einer fiktionalen Vision auf und erschafft dabei abgründige Welten, die nur von der echten Welt inspiriert sein können. Es tauchen dabei unter anderem so wortgewaltige Textstellen wie diese hier auf: „Geht zu den Ahnungslosen und tauscht ihre Wälder gegen Fernsehgeräte ein und ihre Hütten gegen Plattenbauten und ihre Sonnenuhren gegen Roleximitationen und ihre Giftpfeile gegen McDonalds und ihren Aberglauben gegen den Judengott und seinen gekreuzigten Sohn, damit sie in Demut erkennen, dass sie von Anfang an falsch lagen ... “

Am Ende sitzt nur noch ein einziger Gast im Raum und das auch nur, weil er eingeschlafen ist. Aus dem entstandenen Film entwickelte sich dann eine Hörbuchaufnahme zu der FM EINHEIT den Soundtrack lieferte und die sich selbst Universal nicht entgehen ließ. Kurz zuvor hatte ZOWNIR bereits prognostiziert, dass selbst das Establishment langsam kapiert, dass es keinen Weg an ihm vorbei gibt. Dennoch wird ZOWNIR sich nie zum Helmut Newton der Unterschicht kaputtinterpretieren lassen. Weswegen er nach wie vor dem nachgeht, was er am besten kann.

Aktuell schneidet er an seinem Spielfilm BACK TO NOTHING. Unter der Besetzung finden sich die übliche Verdächtigen, wie King Kahn, Birol Ünel und Rummelsnuff, aber auch Meret Becker, Timo Jakobs, Texas Terri Bomb, Hanin Elias, Komet Bernhard oder Rolf Buchholz. Produziert wird dieser Film von der bezaubernden Nico Anfuso (Divine Appointments). Ein weiteres Mal wird ZOWNIR uns beweisen, dass nicht alles, was im Dreck liegt, hässlich ist. Wer die Fertigstellung des Films nicht abwarten kann, kann sich das neue Fotobuch NEW YORK CITY RIP besorgen, das ab Juni bei Pogobooks Berlin erscheinen wird und dessen Vorwort niemand geringeres als LYDIA LUNCH verfasst hat.

www.mironzownir.com

Tipp: Am 26.7.2015 zeigt das DurchsFenster zwei Filme von Miron Zownir in Anwesenheit des Regisseurs.

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