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Dienstag, 21. Juli 2015

Draw. Ride. Live. (Up the Punk-Bikes!)

Es gibt viele Arten, sich mit seiner eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Die einen erzählen dem Kollegen am Tresen, was sie Verrücktes im Laufe der Jahre getrieben haben. Irgendwelche Umlaut-Promis engagieren im zarten Alter von 25 Jahren einen Ghostwriter, um einen Blick auf ihre lange Karriere als Irgendwas zu werfen. Andere wiederum hangeln sich anhand eines ganz eigenen und fiktiven Mixtapes durch das Dasein. Irgendetwas gibt es also immer, was man zur Hand nimmt, um sich an das, was man erlebt hat, zu erinnern. Die wenigsten würden allerdings auf die Idee kommen, die Fahrräder, mit denen sie von der Kindheit bis in die Gegenwart, für eine Retrospektive zu Hilfe zu ziehen. Dass man den beschreibenden Blick auf das bisherige Leben also doch sehr einfallsreich gestalten kann, wenn man als Künstler mit Fokus auf den Punk/HC-Bereich seinen ganz eigenen Stil gefunden hat, zeigt der Spanier Rafa El DOC – auf dessen BICIOGRAFIA ich zum ersten Mal beim Zinefest 2013 in Berlin gestoßen bin.

Gary: Fahrräder, Zeichnen, Musik: Welche dieser drei Hauptinteressen in deinem Leben ist dir am wichtigsten?
DOC: Na ja, genau diese drei Dinge sind für mich die Basis für alles andere. Sie hängen eng zusammen und haben dieselbe elektrische Energie, dasselbe Gefühl. Findest du nicht, dass es genau dasselbe ist, ob man mit dem Fahrrad tausend Stundenkilometer schnell den Hügel runterrast und den Wind ins Gesicht kriegt, oder ob man superlaute Musik mit dem Verstärker hört, oder ob man seine ganze Wut in eine Zeichnung spuckt, in der man Leute köpft, die man hasst? Dazu kommt: wenn dich eins davon im Stich lässt, gibt es immer noch die anderen. Ich zeichne fast immer, für irgendwelche Bands oder Konzerte, und ich gehe von meinem Fahrrad eigentlich nur runter, wenn ich schlafen muss oder... zeichnen! Mein neuestes Projekt ist eine fahrbare Fanzinothek. Mit meinem neuen Fahrradanhänger.

G.: Mir scheint, wenn jemand eine Biographie schreibt, hat sie oder er oft gerade eine bestimmte Phase abgeschlossen und blickt darauf zurück. Findest du, das stimmt, und passt es zu deiner Biciografica?
DOC: Vielleicht. Als ich die Biciografica gemacht habe, hatte ich gerade einen wirklich wichtigen Abschnitt meines Lebens abgeschlossen. Das ist wahr. Als ich diese Zeit zu Ende brachte, fühlte ich mich leer und zerstört. Ich wollte mich an die guten Dinge erinnern, um mit der Situation klar zu kommen. Und dann dachte ich an Fahrräder. Ich meine, durch Fahrräder habe ich mich an die letzten 30 Jahre in Spanien erinnert und an die neuen Sachen, die aufgetaucht sind, weil es einige politische Veränderungen gab. Heavy Metal, Punk, Skateboards...

G.: Wie bist du auf die Idee gekommen, die Phasen deines Lebens mit den Fahrrädern zu verbinden, die du hattest?
DOC: Ich dachte, es könnte funktionieren. Es ist eine Art Ethnographie des Selbst, eine persönliche Untersuchung der Erfahrungen eines fast 40jährigen Mannes. Ich kannte einige selbstethnographische Arbeiten, die über Tattoos oder Narben handeln, aber davon habe ich nicht viele. Und dann dachte ich, Fahrräder könnten ein großartiges Thema sein, weil es so viele gibt, die für soziale, politische und ökonomische Phasen stehen.

G.: Wenn man sich die Biciografica anguckt, hast du wohl ziemlich viele Orte auf der Welt gesehen: London, Schweden, Dänemark, Berlin, Lima und Barcelona sind genannt. Wie kamst du an diese verschiedenen Orte? Würdest du sagen, dass du zu den Typen gehörst, die immer auf der Straße sein wollen? Gibt es denn einen festen Platz, den du Zuhause nennst? Und was ist wichtig für dich an einem Platz, den du Zuhause nennen würdest?
DOC: Es gibt in der Biciografica so viele verschiedene Orte, weil ich die wichtigen Momente in meinem Leben zeigen wollte, und Reisen ist etwas Unvergessliches. Ich habe meine Heimatstadt vor Ewigkeiten verlassen. Ich habe tausend Orte mit mehr Neugier als Geld zu sehen bekommen. Ich bin nicht immer auf der Straße, ich war auch manchmal im Dschungel, buchstäblich, hehe. Ich meine, ich hatte verschiedene Phasen der Unbeständigkeit, zum Beispiel in meiner Wahlheimat Barcelona, wo ich hundert verschiedene Sachen gemacht habe und es jahrelang als meine Stadt gesehen habe. Jetzt hat dieses Gefühl sich verändert. Mein Zuhause ist jetzt da, wo meine lebendigen Freunde wohnen, ich meine die, die mit mir etwas machen wollen. Barcelona ist durch, es wird immer langweiliger. Es ist eigentlich eine riesige Open-Air-Shoppingmall voller Touristen. Mit Barcelona ist es vorbei.


G.: Was ist eigentlich der Fahrrad-Krieg in Dänemark, von dem du in der Biciografica erzählst? Das erinnert mich ein bisschen an mittelalterliche Ritterspiele...
DOC: Ja. Es ist tatsächlich so etwas in der Art. Es ist eine apokalyptische Trance. Leute bauen tagelang etwas auf, das sie dann in ein paar Minuten wieder einreißen. Es war eine erstaunliche Erfahrung. Es ist ein Trip, der dich direkt ins Krankenhaus führen kann, aber es ist auch total faszinierend, wie aus einem Müllhaufen ein Monster der Kreativität wird, geritten von Leuten, die sich in edle Krieger verwandeln und einfach am Spiel teilnehmen wollen, ohne jemanden zu verletzen. Es gibt dort Leute von überall her, die genau so sind wie du. Es bildet sich eine kleine „Familie“, voller Möglichkeiten. Du guckst dir das an und merkst, die Leute um dich rum treffen sich, um zu kämpfen, zu schreien, zu spielen, sie sind sich selbst genug, von allen Regierungen unabhängig. Es ist ein elektrisches Gefühl, es vermischt Fett und Schweiß.

G.: Was sind für dich die größten Vorteile des Fahrrads, gegenüber Autofahren, Motorrädern und den Öffentlichen?
DOC: In Barcelona hat das Auto den Kampf schon längst verloren. Es gibt keine Parkplätze, die Straßen sind zu eng und die Polizei zieht dauernd Strafgelder ein. Es wird richtig teuer. Öffentlicher Verkehr ist auch ganz schön teuer. Er ist überfüllt, und du wirst wie Scheiße behandelt. Aber Fahrradfahren ist eine Erfahrung voller Möglichkeiten. Du kannst anhalten, wie und wo du willst, das kannst du mit den Öffentlichen nicht. Fahrradfahren ist für mich eine rebellische Geste, in diesem langweiligen und sesshaften Leben, in dem wir für alles zahlen müssen. Du kriegst ein bisschen Sport in dein Leben und gleichzeitig den Transport.

G.: Ich habe die Biciografica beim Zinefest in Berlin entdeckt. Ich war überrascht, dass es nur noch ein paar Musik-Zines gab, wie ich sie aus der Punkumgebung kenne, aber richtig viele Comics, persönliche Zines und Sketchbooks. Was waren deine Eindrücke von diesem Treffen der Fanzine-Künstler?
DOC: Ich glaube, das passiert gerade überall. Es gibt ein paar Gründe dafür: erstens, die Zugänge zu den neuen Medien. Jeder hat einen Computer und eine Kamera, was allen ermöglicht, bestimmte Sachen zu machen. Zweitens sind Bilder zurzeit ganz besonders wichtig. Wenn du deine Familie durch Skype siehst, das bedeutet auch irgendwie, dass die Entfernung verschwindet. „Sehen heißt haben“.
Vor Jahren haben die Leute in gute Bücher und gute Musik investiert, jetzt investieren sie in eine gute Internet-Verbindung, um an diese Inhalte ranzukommen.
Es hat auch was mit Nostalgie zu tun. Tinte, Papier, Oberflächen muss man anfassen und riechen. In Spanien gibt’s noch einen eindeutigen Grund: die Arbeitslosigkeit. Die normalen Arbeitszeiten, die jeder kennt, sind praktisch verschwunden. Freie Zeit und der Wunsch, mal rauszukommen, bringt die Leute dazu, sich mit Sachen zu beschäftigen, die vielleicht auch den Weg einer neuen Arbeitsweise zeigen, flexibler, von zu Hause aus, wo du das Spiel mit deiner Kreativität bestimmst.
Außerdem verändern sich die Konsumenten und werden älter. Dadurch werden die Fanzines auch besser. Und sie können sich vielleicht keine Häuser und Autos leisten, aber sie können sich ein paar gute Fanzines leisten.

G.: Ich habe die dritte Auflage der Biciografica, also war sie wohl ziemlich erfolgreich. Hast du das erwartet, als du angefangen hast? Gibt es große Unterschiede zwischen den Ausgaben?
DOC: Kommt drauf an, was du mit Erfolg meinst. Drei Ausgaben, die jeweils aus 80 Exemplaren bestehen, das sind 240 Hefte in zwei Jahren. Wenn du auf ein Konzert gehst und Bier verkaufst, kannst du 240 Biere oder sogar mehr in einer Stunde verkaufen... Erfolg? Ganz ehrlich, Fanzine machen hat mir Freude und viele gute Sachen gebracht. Manche Leute würden meinen Job echt lieben.
Die dritte Ausgabe der Biciografica ist größer, diese letzte hatte ich gar nicht geplant. Ich habe die Covers für die zweite Ausgabe bestellt, und als ich sie bekam, waren sie im A3-Format gedruckt und kosteten dreimal so viel wie normal. Ich sagte, ich wollte sie nicht haben. Also machten sie die, die ich eigentlich bestellt hatte, und als ich gerade 200 Euro bezahlen wollte, haben die Mädchen sich entschieden, mir die falschen zu schenken, die nachher dann die richtigen wurden!
Sie lagen so ein Jahr lang bei mir rum, während ich die zweite Ausgabe verkaufte. Dann fand ich eines Tages einen anarchistischen Copyshop, ich fragte nach den Preisen, und sie waren richtig billig. Also beschloss ich, die dritte Ausgabe im A3-Format zu drucken. Es war erstaunlich. Vielleicht hätte ich an den Zeichnungen noch arbeiten sollen, aber ich beschloss, alles so zu lassen, wie es von Anfang an war.


G.: Du benutzt verschiedene Methoden für deine Kunst: Siebdruck, Zeichnen, Masken – was ist deine bevorzugte Methode, und warum gefällt sie dir am besten? Was sind die wichtigsten Unterschiede, ob man ein Shirt entwirft oder das Cover für eine Platte? Wie entscheidend ist der Aspekt der Reproduzierbarkeit?
DOC: Am liebsten setze ich mich erstmal hin und zeichne eine Weile mit dem Bleistift, dann mit Tinte. Das mache ich meistens so, weil man dafür wenig braucht. Siebdruck ist cooler. Ich habe dafür ein paar Arbeitsgeräte zu Hause. Zwischen Klamotten und Plattencovern mache ich eigentlich keinen Unterschied, ich benutze manchmal dasselbe Motiv für beides. Das Wichtigste ist, dass das Motiv Kraft hat, FUERZA. Zum Beispiel mache ich nicht gerne schwierige Sachen für Kassetten-Cover, einfach weil sie so klein sind.
Ich mag ikonische Bilder, die dir ins Gesicht springen. Die letzte Frage ist eine, die mich in letzter Zeit beschäftigt. Ich konzentriere mich auf synthetischen Formen, damit das Drucken gut klappt. Ich habe gerade einige Illustrationen für ein Buch gemacht, und dabei habe ich große, klare Linien benutzt. Ich vertraue der Technik, aber ich traue nicht den unsicheren Geräten.

G.: Wenn man sich deine Arbeit so anschaut, findet man viele satanische Symbole, finsteres grausiges Zeug: Wahnsinn, Teufel, Totenschädel. Viel davon würde erstklassig zu einer Slayer-Platte passen. Kommt das einfach aus so typischen Rock/Metal/Punk-Motiven, oder gibt es bei dir ein tieferes Interesse an okkulten Themen und Theorien?
DOC: Ganz ehrlich? Das ist mir total egal. Satanismus ist eine Vereinfachung, im Guten wie im Schlechten. Manchmal ist das etwas Lustiges, weil du damit konservative Leute erschrecken und beunruhigen kannst.
Ich denke tatsächlich, wenn du gegen Religionen bist, gegen katholische Heuchelei, hegemoniale Denkweisen, szientistische Medizin oder wenn du dem wissenschaftlichen Fortschritt auch nur mit ein bisschen Skepsis gegenüber stehst, dann bist du gleich der Feind, ein Zauberer oder Satanist. Wie bei den historischen Hexenjagden. Das war eindeutig der Versuch, uraltes Wissen von Heilkräften und Pflanzen zu vernichten.
Wenn ich ein umgedrehtes Kreuz male, ist das also eine Warnung. Aber... was könnte satanischer sein als Monsanto, Shell, der Vatikan und Merkel? Wir leben doch längst in der Hölle auf Erden!

G.: In der Punkszene kommt es ja oft vor, dass jemand ein Bild oder eine künstlerische Arbeit benutzt, ohne dafür zu zahlen oder auch nur zu fragen. Ist dir das schon passiert? Und wie bist du damit umgegangen?
DOC: Mir ist das nie passiert. Ich poste immer, was ich fertig gemacht habe, und ich schicke es an eine Person oder eine Band, und wenn es dann jemand benutzt, ist das OK, denn diese Arbeit hat ihren Zweck erfüllt.
Wenn jemand meine Arbeiten für anarchistische Zwecke benutzen will, bitte, kein Problem. Wenn es für eine Marke oder so wäre, dafür habe ich Creative Commons, das funktioniert aber nicht so richtig...
Ich mag es, bei den Sachen, die ich mache, frei zu sein. Ich besitze nichts, und wenn jemand von meinem Zeug inspiriert wird, wenn es jemand hilft, zu malen oder sich auszudrücken, dürfen sie es ganz frei benutzen. F*ck die, die meinen, sie wären originell!

G.: Welche Art von Bands lassen bei dir die Cover für ihre Platten machen? Wie würdest du den Vorgang beschreiben, mit dem du die Covers entwirfst? Sind die Vorschläge der Band wichtig? Und wie bist du in Kontakt mit den Leuten vom MAXIMUM ROCKnROLL-Zine gekommen?
DOC: Bei Punkbands, also DIY-Bands, ist der Vorgang ganz einfach. Sie bestellen das Format, 12”, 7”, Tape oder CD. Sie schicken mir Text und Musik. Ich hör mir das ein paarmal an, und dann lasse ich es ein bisschen in meinem Kopf herumschwimmen...
Ein paar Tage später setz ich mich hin und füge ein paar Ideen zusammen. Manchmal geht’s schnell. Das hängt von der Band ab und wie sie mir gefällt. Ich versuche erst mal von Hand zu zeichnen und benutze den Computer erst, wenn ich merke, dass das nicht mehr genau das wird, was ich will. Schließlich schick ich es der Band und warte, ob es ihnen gefällt. Sonst ändere ich etwas.
Mit den Leuten von MRR lässt es sich super arbeiten. Sie sind total offen und sie brauchen immer Illustrationen. Es war wohl so, dass ein gemeinsamer Freund ihnen meinen Blog gezeigt hat. Dann haben sie mich gefragt, ob ich irgendwas für sie machen wolle, Aufkleber oder Cover, und ich sagte ALLES! Und das habe ich gemacht. Das Cover der Juni-Ausgabe 2013, die Aboseite, die Plattenbeilage, Aufkleber... Ich glaube, was noch fehlt, ist MMR-Radio...

G.: So viele Fragen, und soviele Antworten. Hier noch Raum für ein paar letzte Worte.
DOC: Ich hoffe, ihr findet das Interview nicht zu lang. Es ging um Themen, die es verdienen, dass man sie ein bisschen eingehender bespricht. Vielen Dank für euer Interesse und danke an alle, die dabei mitgemacht haben!

docindustries.blogspot.de

Gary Flanell

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