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Donnerstag, 10. Juli 2025

Xmal Deutschland - ein Interview mit Anja Huwe Pt. II


Hier nun die zweite Rutsche des Interviews von Mr. Mandel mit Anja Huwe anlässlich der Veröffentlichung von „Gift: The 4AD Years“ von XMAL DEUTSCHLAND. Findige Renfield-Freunde haben sich den ersten Teil schon letzte Woche angeschaut. Für alle Spät-entdecker*innen, hier nochmal der Link.

Eric: Nochmal kurz zurück nach Hamburg. Wie habt ihr eure erste Platte aufgenommen? Was war das für eine Situation? War das so im Proberaum oder seid ihr ins Studio?
Anja: Wir saßen bei Alfred Hilsberg auf seinem Bett mit seinen drei Kanarienvögeln und haben ihm gesagt, pass mal auf, alle machen bei dir Platten, das machen wir jetzt auch mal. Und dann konnte er auch nicht anders, er musste dann Ja sagen.
Dann sind wir ins Hafenklangstudio gegangen, da wo alle hingingen und haben unsere erste Platte (Schwarze Welt, Zickzack 1981) aufgenommen. Und dann haben wir die zweite Platte (Incubus Succubus, Zickzack, 1982) auch aufgenommen, zusammen mit Frank Ziegert (Frank Z.), der hat sie dann sozusagen „produziert“. War auch im Hafenklang, da wo halt alle hingingen, alle Zickzack-Künstler, alles was da so in Hamburg sich mit Musik beschäftigte, ging eigentlich dahin.

E: War das stressig oder easy? Ihr habt ja wahrscheinlich ein paar Mal live gespielt zu dem Zeitpunkt.
A: Wenig, aber so ein bisschen. Ja, das war natürlich ungewohnt. Also wir waren ja nun noch nicht so richtig drin in der ganzen Geschichte. Wir wollten aber trotzdem eine Platte machen. Und soweit ich mich daran erinnern kann, war das kein Stress, aber es war jetzt auch nicht so einfach. Ich meine, wer war denn jemals vorher in einem Studio? Heute kann man das halt. Aber da war das ja eher ungewöhnlich.

E: Wie ging das dann los mit 4AD?
A: Mit 4AD ging es los, weil Alex Hacke von den Neubauten in meiner WG wohnte. Er war damals mit Christiane F. zusammen. Und Hacke meinte dann irgendwann (macht Hacke nach) „Ihr klingt so englisch, ihr solltet echt mal nach England jehn. Da jib’s so’n Label, weeßte, die heißen 4AD, also schickt da mal euern Scheiß hin und so.“ Und dann haben wir das auch gemacht. Ivo Watts-Russell, der das Label macht, fand es super, kam nach Hamburg und sagte dann so: „Ihr habt natürlich nicht so richtig viele Stücke, aber reicht für ein Album. Dann kommt mal schön nach London“. Da sind wir dann ins Blackwing [Studio] gegangen, was es leider nicht mehr gibt. Und da haben wir das Album (Fetisch, 4AD 1983) aufgenommen. Daraus resultierte unser erster Auftritt in London, im Venue mit den Cocteau Twins. Und dann haben wir selber noch eine Single-Show da gespielt, und so ging das eigentlich los. Dann kam das Album raus und dann knallte das.


E: Dann seid ihr in der Folge öfter in England gewesen...
A: Ja, permanent. Und dann eben Amerika und Japan und Europa. Also man hat sehr viel gespielt.

E: Wie fandet ihr das denn, in so komplett anderen Underground-Szenen, zu spielen?
A: Zum Teil haben wir schon relativ legendäre Dinger gespielt. Also in England natürlich Hacienda in Manchester, und auch große Dinger in London, Palace und Lyceum und so. In New York war es das Danceteria, und IBeam in San Francisco, also wirklich legendäre Clubs, das war schon toll. Unter den deutschen Bands war immer so eine leichte Competition, weil die Neubauten auch ähnliches machten, und Malaria auch. Da hieß es dann: Malaria, ah, die waren schon in Japan. Okay, machen wir auch. Das war schon lustig. Fast so wie Sport, ne? Wer war früher wo?

E: Gab es für dich einen Moment, dass du irgendwann gemerkt hast: Bühnen, Live-Spielen, andere Musiker treffen … genau das will ich jetzt immer machen? Musstest du dir auch mal darüber klar werden, dass das jetzt deine Zukunft ist?
A: Ich habe das einfach alles nur aus künstlerischen Gründen gemacht, weil ich das geil fand und weil ich mich da entwickeln konnte. Ich war ja auch ganz jung, ich habe mich da irgendwie so richtig freigeschaltet aus so einem doch eher konservativen Umfeld, was ja Deutschland zu der Zeit auch noch immer war. Ich hatte coole Eltern, aber dass ich jetzt mein Studium nicht angefangen hatte, das fanden die jetzt auch nicht so witzig, und dass ich jetzt so’ne Nummer mache. Aber für mich war dieses Musikmachen sehr aufregend und spannend.
Ich habe auch viele Künstler und Musiker getroffen, aber das war ja für mich keine Motivation. Ich fand das eher sehr enttäuschend, Leute zu treffen, deren Musik ich gut finde. Das waren für mich schon oft Leute, wo ich dachte, nee, das finde ich jetzt nicht schön - ich glaube, das möchte ich auch nicht mehr hören, wenn sie sich als so’ne Luftpumpen entpuppten. Das fand ich schwierig, aber ich fand das Umfeld eine ganze Zeit lang sehr interessant.
Aber bei mir ist das ganz oft so: Wenn ich verstehe, was ich da mache, verliere ich langsam das Interesse daran, denn dann hat das kein Excitement mehr, sondern dann geht es halt echt um die Wurst. Dann muss ich mich halt auch entscheiden. Und das konnten wir so eine Zeit lang gut machen und alles Mögliche entdecken, andere Länder und andere Formen des Aufnehmens und so. Eine Zeit lang war das super.


E: Habt ihr dann irgendwann gesagt, es geht nicht mehr? Oder gab es ein Ereignis oder ein Zerwürfnis am Ende?
A: Naja, wir waren fast sieben Jahre lang tagtäglich zusammen, und wir waren super gute Freunde. Irgendwann ermüdet sich das, wie in einer Beziehung. Und dann gab es natürlich Leute von außen, die da mal reingrätschen und auch mal sagen, passt mal auf Leute, ihr macht das alles super, aber es ist auch ein Job übrigens. Hier geht es auch um eine Menge Geld. Und wir sind nach zwei Alben zum Major gegangen. Da fingen natürlich auch die Schwierigkeiten an, weil natürlich auch so eine Plattenfirma dann irgendwann sagt: „Du bist die Frontperson? Überleg doch mal, ob du vielleicht eine Solokarriere machst.“ Das wollte ich aber nicht, weil ich Teil dieser Band war, und wir haben alles geteilt und es war alles ganz eng.
Und dann ging das schon so seinen Weg, so dass man natürlich auch untereinander in gewisse Schwierigkeiten kam. Und letztlich unterm Strich hatte sich alles irgendwann erschöpft. Wir hatten alles gesagt, wir waren überall. Der nächste Schritt wäre dann schon so einer gewesen, wie bei vielen Bands, da musst du irgendwann echt einen Cut machen. und sagen, okay, jetzt ist es ein Job. Und jetzt müssen wir auch gucken, dass das läuft, das Ding. Aber dazu waren wir zu kompromisslos. Wir haben das einfach nicht gemacht.

E: Was hast du danach gemacht?
A: Na, ich hab ja viel gemacht. Ich bin dann in die Techno-Szene eingetaucht. Das Heaven in London, das war so das erste, was ich mir reingezogen hatte. Das fand ich super, Acid House, und ich hab das dann auch weiter verfolgt.
Dann wurde ja der Sender Viva gegründet. Da haben Freunde von mir Konzept geschrieben für eine Techno-Sendung, Hausfrau hieß die, und da bin ich eingestiegen und habe als Producer und Editor und auch als Redakteurin gearbeitet und bin dann wieder durch die ganze Welt geflogen. Ich hab Interviews gemacht mit allen großen DJs auf diesem Planeten, die aber gar nicht wussten, dass ich von der Musik kam. Aber sie machten das gerne mit mir, weil sie merkten, die versteht das irgendwie, die stellt hier keine doofen Fragen.
Dann kriegte ich mal eine Green Card, dann war ich wieder in London, und irgendwann habe ich entschieden, dass ich einfach keine Lust mehr habe zu all dem, dieser ganzen Musikgeschichte. Ich bin dann wieder zur Kunst zurückgegangen, die ich ja immer auch gemacht habe, also Fotografie und meine ganzen Bilder und so weiter.
Und dann wollte ich einfach raus. Ich wollte mich einfach mal mit mir selber beschäftigen, und das war auch eine ganz gute Sache. Ich habe es sehr genossen, und genieße es immer noch, in meinem eigenen Umfeld zu bleiben und habe mich auch nie irgendeiner Galerie angeschlossen oder so. Ich wollte nicht mehr in Abhängigkeiten sein. Das ziehe ich auch bis heute durch, obwohl ich auch in meinem Solo-Album natürlich ein Label habe in den USA. Aber die denken auch genauso. Also wir sind da sehr frei, wie wir uns verhalten können. Das sind ja auch ganz andere Zeiten. Das ganze Geschäft ist ja eh ganz anders.


E: Wie kam es jetzt zu diesem Re-Issue? Von wem kam da die Initiative? Und hast du mit den anderen aus der Band (Foto rechts: Mick Mercer) dann darüber auch jetzt noch mal ein Treffen gehabt?

A: Ja.

E: Wahrscheinlich ging es dabei um Rechte und so...
A: Nö. Es ging einfach darum, dass ich gesagt habe, das ganze Zeug gab es alles jahrzehntelang nicht. Und das ist mein künstlerisches Erbe, ich wollte das irgendwie mal wieder haben. Die Leute schreiben mir ja ständig irgendwie, wo ist denn das? Und wieso kriege ich das nicht? Und dann habe ich mich mit 4AD in Verbindung gesetzt und habe denen gesagt, wir müssen ja jetzt mal was machen. Ich will, dass es mal wieder auf den Markt kommt.
Und dann ging es lange hin und her, bis wir drauf kamen, okay, man könnte auch so eine Box machen, wo man alles kollektiert. Die 4AD-Zeit versteht sich, die anderen Sachen liegen bei Majors, da traut sich im Moment keiner ran, aber das kommt auch alles wieder raus. Das ging über eine sehr lange Zeit, dieser Prozess. Es musste remastered werden und das Artwork musste neu gemacht werden, und so weiter. Das hat sehr lange gedauert, aber ich bin froh, dass es so ist, weil es sehr viel hinter sich hergezogen hat. Ich habe ja gleichzeitig mein Album gemacht und spiele ja jetzt auch live. Das ist eine Kaskade von Releases, damit habe ich gar nicht gerechnet, aber ich finde es auch irgendwie toll.

Vielen Dank an Anja Huwe für das Interview!

XMAL DEUTSCHLAND Album-Discografie:

Fetisch (1983)

Tocsin (1984)

Viva (1987)

Devils (1989)

„Gift: The 4AD Years“ von XMAL DEUTSCHLAND ist im Mai 2025 auf 4AD erschienen.

Donnerstag, 3. Juli 2025

Xmal Deutschland - Ein Interview mit Anja Huwe Pt. I


Soweit ich mich erinnern kann sind XMAL DEUTSCHLAND (Foto rechts: Kevin Cummins) schon immer dagewesen, aber auch permanent unter meinem Radar geblieben. Was dazu führte dass sie noch mysteriöser blieben, als die Bands, die ich gut fand (z.B. GUN CLUB oder BAD BRAINS), weil’s ja damals kein Internet gab sondern nur Spex und Gerüchte. Als das losging, dass mir die Band von Youtube zugespielt wurde, hatte ich das wohl eher britischen oder amerikanischen Initiativen zu verdanken, denn in der feuilletonistischen Festschreibung der Deutschen Punk- und New-Wave-Geschichte zählte die Band irgendwie weniger als die Neubauten oder Malaria, obwohl sie, wie wir gleich sehen werden, mit beiden zu tun und nicht wenig gemeinsam hatten.

Vielleicht lag das einfach daran, dass sie in einem für diesen Historisierungsprozess besonders einflussreichen Text - Jürgen Teipels O-Ton-Compilation „Verschwende deine Jugend“ - nicht auftauchten. Vielleicht haben Gudrun Gut, Blixa Bargeld und Alexander Hacke ihr musikalisches Erbe auch etwas ausgiebiger zur Marke aufgebaut als Xmal-Deutschland-Sängerin Anja Huwe, die sich nach dem Ende der Band erstmal in anderen Gebieten umschaute.


In den Youtube-Videos von Xmal Deutschland beeindruckte sie mich mit ihren entrückten kleinen Tänzen und dann dieser eiskalte Stimme, mit der sie über Fetische, Inccubi/Succubi und S/M sang. Als Performerin auf einer Ebene mit Danielle Dax, als Sängerin mit Siouxsie Sioux, und die Musik klang wie eine Mischung aus Banshees, Cure und Sisters. Als dann angekündigt wurde, dass 4AD die ersten beiden Alben der Band plus Singles-B-Seiten und Remixe als schmales Boxset wieder veröffentlichen würde, war klar, dass es Zeit war, eine Wissenslücke zu schließen. (Foto rechts: Jan Siephoff)

Was lief da eigentlich mit XMAL DEUTSCHLAND? Sogar der Spiegel witterte wegen der allgemeinen Resonanz einen „Hype“, aber den Quatsch kann ich mal lesen, wenn ich wieder beim Arzt bin. Privileg der Mitgliedschaft im Renflied-Schreibverein: Ich konnte einfach einen Termin vereinbaren und selber nachfragen, wie das damals lief mit XMAL DEUTSCHLAND, unter der Bedingung, dass ich alles noch mal sauber abschreibe und Gary schicke. Blöderweise war ich zum Zoom-Gespräch eine Viertelstunde spät dran, so dass Anja mir erst mal ne knallharte Hamburger Schulter zeigte. Später ging’s dann besser, aber die Zeit war knapp, drum konnten wir auch nur an den Oberflächen kratzen. Lasst’s euch eine Einladung sein, selber noch mehr über XMAL DEUTSCHLAND rauszufinden, es lohnt sich.

Eric: Hallo Anja, Ich muss zugegeben, dass ich euch zwar gut finde, aber nicht viel über euch weiß, vielleicht weil ich aus Berlin bin...
Anja: Was hat das denn damit zu tun, wir waren doch dauernd in Berlin?

E: Ja, aber ich war zu klein (als ihr euch aufgelöst habt, war ich erst 15).
A: Ach so.

E: Kannst du erzählen, wie ihr euch für die erste Bandversion und für die ersten Aufnahmen zusammengefunden habt?
A: Wir haben Freunde gehabt, die in Bands spielten. Und dann haben wir uns gedacht, dann können wir ja auch deren Instrumente benutzen. Und dann haben wir uns gedacht, dann machen wir auch mal eine Band. So wie viele andere auch.

E: Welche Freunde waren das? Und wo war so euer Schwerpunkt sozial? Also euren Kneipen?
A: Slime, Coroners, Front, Palais Schaumburg, Neubauten, Abwärts, selbstverständlich. Und Kneipen? Das Krawall 2000, das Subito, natürlich die Markthalle, da wo man sich dann halt so rumtrieb in Hamburg.

E: Aus welchen anderen Bands kamt ihr? War Ex-Maldeutschland deine erste?
A: Keiner war vorher in anderen Bands. Manuela, die Gitarristin, spielte mit Freundinnen und so, aber keiner von uns war vorher in Bands.

E: Okay. Und dynamisch, ward ihr beide so die treibende Kraft dahinter oder wer hatte die Initiative?
A: Welche Initiative wofür?

E: Für die Bandgründung. Welche Songs, welchen Style wollen wir machen? Kam das dynamisch zwischen euch oder hatte da jemand einen Plan?
A: Nö, wir sind auf Konzerte gegangen, da haben wir uns kennengelernt und wir haben Musik gehört. Wir waren Musiklover und wir fanden uns irgendwie gut. Und dann haben wir uns dazu entschlossen, eben auch das zu machen, was andere Leute gemacht haben, nämlich Punk - ohne Musik zu können und zu wissen, wie das überhaupt wirklich geht. Und die Leute, mit denen wir zu tun hatten, unser Umfeld oder auch Bands, die wir so gesehen hatten, das hat uns natürlich inspiriert. Und die Philosophie, dass jeder kann alles, war natürlich gegeben. Ob das jetzt Musik war oder Mode oder Kunst, also die jungen Wilden, das war ja alles irgendwie. Leute kamen irgendwo her und machten irre Sachen, so wie sie Bock hatten. Das war eine gewisse Anarchie und das fanden wir gut.


E: Hattet ihr von Anfang an so elektronische Sounds, den Synthesizer dabei?
A: Wir hatten Keyboards, aber das war eher zweitrangig. Wir waren schon sehr gitarrenlastig. Dass wir Keyboards hatten, sprach natürlich dagegen, überhaupt eine Punkband zu sein, aber wir waren ja immer anders als alle anderen. Das war auch Sinn der Sache.

E: War das ungewöhnlich oder doch schon normal, mit Synthesizern zu arbeiten?
A: Das war schon eher ungewöhnlich, ja. Aber es war einfach nicht so entscheidend. Es basierte ja nun nicht unbedingt auf Keyboards, was wir da gemacht haben. Gitarren und Vocals waren der Hauptfaktor. Die Keyboards fielen da eigentlich gar nicht so auf.

E: Bei deinem Gesang, an wem hast du dich orientiert? Ich würde sagen, klar, Siouxsie.
A: Völlig falsch. Siouxsie kannte ich überhaupt nicht. Ich habe halt gesungen wie sie, weil: sie konnte ja am Anfang auch nicht singen. Ich konnte es ja auch nicht anfangs, und das ist einfach ein logischer Weg gewesen. Sowohl sie hat es irgendwann gelernt, als dann eben auch ich. Ich habe wurde ja oft mit der verglichen, aber ich habe die gar nicht wahrgenommen. Singende Frauen gab’s ja damals gar nicht, und so war das für mich gar nicht relevant, sondern eher so der Wall of Sound von Musik, also was das emotional mit mir gemacht hat, das hat mich interessiert. Gesang war auch nicht so wichtig, ehrlich gesagt, und ich habe mich nicht als Sängerin gesehen. Ich war Teil einer Band, fünftes Mitglied dieser Band. So habe ich auch mich gesanglich verhalten. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, erstens bestimmte Texte zu singen, die alle anderen auch auf deutsch gesungen haben. Und zweitens, mich mit einer bestimmten Form der Phrasierung auseinandersetzen. Ich habe einfach nur dagegen gesetzt. Das war meine Art, wie ich damit umgegangen bin.

E: Cool.
A: Naja, es blieb mir ja nichts anderes übrig.


E: In den Videos, die ich immer mal wieder gesehen habe, war ich immer wieder beeindruckt von deiner Präsenz und dener Art zu tanzen: Sehr kühl war und so fast ein bisschen selbst versunken, aber halt saucool.
A (schmunzelt): Das war natürlich der ganzen Situation geschuldet. Wie ich schon sagte, ich wollte einfach nicht so sein wie andere. Das ist meine Persönlichkeit. Ich bin jetzt auch nicht so extrovertiert. Ich kann zwar auf einer Bühne agieren und ich sehe mich auch als so eine Art Performer, aber ich sehe mich nicht als eine typische Sängerin. Ich kann das zwar heute, aber damals gab es da eine gewisse Wand zwischen uns und dem Publikum. Das hat man einfach damals auch so akzeptiert. Ich habe ja auch nicht mit denen [im Publikum] geredet. Ich hab da mein Ding gemacht und dann war es das. Ich wollte da gar keine Beziehung aufbauen, das fand ich völlig daneben. Das war einfach so, wie es war, und ich glaube nicht aus Unkenntnis, sondern einfach, weil das ein Teil der ganzen Geschichte war. Also hat man das nicht gemacht. Genauso wie die ja zum Beispiel nicht getanzt haben. Die standen ja meistens nur so da.

E: Naja, was du dabei natürlich aufbaust, ist dann eine Aura, und Unnahbarkeit ist ja vielleicht auch ne Beziehung. Dass in Hamburg nicht getanzt wurde, kann ich mir vorstellen. Ebenso Berlin. War das dann anders, als ihr nach England kamt?
A: Ja, also getanzt kann man das ja nicht nennen, das war ja Gehopse. Das haben sie schon gemacht. Aber eigentlich eher weniger. Ich glaube, die waren auch ein bisschen paralysiert durch diese Erscheinungen da auf der Bühne (lacht). Aber in England war es schon ein bisschen anders, das kann man sagen. Und je weiter man nach Norden kam, desto wilder wurde es auch. Da wurde auch nicht nur getanzt und gepogt, sondern da wurde auch gespuckt, gerotzt. Da waren die Emotionen schon sehr stark. Das führte bei uns natürlich dazu, dass wir uns im Gegenteil immer mehr zurücknahmen, weil wir uns dachten, was ist denn jetzt hier los? Das war schon sehr anders.

Den zweiten Teil des Interviews mit Anja Huwe gibt's am 10.07.2025 auf dem Renfield-Blog.

Donnerstag, 19. Juni 2025

Schön, wenn MEGA!1!


REBECCA SPILKER - MEGA!

Was finde ich denn so richtig gut? So absolut mega? Ja, zum Beispiel die Texte der Hamburger Journalistin Rebecca Spilker, der ich seit geraumer Zeit bei den sozialen Netzwerken folge und mich ob ihrer Spitzzüngigkeit hervorragend unterhalten fühle.

Mit scharfer Feder seziert sie in ihren Kolumnen, Essays und Kommentaren Phänome, Abgründe, Sonderheit und Absurditäten des Alltags, der (Sub-)Kultur und des Lebens im allgemeinen. Ganz egal ob die Hamburger Schule oder der - Hochbunker, Rammstein oder Stuckrad-Barre, Salzteig, Einkaufsnetze oder die Farbe Beige, ihr müsst euch alle warm anziehen vor Rebeccas knallharter Abrechnung.

Doch hier geht es nicht um bloßen „Distinktionsgewinn“ oder das Bashen unliebsamer Zeitgenossen der eigenen Selbsterhöhung wegen. Im Gegenteil. Stets selbstkritisch und vor allem -ironisch blickt die Autorin dabei auf sich selbst. Und das mit soviel Humor, dass ich beim Lesen dieses Buches immer wieder laut auflachen musste. Und wenn sich der Leser, seltener die Leserin, nicht allzu ernst nimmt, kann man diesem feministischen Ansatz so viel gutes abgewinnen. Wenn Popkultur, dann bitte eben genauso, mansplaine ich hier mal so locker aus der Hüfte raus.

Da hat man ja prinzipiell wirklich so gar keinen Bock mehr auf das olle Patriarchat. Verheiratet ist Rebecca übrigens mit Frank Spilker, dem Frontmann der Band Die Sterne. Aber das tut der Sache hier auch keinen Abbruch. Im Gegenteil. Als Fangirl oder -boy bekommt man gelegentlich auch wahnsinnig komische Einblicke in den Alltag einer so genannten Szene-Prominenz und ihrer Familie.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass „Mega!“ eine wunderbare und unterhaltsame Sammlung skuriller, witziger und sehr schlauer Texte ist, die in der Summe einen tollen Kommentar zum Zeitgeist bildet.

Abel Gebhard

MEGA! von Rebecca Spilker ist im Ventil Verlag erschienen

Donnerstag, 12. Juni 2025

Schön, wenn die Sonne nie aufgeht Pt. OOOoOOO


LAIBACH - ALAMUT

Der erste Sänger von Laibach erhängte sich kurz nach einem Auftritt in Zagreb an einem typisch slowenischen Heuschober.

Ein Schulfreund von mir glaubte, das seien so Jugo-Hillbilly-Nazis. Auch ich rätselte 1989, als ich in Jugoslawien vor dessen Zerfall weilte:
„Darob erschien Ljubljana: An den Rändern dräuten Plattenbauten und dahinter direkt die Karawanken. Womit kein hartes Reitervolk (mit geschwärzten Gesichtern) gemeint war (wie ich weiland vielleicht gedacht hätte), sondern ein 120 km langer Zug der Kalkalpen, der wohl vom keltischen Wort für „Hirsch“ (karv) abstammt. Mitten in der Stadt buckelt der Burghügel, um den die plätschernde Laibach (Ljubljanica) leiwand ihre Schleife legt. Es gibt italienisch anmutende Kirchen, französisch inspirierte Museen, eine opulente Oper plus kakanische Cafés (damals zumeist im somnambulen Zustand) - und das alles mit weniger als 300.000 Einwohnern (wie Neukölln ohne Gropiusstadt)!

Ich erinnere Ljubljana indes hauptsächlich als leicht zerkratzte Glasvitrine hinter der ganz besonders grobschlächtige Würste liegen, während draußen ein O-Bus an Drähten vorbei bullert. Gegenüber und ringsum ragten typische Tito-Kastenwürfel stumpfgrau bis dumpfbraun. Vielleicht waren es ja auch K&K-Kastenwürfel hinter einer titoesken Sparverschalung, sämtliche Ornamente abgeschlagen, abgeschliffen oder eben durch diese sozialistische Soßenglasur überdeckt. Dank des Smogs experimenteller Diesel-Gemische - aus was für jakutischen Bohrlöchern bzw. raffinierter Partisanen-Petrolschlämpe waren die bitte gebraut?

Ich weiß noch, wie ich damals überlegte, in welcher konkreten Verbindung eigentlich die Band Laibach und die Stadt Ljubljana zueinander standen. Nun, wahrscheinlich in einer ähnlichen wie besagte Gemische zum Motor...“


Sprich ein streng riechendes Treibmittel für eine reichlich individualistische Bewegung. Gerade weil besagte Band Uniformen trug und monumentale Minenarbeiterromantik mit Nazi-Todeskult sowie italienischem Futurismus Marke Mussolini kreuzte, schien sie jedweden Pathos von innen zu zerfressen. Somit ganz im Sinne Freuds die Traumata „durcharbeitend“. Sie gehörten zum größeren, losen Verbund der „Neuen Slowenischen Kunst“ (auch im Original auf deutsch) und waren in Jugoslawien von 1983 bis `87 verboten, nachdem sie bei einem Konzert zeitgleich einen Revolutionsfilm plus einen Porno im Hintergrund projizierten. Als Tito also mit einem Penis clashte, stürmte die Miliz die Bühne…

Aber das sollte dann alles ganz anders werden. „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“, wiederholt der slowenische Autor Vladimir Bartol in seinem 1938 in Triest unter dem Eindruck des Faschismus verfassten Roman „Alamut“, den er sarkastisch Benito Mussolini widmete. Alamut war die Hauptfestung der Nizariten mit dem „Alten vom Berge“ (so nannte ihn zuerst Marco Polo), dem wir die Assassinen und das Wort Haschisch verdanken – sowie viel später das Videospiel Assassin‘s Creed. Dabei war Hassan-i-Sabah auch ein großer Gelehrter (Spezialgebiet Geometrie), aber unerbittlich im Kampf gegen die Seldschuken.


Ebenso unerbittlich arbeitet Laibach, wobei sie von provozierend über propagandistisch, psychoanalytisch, bis exorzistisch vorgehen. Mittels affirmativer Überidentifizierung, so sagt jedenfalls Slavoj Žižek, der slowenische Großdenker und Laibach-Apologet. Deutsche kommen da häufig seltsam drauf (siehe oben) oder verweisen auf Rammstein, aber die Band selbst verlautbarte schon so perplex-aphoristische Sachen wie, sie seien auf die selbe Art Nazis, wie Hitler Maler gewesen sei – und Rammstein wäre Laibach für Teens. Mit dieser doppelbödigen Mixtur bespielten sie bereits Nordkorea. Nun aber steht der Iran im Fokus in ihrem Werk Alamut. Manchmal klingt das wie der Soundtrack von 2001 ohne Walzer. Epische Klangreisen von bis zu 20 Minuten Länge, die von elegischen Schichtungen (Secret Gardens) bis zu dystopischem Getöse (War) alles umfassen – ergänzt durch Farsi-Verse Omar Khayyams und Mahsati Ganjawis und natürlich Milan Fras‘ Knarzbass, der auf slowenisch verkündet: „Ich kenne weder Grausamkeit noch Gnade, ich verfolge nur meinen Plan“ (Meditation II), Fürwahr, und das passt auch wie die Faust aufs Auge zu Laibach.


Für meinen Geschmack war das früher zu bombasto-martialisch, dafür bin ich offensichtlich nicht genügend traumatisiert. Bis mich vor ein paar Jahren Mina Špiler eiskalt & glutheiß erwischte. Sie bringt mich jedes mal nahezu um mit ihrer ätherischen Halbtonsenkung am Ende von „vor Sonnen- Aufgang“, sobald sie wiederholt „die Sonne hell“, weine ich wie ein Schlosshund. Untermalt von einem Video, welches den Atomkeller in Haigerloch unter der Schlosskirche zeigt, wo ein letztes Aufgebot im NS-Staat an der Kernspaltung forschte. Der Sonnenaufgang als Atompilz – das ist eben auch Laibach für Dich!

Und wer ist heute der Führer der Nizariten? Der Aga Khan und seine jeweilige Begum (meist ein schnittiges Fotomodell)! Der reichste Erbmonarch ohne Land, denn sein Reich ist der Glaube und die direkte Abstammung von Fatima, der Tochter Mohammeds. Erst vor wenigen Wochen wechselten wir zu Aga Khan V, dem fünfzigsten Nizariten-Iman, weil sein Vater in Lissabon das Leben aushauchte. Dort steht nämlich der Diwan, der Hauptsitz der Nizariten. So now you know.

A Bit Father out

ALAMUT von LAIBACH ist auf Mute Records erschienen und kann man sich hier im Bandcamp anhören.

Donnerstag, 5. Juni 2025

Schön, wenn's Dubai pisst. Pt. 1


PISSE - DUBAI

PISSE find ich schon länger gut. Haben ja mal auf einer Releaseparty zu einer Renfield-Ausgabe gespielt. Ich fand sie damals so gut, dass ich mit ihnen ein Interview machen wollte. Das hat nicht geklappt, denn die Menschen in dieser Band waren so nett, mir den dezenten Hinweis zu geben, dass sie in Interviews nicht so gut wären. Dann hab ich das gelassen. Ich habe eigentlich auch keine Fragen gehabt, die ein Interview wert gewesen wären.

Wie ein PISSE-Interview mit totaler Verweigerungshaltung komplett in die Hose gehen kann, hat Linus Volkmann mal berichtet. Als er für ein Musikmagazin ein konventionelles Interview mit der Band machen wollte, ist die Sache total kollabiert und ein wunderbares Nicht-Gespräch entstand. Weil PISSE keinen Bock auf den Medienquatsch hatten und besser als die SEX PISTOLS das Spielchen sabotiert haben. Könnt ihr irgendwo nachlesen. Hier zum Beispiel.

Nun also neue PISSE-Album. Titel schon sehr gut, soviele Assoziationen schießen mir durch den Kopf. Die bescheuert-überteuerte Hype-Schokolade? Das Scheichtum, das Menschenrechte mit Füßen tritt und Menschen komplett ausbeutet. Bräsige Influencer, die denken, wenn man da hinzieht, schmelzen alle Probleme, die man so hat, einfach in der Wüste dahin. Sowas. Fest steht, dass der Begriff Dubai mittlerweile ziemlich negativ belegt ist. Also springt sofort die punk-kritische Assoziationsmaschine an. Gut, um allein damit schon Aufmerksamkeit zu generieren.


Das zeigt immerhin, dass PISSE immer noch einen guten Riecher dafür haben, was Aufsehen erregen kann. Das funktionierte schon mit den frühen Releases. Die halbe Welt hat den Fahrradsattel-Song zwar nicht so echt verstanden, aber trotzdem geliebt, geteilt und geliket, und bei "Work-Life-Balance" haben alle gleichzeitig höhnisch gelacht und gekotzt (ih auch!), weil soviel Wahres in dem treffend kurzen Text stand. Sowas konnten PISSE immer gut. Assoziationen wecken, indem man groteske Bilder über schnelle rumpelige Punksongs schreit. Konnte sich jeder sein Stück Hass auf das Leben im 21. Jahhundert abholen. Ich auch.

So richtig hatte ich noch nicht mitbekommen, wie die neue Platte klingen würde. Also aufgelegt. Komisch, denke ich erstmal. PISSE klingen jetzt wie eine sehr ruhige, lahme Post-Rock-Indie-Kapelle? Ist das diese Weiterentwicklung einer Band, vor der alle gewarnt haben? Falscher Alarm, das Album läuft auf 45 statt 33. Also nochmal. Jetzt klingt es schon eher nach... Punk. Ein wenig nach PISSE, eh klar, aber anders als bisher. Ist alles nicht so wirr, kurz und wütend, wie auf "Hornhaut ist der beste Handschuh", beispielsweise. So rumpelig ist das auch gar nicht mehr, simpel auch nicht. Das war ja mal ein Vorwurf: Dass die Band so tut, als könnten sie nix außer rudimentärem Deutschpunk, obwohl sie ziemlich passable Musiker sind. Mir war das egal. Die Songs waren knackig und kurz und haben dem ganzen Punk-Stuss mal etwas neues Leben eingehaucht.

Die Songs auf DUBAI erscheinen, das fällt erstmal auf, etwas langsamer. Nicht Mid-Tempo (auf 33 Umdrehungen allerdings schon), aber doch schon etwas gemächlicher, dazu auch länger. Man ballert also nicht mehr durch, lässt sich Zeit, lässt Sounds mal stehen und wagt gern mal ausgefalleneres, wenn man jetzt simplen durchgepeitschten Deutschpunk als Referenz nimmt. Aber das Schlagzeug, das achtelt immer noch so fiebrig-fickerig, wie früher. Schon schön so. Sorry, Freunde des hektischen good old PISSE-Sounds, da müsst ihr jetzt durch: Eure Lieblingsband entwickelt sich.

Eine Orgel schleicht sich durch einige Songs, und passt da auch gut hin. Aber auch kein ganz neues Phänomen, die hätte so auch auf einem FEELING B-Album drauf sein können. Mittendrin gbt's sogar ein barock anmutendes Orgelstück, damit können sie in der Kirche in Görlitz sicher die Messe füllen. Es werden also Dinge ausprobiert. Frage mich, ob da alle Fans mitgehen. Glaube aber schon.

Ich bin mir nicht sicher: Wenn mir jemand die Platte mit verbundenen Augen vorgespielt hätte, also ich mit verbundenen Augen, nicht der Vorspieler, ob ich sie als das neue PISSE-Album identifiziert hätte. Hätte mir trotzdem gefallen, ich wäre sicher neugierig gewesen. Es changiert alles zwischen frühem Punk der 80er, egal ob Ost oder West, an der Schwelle zu NDW. Meist dazu mit einem etwas melancholischen, desparaten Touch. Seltsamerweise fühle ich mich das eine oder andere Mal beim Gesang an die erste Platte von ZSD erinnert, dann auch mal an den Minimalismus von CHAOS Z oder an die Meckerigkeit von ELEGANT. Ich würde beim Blind Date auch nicht mal sagen können, ob das eine Band wäre, die aus dem Osten, Westen, Norden oder Süden kommt. Die Verortung läuft so nicht mehr und das finde ich wirklich mal schön, dass diese Einteilung in "typische" Ost-Punkband hier eben nicht funktioniert.

Alles andere auf diesem Album - wenn eine Platte und eine Band sich überhaupt daran messen lassen sollte, ob sie funktioniert - dagegen schon.

Gary Flanell

DUBAI von PISSE ist wie immer auf Phantom Records erschienen, kann man sich auch hier anhören.

Donnerstag, 22. Mai 2025

Schön, wenn du es mir gibst, baby


LA RATA - GIVE IT TO ME

Eine Graphic Novel, ein Schnelldurchlauf durch die Musikgeschichte der Frauen. Jede Doppelseite eine Kurzbiografie einer Legende. Was sie alle verbindet: der Struggle.

Begonnen im frühen 20. Jahrhundert in New Orleans, im Rotlichtviertel von Storyville, mit den ersten Schwarzen Musikerinnen, die sich gegen die generelle Unterdrückung ihrer Ethnie und zusätzlich dem alles überwachenden Patriarchat durchsetzen mussten.

Blues-Legenden wie Ma Rainey und Big Mama Thornton zeigen, wie sie ihr ganzes Wesen und Leben in die Musik gesteckt haben, sie setzten Meilensteine für die Befreiung der Frauen – und ernteten von der Öffentlichkeit und den Medien nur Häme und Niedermachung. Das Geld der zahlreich verkauften Platten ging an irgendwelche Produzenten und ihre Labels.

Gladys Bentley, die schon in den 30ern als Butch-Lesbe auftrat – mit Zylinder, Frack und Gehstock – musste sich später doch wieder der Unterdrückung beugen und sogar Östrogen einnehmen, um ein „normales“ Leben als Hausfrau am Herd für einen Ehemann zu führen.

Billie Holiday wurde durch ihren Erfolg zum Opfer ihrer eigenen Exzesse – und wegen Drogenbesitzes zwangsweise in eine Psychiatrie eingewiesen. Aus der fortlaufenden Unterdrückung konnte sie sich nie erholen.


Neben ihr teilen auch Nina Simone, Whitney Houston, Amy Winehouse und Britney Spears diese Geschichte. Heute sind diese Frauen Bilder der Unterdrückung durchs Patriarchat – ihre Leben waren kurz und schmerzhaft. Und auch das ist eines der Merkmale, dass alle Biografien bis mindestens zu den Nullerjahren gemeinsam haben: Sie lebten schnelle und schmerzhafte Leben, geprägt von Ausbeutung und Verleugnung. Auch sexueller Missbrauch kommt in so vielen dieser Biografien vor.

Aber trotzdem kommt immer wieder eine neue Frau auf die Bühne, die der Welt einen noch größeren Mittelfinger zeigt – und noch mehr ihre vermeintlich schwache Weiblichkeit durch sexuelle Handlungen auf der Bühne preisgibt. Und sie schämt sich nicht! Sie präsentiert sich lustvoll den schockierten Augen und beherrscht in ihrer ganzen sexuellen Kraft die Bühne. Kein Mann kann ihr während der Show das Standbein absägen!

Als Ende der 70er der Punk dazukommt, vermischt sich die sexuelle Energie mit einer guten Portion roher Gewalt und Anarchismus. Eine Kombination, die am Patriarchat rüttelt – und mich als Leserin begeistert.

Durch La Ratas Give it to me habe ich einen ganz neuen Respekt gewonnen – nicht nur für die Werke der unbezwingbaren Rebellinnen, sondern auch dafür, dass ihr ganzes Leben Teil des Werkes ist. Es motiviert geradezu, all die Bürokratie und den Alltag, durch den wir uns herumöden, hinzuschmeißen – und eben doch einfach nur Kunst zu machen und die Welt, so wie sie uns gefällt …
Nichts mit: Krieg deinen Scheiß auf die Reihe … Nee!

Lass mich meinen Scheiß rausschreien – auch wenn ich nie einen einzigen Ton treffe und die Stimme am Schluss versagt.
Welchen Regeln sollen wir denn noch befolgen oder vertrauen, wenn sie immer nur der Unterdrückung gedient haben?


Die Frage nach dem Werk oder dem Künstler stellt sich hier irgendwie neu … Das Werk an sich ist großartig – aber die Künstlerin dahinter hat gekämpft! Und darum ist das Werk so stark geworden.

Das Buch trägt uns durch die Geschichte bis heute und schafft einen wundervollen Überblick über die Fortschritte, die der Feminismus bzw. die Vorkämpferinnen bereits erzielen konnten. Auf den letzten Seiten sehen wir einen Zeitstrahl über die wichtigsten Internet-Ereignisse von 2014 bis 2019 zum Hashtag #FreeBritney. Es ist ein riesiger Unterschied im Vergleich zu den anfänglichen Seiten – aber dennoch besteht der Struggle eben noch weiter.

Give it to me ist eine Graphic Novel, die es catchy auf den Punkt bringt und uns dazu ermutigt, jeder Art von Diskriminierung immer und immer wieder zu widersprechen – für die Freiheit aller Einzelnen und Andersartigen, sowie jeder Kultur, Religion, Geschlecht oder Hautfarbe.

Vicci Aurora

Give it to me von La Rata ist im Laurence King Verlag erschienen.

Donnerstag, 15. Mai 2025

Schön, wenn der Tamburinmann klingelt Pt. TBX


JOEL GION - IN THE JINGLE JANGLE JUNGLE - KEEPING TIME WITH THE BRIAN JONESTOWN MASSACRE

Es ist erst mal nicht schlimm, wenn ihr nicht wisst, wer Joel Gion ist. Vielleicht erinnert ihr euch an die lehrreiche Musik-Doku „Dig!“ von 2004, ein sich über sieben Jahre erstreckendes Doppelporträt zweier Bands von der amerikanischen Westküste: der relativ erfolgreichen Dandy Warhols und des im Vergleich dazu völlig dysfunktionalen Brian Jonestown Massacre.

Während der Film die beiden Sänger und Bandleader Courtney Taylor-Taylor und Anton Newcombe in den Vordergrund stellte und die restlichen Musiker*innen sich darauf beschränkten, indifferent, indigniert aber auf jeden Fall verkatert durch die Bilder zu schlurfen, fiel eine Figur auf, schon weil sie offenbar den besten Job von allen hatte: Joel Gion war der Tamburin-Spieler des Brian Jonestown Massacre, eine Funktion, die damals ihresgleichen nur im Tänzer Bez von den Happy Mondays hatte. Außerdem war er der treueste Begleiter des instabilen Genies Anton, dessen Aggressionen an ihm abperlten wie an Teflon. Vor allem aber schien er sich als einziger bewusst zu sein, dass er Teil eines Dokumentarfilms ist, und von Beruf Entertainer: Als gelehriger Schüler der Beatles blieb er der einzige, der immer wieder für die Kamera spielte und damit auch das Publikum um den Finger wickelte.


Von ihm kamen die Einzeiler, die die oftmals verfahrene Situation treffsicher in ein größeres Bild einordneten, darunter auch der Titel des Films: „Dig!“. Schüler der Semiotik und der African American Studies würden ihn wohl als den Signifying Monkey der Story identifizieren. Insofern löste die Nachricht, der Mann mit dem Tamburin und dem entwaffnenden Lächeln habe seine Memoiren veröffentlicht, bei mir eine klare Bauchreaktion aus: Das muss ich lesen.

Dank des Films, Youtube und Vinyl-Re-Issues bin ich mittlerweile selbst zum Fan des Brian Jonestown Massacre geworden, schätze das erste halbe Dutzend Platten hoch und verfolge das sich bis in die Gegenwart ziehende Spätwerk mit Wohlwollen. Die Dandy Warhols sind mir so egal geblieben wie am ersten Tag. Anton Newcombe ist mittlerweile in Berlin gelandet, betreibt mit einer Hand die 8mm-Bar und nimmt wie gewohnt mit der anderen Platten auf. Joel ist bis heute Tamburinmann for hire geblieben, hatte dazwischen aber auch genug Zeit, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, und ohne zu viel verraten wollen, muss ich sie empfehlen. Wer den Film kennt, wird mit einem guten Maß Wissen von hinter den Kulissen versorgt, da Joel einordnet, wie es zu bestimmten Einstellungen der Doku kam.


Und er füllt die Leerstellen dazwischen aus … soweit er kann, denn sein damaliger Lebenswandel brachte auch ein paar komplette Filmrisse mit sich. Wenn er sich aber erinnert, dann erstaunlich präzise. Dazu kommen wissenswerte Exkurse über die Underground-Kultur in San Francisco und L.A., Schnurrbärte und was sie aus Menschen machen, sowie eine Geschichte des Tamburins in der Pop-Musik. Gion schweift dabei ab, wie’s ihm passt und hält dabei einen angenehm alliterationsreichen Hipster-Stil durch, der in der Gegenkultur der amerikanischen 60er-wurzelt (die er im Kino und über Platten studiert hat), angereichert durch angelernte Britizsmen – er trifft im Buch u.a. auf The Jesus and Mary Chain und Oasis, die er bei ihren Westküsten-Gigs mit Speed versorgte.

Speed ist die Droge seiner Wahl („my spirit drug“), und wir können von Glück sagen, dass es nicht Koks, Crack, Acid, Heroin oder Schnaps war, denn so ist uns ein amüsanter, selbstironischer Erzähler mit bewundernswertem Wortschatz erhalten geblieben. Hier nur eine dieser Stellen, in der eine halbnüchterne Alltagsbeobachtung mit nonchalantem Namedropping in eine für die Band ganz normale Kernschmelze auf offener Bühne mündet:

„Later outside of Johnny Depp’s Viper Room, the sun from the Los Angeles heats sticks on like a napalm-esque physical trait, causing multiple strains of sweat: the alcohol infused, the new impending-doom-kind, and the regular sort sucked up to the skin surface by the sun with its countless invisible tentacles. I’m in a dark room. My head is spinning but in the way a hubcap rolls away from a car crash, then falls over into a wobbling spin that increases in speed until the entire band flatlines onstage in a brawl while the packed house watches in shocked amusement.”

Klar, dass solche psychedelischen Wurmsätze schwer zu übersetzen sind, so dass wir die Memoiren bis auf weiteres in der Originalfassung lesen müssen. Sollte sich aber ein entsprechender Verlag dafür interessieren, wäre ich bereit, die Sache ins Deutsche zu übertragen.


Abgesehen von seiner bis zum Ende durchgezogenen Westküsten-Prosa, bleibt Joel ein so sympathischer Erzähler, weil ihm jeder Narzissmus abgeht. Es gibt nicht viele, die sich mit ihrer Rolle als Accessoire zufriedengeben, und kaum einen, der derart darin aufging. Dahinter steckt eine bedingungslosen Hingabe zum Lumpenbohème-Lifestyle, den er und Anton im Buch „the old way“ oder auch „The Llife“ nennen und damit wohl ungefähr das meinen, was Sailor aus „Wild At Heart“ mit seiner Schlangenlederjacke ausdrücken wollte: den Glauben an ihre Individualität und persönliche Freiheit, der sich mit den Vorstellungen von Schallplattenfirmen (oder Polizei) nicht gut verträgt.

So ist Gions Buch auch ein Wegweiser für aufstrebende Musiker*innen, die keinen Bock haben, sich mit dem ersten Deal einem kapitalistischen System zu unterwerfen. Gion macht keinen Hehl daraus, dass dieser Weg nicht ohne Gefahren ist – was dazu führte, das er sich mitunter in ein paar selten dämlichen Situationen wiederfand (die im letzten Drittel für ein paar Längen sorgen, für die die Schlussstrecke jedoch entschädigt). Aber außer wenn er andere geschädigt hat zeigt er im Rückblick kein Bedauern. Und wenn ihr auch mal wieder einen dieser Abende habt, an denen ihr nicht schlafen könnt, und es keinen Platz zum Hingehen gibt, dann folgt für ein paar Seiten diesem Tamburinmann.

Eric Mandel

Joel Gion - In the Jingle Jangle Jungle - Keeping Time with the Brian Jonestown Massacre White Rabbit, 356 S., 28,50 €

Donnerstag, 8. Mai 2025

Schön, wenn Hühnerherzen Lieder singen Pt. II (live)


ACHT EIMER HÜHNERHERZEN, SCHRENG SCHRENG & LALA, Frühjahr 2025 irgendwo in NRW

"Zehn Minuten", sagt Gary. "Stell dir am besten die Uhr. Und wenn der Alarm bimmelt..."

Ja, und wie nu? Am besten und einzig möglichen in Häppchen und Episödchen, Augenblickchen, Lider (sic!) runter, Lider rauf, schön peu a peu.

Mitte April in Toitschland. Deutlich über zwanzig Grad, keine Wolke am Himmel am frühen Abend. Es sitzt sich wohl gut im Biergarten des Bürgerhauses Stollwerk, wenn man ein Poloshirt und Sneaker hat und Limo aus der Werbung des passenden Stadtmagazins mag. Besser ist es allerdings auf der Bank eben vor diesem Abiturientenausflugslokal mit einem Kölsch aus der Flasche, die es im Kiosk hundert Meter entfernt für etwa eineinhalb Euro gibt. Allein die am Haltverbotsschild montierte Öffnenstation ist eine Reise wert.

"Endlich normale Leute", sagt der andere Bankhocker, der sich neugierig, aber irgendwie ein wenig scheu die nebenan feixenden Herrschaften von Schreng Schreng & Lala beguckt. Nach ein wenig umständlicher Alsobkonversation wird schließlich klar, dass er das eintrudelnde Konzertpublikum meint und nicht die Abiturienten. Was nicht klar wird, auch nicht nach seiner verbissenen Internetrecherche und schließlich schwindendem Datenvolumen und auch nicht viel später am Abend, ist, wen er wohl vor Jahren ebenfalls hier einmal gesehen und gehört hat. Jemand, eines dessen Lieder derweil immer im Stadion gespielt wird, wenn der FC Bayern gewinnt. Oder verliert? Und gegen wen überhaupt? Es scheint definitiv aber um Sport zu gehen, wie schön. Kommste aber schlussendlich nich drauf.

Bene Diktator liegt im Gras und macht ein Nickerchen. Dafür hat er eigens eine Decke dabei, wie schlau, denn Rasen ist ja nie einfach nur Rasen, da wohnen ja auch welche drin, und schlechtestenfalls erwischt man noch ganz was anderes mit dem Schulterblatt. Jedenfalls findet er es prima, in Berlin haben die ja im Moment noch eher Spätwinter als Frühfrühling und schon gar keinen Vorsommer. Er sagts anders, aber so in der Richtung. Und dann? Eine Woche später hängen bei ihm die Mandeln in Fransen, Dreck. Auch im Eitelsten ist dann doch was doof.

Musiziert wird im Obergeschoss, was sicherheitstechnisch bestimmt eine Herausforderung ist. Die Secs arbeiten emsig mit Flatterband und starren Blicken. Wenns einmal doch brennen sollte, klemmen die sich sicher zwischen die einzelnen Stufen, damit die Gäste die Treppen runterrutschen können wie bei einer Flugzeugevakuierung. Es gibt auch einen Fahrstuhl, der würde dann aber vermutlich auch fix beflattert. Von wegen Backofen, Schnellkochtopf usw.

Musiziert wird also da oben in einem Raum, der einen irgendwie wie Tanzschule anmutet. Hoch, weit, aulamäßig beleuchtet, links eine Ausschankbretterbude, rechts eine, vielleicht eine für die Damen und eine für die Herren, und oben herum eine Art Balkon oder Empore. Recht schal, es sei denn, der geneigte Bürger, für den das Haus war oder ist, ist Square Dance-Enthusiast.


Herr Mechenbier und Herr Paulus mögen einander doch, oder? Die Frotzeleien sind bestimmt nur Spässeken, Sprücheklopferei und Stimmungsmache. Wobei die leider etwas verpufft vor Ort. Jedoch wird schön gesungen und geschrammelt. Verspätete Assoziation zu Herrn Mechenbiers wiederholter, nicht ganz unberechtigter Befürchtung, er sei vom gestrigen Bier noch aufgedunsen: Dudelsack.


Mönchengladbach, Düsseldorf und jetzt also Köln. Und egal, ob draußen im Staub, versteckt in einer OT in einem Vorortwohngebiet oder nun im Sehrhochparterre - alles so wie bekannt und alles so gut. Schönes bleibt, SWR 4 hat wie immer recht. Und Gott sei dank betriffts hier Acht Eimer Hühnerherzen, die so da, wie sie ursprünglich dieser Welt erschienen sind, und hoffentlich ohne irgendwelche Überraschungen auch stets bleiben. Keine Eskapaden, keine chaotischen Experimente, sondern hochpräzise echtholzbasierte Lieder (sic!) und wohltuend Vertrautes. Dreißig Mal ists nervenbalsamierend geläufig und sowas von herrlich egal, von welcher Platte. Kennste eine, kennste alle – das ist hier nix Blödes, sondern unbedingt super!

Was das hier für eine Gegend ist, wird dann erst spät in der Nacht klar. Neben den Camp David-Figuren und den Sportgetränken auch blankgewichste Museen, was Boulevariges und Häuser, die architektonisch vielleicht, statisch aber so gar nicht funktionieren sollen. Und knapp zwanzig Schleifen fürs Hightechparkhaus, lovely. Deutlich günstiger alles zusammen natürlich als ein Gang zum Heilpraktiker und beileibe wirkungsvoller.

Die zehn Minuten sind um. Ich leg mich wieder hin.

Philipp "Der Rheydter der Apocalypse" Nussbaum
(hat auch alle Fotos hier gemacht)

Schön, wenn Hühnerherzen Lieder singen Pt. I


ACHT EIMER HÜHNERHERZEN - Lieder

Acht Eimer Hühnerherzen, das bedeutet inzwischen auch vier Alben voller „Musik“ und „Lieder“. Vierzehn neue gibt es jetzt auf eben diesem, so benannten Longplayer zu hören. Nach den drei bereits tollen Vorgängern hat der geneigte Hörer mittlerweile eine gewissen Erwartungshaltung an das Berliner Trio entwickelt. Und diese werden auf „Lieder“ auch voll und ganz erfüllt. Spannende, leicht skurrile Lyrics von Apocalypse Vega, die so herrlich aus der Alltagskiste einer reflektierenden, unangepassten Frontfrau vorgetragen werden, die immer wieder ins Mark gehen und aufhorchen, ja gelegentlich auch zusammenzucken lassen.

So ehrlich und schonungslos werden hier persönliche Geschichten formuliert. Bei diesen Schnurren fühlt man sich immer wieder abgeholt, verstanden, aber auch erwischt und bloß gestellt. Das schaffen nicht viele Songwriter in dieser Breite und Form. Texte wie Durchlauferhitzer“ oder „Ostkreuz“ gehen unter die Haute und berühren mich im innersten.


Aber Acht Eimer Hühnerherzen machen ja auch Musik und schreiben nicht nur Gedichte. Damit wären wir also beim Nylon-Punk, wie die Band ihren Stil von Beginn an bleibt. Und dieser halbakustische Sound ist es dann neben den Lyrics, was die Band ausmacht. Zart und hart, Punk-Attitüde ohne Brat-Gitarre. Rock ohne aufgeblähten Sound.

Das trifft auch nach sieben Jahren noch den Nerv und entspricht dem Zeitgeist. Mehr Moll als Dur, mehr Mid- als Up-Tempo. Damit limitieren sich Apocalypse Vega und ihre beiden Begleiter Herr Bottrop und Bene Diktator nur beiläufig. Dann die feinen Differenzierungen liegen im Detail und dem ziselierten Songwriting, so wie bei „Nackt am Rand“, dem finale Song des Albums, der den Hörer irritiert aber auch auf eine Art versöhnlich zurücklässt.

Ich bin hier nicht objektiv. Nein, ich bin parteiisch, ich bin Fan. Immer noch und überhaupt. Deshalb rate ich der werten Leserschaft, ein Ohr zu riskieren. Vielleicht sogar gleich beide.

Abel Gebhardt

Donnerstag, 1. Mai 2025

Schön, wenn das Internet mein Herz bricht Pt. IIIX


CHRIS IMLER: THE INTERNET WILL BREAK MY HEART

“The Internet Will Break My Heart”: Der Titel und gleichnamige Start-Track weist den Weg in Chris Imlers neues Album, das vor wenigen Wochen auf dem Berliner Label Fun in the Church erschienen ist. Gekonnt und facettenreich bewegen sich die neun Songs im Spannungsfeld der Digitalisierung, die unseren Alltag oft intensiv durchdringt.

Im Titel-Track bringt der Dandy unter den Soundtüftlern die latente Überforderung und Entfremdung auf den Punkt, die mit ständiger Verfügbarkeit und WWW-Überfülle das wahre Leben prägt: “Ich umarme fremde Leute / Ich verliere meine Freunde / Ich erkenne sie nicht mehr wieder / Ich höre 100.000 Lieder.“ Wohin mit all dem Input? Kein Wunder, dass sich das singende Subjekt in Widersprüchlichkeiten verstrickt, wenn es an anderer Stelle heißt: “Ich will ja nicht nerven, aber ich muss / Ich will auf jeden Fall kommen, aber ich hab' keine Lust.”



Der treibende Stakkato-Rhythmus treibt auf die Tanzfläche, flirrende Sounds flattern herein, andere türmen sich rasch auf und flauen sanft wieder ab. Imlers Songs sind energetisch und entfalten ihre Dynamik im Wechselspiel ihrer Elemente – ob im Stop-and-go-Modus oder wie auf einer filmisch inszenierten Flucht wie in “Un Solo Corpo”.

Sein erzählerischer, monotoner Sprechgesang wirkt dabei als Konstante in unruhigen musikalischen Wechselbädern, in denen sich auch Momente der Stille einfinden. Auch ein Song wie “The Train Seems to Know Where I Go” lässt sich durchaus auch als Musikhörspiel charakterisieren, das beim Hören immer wieder überrascht. “Me Porn, You Porn” wiederum zitiert “Love Is a Battlefield” und führt mit soghaft vibrierenden Synthies in den Folterkeller der Lust.

“Agoraphobie” mit Naomie Klaus erfüllt mit sphärischem Sirren den Raum und verströmt melancholische, nervöse Vibes. Der titelgebende Begriff meint die Angst von Menschen vor Situationen, aus denen sie vermeintlich nicht entkommen können – etwa in Menschenmengen oder öffentlichen Verkehrsmitteln.


In “Let's Not Talk About The War” formuliert sich eine Sehnsucht nach der Zeit vor dem scheinbar allmächtigen Internet. Erinnerung statt webgesteuerter Gegenwart, aus der es kein Entrinnen gibt – höchstens in individualisierten Nischen, wie Imler im Schluss-Track “Boundless Love” formuliert: “Vielleicht sollten wir unsere eigenen Kanäle graben / unsere eigenen Sender und Empfänger haben”.

Bis es soweit ist, wird das hiermit empfohlene Album seine Hörer:innen vor allem weiter über digitale Plattformen erreichen. Oder auch live, denn Chris Imler ist auf Tour und – wer es noch nicht weiß: ein Energiebündel und Sound-Ereignis.

Stonebridge

Chris Imlers Album The Internet Will Break My Heart ist bei Fun in the Church erschienen erschienen.

Und auf Tour ist Mr. Imler in der nächsten Zeit auch noch:

10.05.25 Berlin, Säälchen (Release-Konzert mit Naomi Klaus)

15.05.25 London, New River Studios

17.05.25 Glasgow - Exit

Mehr Tourdaten gibt es hier.

Donnerstag, 24. April 2025

Schön, wenn die Trauergäste Musik machen Pt. I+I+I


DOC WENZ & THE MELANCHOLICS - The EPs Vol. I-III

Schon die frühere Band von Joachim "Doc" Wenz, die MARDI GRAS BB, war jetzt nicht unbedingt das, was am Rosenmontag im Rheinland spielen würde. Was ich sagen will: Wenn Doc Wenz jetzt eine neue Band hat, die eine leicht bedrückte Stimmung transportiert, dann überrascht das nicht gerade. Mit so einer Grundeinstellung kann ich mich sehr gut anfreunden, und die übrigen Mitglieder der Depressive Underground Brigade sicher auch.

Schon das Cover begeistert: Da sind sie also, der Doc und die Melancholics. Stehen da so rum, traurig bis verstört schauend, irgendwie an Slade auf dem Cover ihres 72er-Album Slayed erinnernd, nur ohne Gestik, voll bekleidet und insgesamt eher passiv-abwartend und runtergedimmter laune. Vier traurig dreinschauende ältere Herren, von denen ich mir gut vorstellen könnte, dass sie entweder öfter mal kollektiv als Begräbniskapelle oder als einzelne Besucher einer sozialbestattung gebucht werden. Das äußere Paket stimmt also schon mal und auch musikalisch geht's hier sehr, nunja, melancholisch zu.

Die gedrückte Stimmng zieht sich duchs komplette Album, das ja eher eine Compilation der von bisherigen EPs ist. Finde diese Tatsache, dass das alles schon mal irgendwie veröffentlicht wurde, ja eher nicht so relevant. Aber eine gute Wahl, das Material mal so kompakt auf eine LP zu packen. Denn EPs, so schön das Format sein mag, sind doch ganz schön unübersichtlich und eher was für die sehr aufmerksamen Sammler. Dann lieber alles auf einer LP, die rauf und runter gespielt wird.


11 Songs gibt es (dies eigentlich eine sehr karnevaleske Anzahl an Titeln) und 11 mal wird alles aufgefahren, was den Menschen am Abspielgerät einen tiefen Seufzer aus dem Herzerl holen kann. Da ist die einsame pedal steel guitar (war sofort verliebt), die brüchig heisere Stimme vom Doc und die wirklich gut dazu passende Backing band. Sobald eine pedal steel im Spiel ist, fällt die Einordnung oft leicht. Irgendwas mit Country. Oder Western. Im Fall vom Doc und den Melanchoikern fällt oft der Begriff Americana, und auch der passt, ich halte ihn aber für recht unscharf. Was ist denn Americana? All das Countryzeug, das nicht hemdsärmelig-raubauzig oder US-patriotisch rüberkommt, sondern eher etwas verschrobener und nicht gerade mainstream-tauglich? Wenn das ungefähr die Genrebeschreibung ist, dann passen Doc Wenz & The Melancholics hervorragend in diese Schublade, in der sich die leiseren, gebrocheneren Outsider tummeln.

Aber: Country allein trifft musikalisch nicht komplett, was die Band so spielt. Denn auf diesen Songs kommen andere Dinge mit rein. Sogenannter Blue-Eyed Soul (very charming) oder gar reggae-artiges, denn manchmal tupft der Bass auch eher dub-artig durch die Songs - was zu der eher dunklen Grundstimmung sehr gut passt. Songtitel wie "So lonely I could die" (Hank-Williams-Alarm!), "In Times of trouble" oder "Last Hooray" vermitteln schon eine leicht unheilvolle Atmosphöre und zeigen, wohin die Reise stimmungsmäßig geht. Und das sind nur drei Titel. Was auch sehr schön kommt: Die Coverversion des Bubblegum_Smashers "Sugar Sugar". Im Original von den Archies, wird der Song vom Doc mit einer konzentrierten Tinktur schwarzer Galle überzogen. Es passt trotzdem wunderbar, quelle surprise. So latent muss ich, auch wenn es musikalisch nicht ganz passt, an Bonnie Prince Billy oder an David Bermans PURPLE MOUNTAINS denken. Rein von der Atmo geht das hier auch schon in Richtung "All my happiness is gone". und das ist ein großartiger Song auf einer großartgen Platte von einer großartigen Band.

Was hier auch noch passt, außer der beerdigungstauglichen Oberbekleidung der Bandmitglieder auf dem Cover, ist der Sound. Das ist alles sehr hübsch abgemischt, klingt schön warm und nie schrill oder überladen, sondern wohltuend minimalistisch runtergedimmt. Wie die Mimiken auf dem Cover. Wie man selber halt stimmungsmäßig ist, wenn die Melancholie an die Tür im Oberstübchen klopft und für einige Zeit Einlass begehrt.

Wäre das Leben eine 1-Zimmer-Wohnung, dann wäre dieses Album das Rollo am einzigen Fenster. Die Jalousie, dies immer runtergezogen wäre, damit nicht zuviel Licht hineinschiene. Dafür wäre alles drinnen immer angenehm kühl und ruhig. Und das beste: Der Staub des nachdenklichen Gemüts könnte nicht im Sonnenlicht tanzen, denn dafür wäre es zu dunkel. Schönes Ding, Doc. Grüße an die Band.

Gary Flanell

"The EPs Vol. I - III" von Doc Wenz & The Melancholics ist als LP auf OFF LABEL RECORDS erschienen.

Donnerstag, 17. April 2025

Schön, wenn der Dosendeckel scheppert Pt. 0


Müllmusik: FULU MISIKI - MOKANO

Jetzt geht es zurück an die Ursprünge, ans Ein- und Selbstgemachte, an DIY ohne Hornbach (oder sonstige Baumärkte), from rags to riddim. Musik aus Müll, in Lingala (eine Sprache aus der Bantu-Familie mit über 20 Millionen Muttersprachlern) Fulu Misiki!

Milchpulverdosen, Ölkanister und Regenrohre. Leben ist Kreislauf, alles Neue entsteht aus den Resten des Alten, alles erhält eine neue Chance. So lautet das Credo dieses sechsköpfigen Kollektivs, das bereits seit 1999 an seiner perkussiven Vision arbeitet. Für die Aufnahmen zur Mokano EP haben sie sich indes in Kampala, Uganda, eingefunden, vermutlich wegen besserer oder stabilerer Studiomöglichkeiten (weniger Stromausfälle). Denn sie kommen aus der Demokratischen Republik Kongo, wuchsen im selben Viertel in Kinshasa auf.


In der EP-Welt ist dies ihr Zweitwerk, aber es gab natürlich davor schon Kassetten. Sie spielten bereits auf dem einst von Peter Gabriel ins Leben gerufenem WOMAD Festival in England, tourten durch Europa und trumpften letztes Jahr im Humboldtforum auf.

Genauso multiinvasiv gehen sie an ihre Outfits heran, erzeugen Masken aus Müll und full body armour aus Armaturen, jetzt mal alliterarisch gesagt. Deutlich anders als die klassischen Sapeurs von Kinshasa, die auf ein Ziel absoluter Dandy-Noblesse hinarbeiteten, sozusagen aus dem Slum zum Ascot Race Course, wofür sie sich allerdings ebenfalls sehr kreativer Mittel bedienten. Zugleich war dies teilweise als Kritik an Mobutus (der Kleptodiktator des Kongo, nicht umsonst bedeutet sein voller Name „der Krieger der von Sieg zu Sieg schreitet, ohne dass ihn jemand aufhalten kann und der nichts als Feuer hinterlässt“) Abacost-Dogma gedacht, also sein Verbot Anzüge und Krawatten zu tragen, weil dies unafrikanisch und neokolonialistisch sei. Nur der Form nach, denn er wurde von westlichen Geheimdiensten als „Bollwerk gegen den Kommunismus“ installiert und hofiert. Abacost steht für à bas le costume - nieder mit dem Anzug, das galt von 1972 bis 1990! Kim Jong Un hält auf seine Art bis heute daran fest.


Fulu Miziki indes erinnerten sich der jährlichen Überschwemmungen in den Straßen von Kinshasa, wo aller Müll nochmal an einem vorüber floatet. Also fischten sie anfangs einiges davon heraus, um es auf seine Klangqualitäten zu untersuchen. Beim Spielen lösten sich viele Instrumente aber auch wieder auf, was zu ständig neuen Improvisationen führte. Allerdings benutzt die Gruppe heutzutage auch handelsübliche Gitarren, was ihren Sound zugänglicher und melodisch umfangreicher macht. Zugleich näher an rumba congolaise Vorbildern. Gern mit Gruppengesang. Jedenfalls eine hoch energetische Angelegenheit.

„Mbanga Pasi“ von ihrer aktuellen EP inkorporiert nach ihren Angaben Reggaetón, es gibt manchmal Hip- Hop-Anflüge und musique concrète Kadenzen, aber generell ist dies Afrobeat mit der Betonung auf Beat. Nicht unbedingt mit maximaler Virtuosität, dafür mit voller Verve und äußerst sympathischer space-punk Guardians of the Galaxy-Herangehensweise.

Vor Jahren saß ich auf dem Hof, als mich ein Herr auf meine Zigaretten ansprach. Es waren Ernte 23 und die weckten nostalgische Gefühle bei ihm. Es stellte sich heraus, dass er in der kongolesischen Botschaft in Bonn geboren war (damals noch als Zaire firmierend). Übrigens die Botschaft, die am allerlängsten in Bonn verblieb, einfach weil nie genug Geld oder eine genügend stabile Regierung da war (die einen Sinn in Umzügen sah).


Er hatte das Heimatland seiner Eltern auch noch nie gesehen, und von Verwandten und Bekannten wurde ihm zudem stets von einem Besuch abgeraten. Was mich an einen guten Bekannten erinnerte, der für seine erste Reise nach Afrika sofort Kinshasa und die Demokratische Republik Kongo als Ziel wählte. Direkt in Conrads behauptetes „Herz der Finsternis“. Eine charmante Entscheidung. Für Leute, die noch nie in Europa waren, würde ich evtl. auch zu Wien oder Budapest raten (sofern wir Orban und die FPÖ mal ausblenden). Nur mit einem ganz anderen Schmäh.

Denn „Kin la poubelle“ ist einer der Spitznamen von Kinshasa, sprich Kin der Mülleimer (und zugleich Anspielung auf la plus belle – die Allerschönste). Heutzutage ist sie die größte Metropole der Francophonie der Erde. Beileibe nicht jeder der rund 20 Millionen Einwohner mag fließend im Idiom Victor Hugos parlieren, aber ein gewisser Prozentsatz genügt, um Paris rein massenmäßig in den Schatten zu stellen. C‘est dingue quoi!

Also schaut mal rein, zum Beispiel bei „Tikanga“ auf Youtube - sogar mit energiegebündelter Dame (Lady Aicha) und musikalischem Kettenzug!

Bit Father Out

Donnerstag, 10. April 2025

Schön, wenn outer space the inner place ist Pt. VVIVV


KOSMOLOGIC RESEARCH SOCIETY - INNER|OUTER

INNER|OUTER. Schon der Projektname klingt schon amtlich: Entweder nach Freikirche, Sekte oder sympathisch seltsamen Forschungsinstitut voller Mad Scientists. Da ist der Interpretationsraum groß, vielleicht so groß wie das gesamte Universum. Es wird auch fix klar: Eine gewisse gewollte Obskurität schwingt hier auf kosmischen Wellen mit. INNER|OUTER.

INNER|OUTER. Inhaltlich könnte alles passen: Das Innere und das Äußere, räumlich, psychologisch, sozial, kulturell. Viele Möglichkeiten der Verortungen stehen hier im (sich immer weiter ausdehnenden) Raum und die Dynamik zwischen diesen Verortungen kann man spirituell (manche würden sagen religiös), zwischenmenschlich oder sehr technisch fassen. INNER|OUTER.

INNER|OUTER. Das Innere. Das Äußere. Das Innere. Das Äußere. Das Innere. Das Äußere. Das Innere. Das Äußere. Und all das, was dazwischen ist. Wann ist etwas innerlich, wann etwas äußerlich? INNER|OUTER.

INNER|OUTER. Rein Astronomisch: Was ist da draußen, da, wo Voyager 1 und 2 rumkurven, bis der letzte Balken ihres Akkus weg ist? Das da etwas sein muss, ist eine der großen Hoffnungen der Menschheit. Die Vorstellung, doch ganz allein in diesem unendlichen Universum und darüberhinaus zu sein, lässt sich einerseits schwer in menschliche Vorstellungen quetschen und macht dazu oft Angst. Aber selbst, wenn da etwas oder jemand wäre, was hätten wir davon, wenn wir das da draußen eh nie in näherer Zeit zuGgesicht bekommen können. Was sollte da sein, jenseits der Oorth'schen Wolke, hinterm Ereignis-Horizont, wo es laut Udo Lindenberg immer weitergeht? INNER|OUTER.


INNER|OUTER. Fragen und Fantasien sind es, die die Vorstellung von uns bekanntem Univerum und Galaxien erzeugt haben. Gewissheiten gibt es nicht. Wenn die Fragen die Forschung und auch allerlei Pseudowissenschaften vorangetrieben haben, dann haben die Fantasien, dessen, was da draußen sein könnte, auch einiges in der Popkultur ins Rollen gebracht: Sci-Fi is the key, mit dem die Tür zu allerwildesten Vorstellungen geöffnet wurde, die in den Hirnen unzähliger Autor*innen (also innen) geschaffen wurden und sich mit dem beschäftigt, was dort draußen ist, wo nie ein Mensch je zuvor war (also außen). Fragen Sie Perry Rhodan oder den Androiden, der am Tannhäuser Tor allerlei Dinge gesehen hat. INNER|OUTER.

INNER|OUTER. Innen. Außen. Innen Außen Innen. Außen. Das kann man natürlich auch ganz persönlich nehmen: Was geht in mir vor und wie ist es mit der Realität draußen vereinbar? Die Verbindung wäre dann wohl die ganz eigene Lebensrealität, die jeder ein wenig anders sieht, im positiven oder negativen. INNER|OUTER.

INNER|OUTER. Die Kosmologische Forschungsgesellschaft, die sich per Bandaufnahme auf Soundreise begibt, besteht aus den drei Forschungsreisenden Sun Ra Bullock, Kuzi Whan und Marky Funk. Im Orbit des edelfaul-Labels keine Unbekannten, denn diese drei kommen in verschiedenen Konstelltionen immer wieder für Projekte zusammen, sei auf den Label-Schubraketen X.A.CUTE, STUMPF, ATOMVULKAN BRITZ oder anderen Sonden, die sich auf musikalische Reise begeben. Die Reise des Kosmologischen Projektes hat übrigens schon früher begonnen, als man nämlich 2020 eine erste Veröffentlichung unter dem Titel AQUASONIC RESEARCH SOCIETY veröffentlichte. Die Forschungsgemeinschaft ist geblieben, allerdings das Forschungsfeld hat sich geändert. Statt Wassermusik nun also: INNER|OUTER.
Die Odyssee der KOSMOLOGIC RESEARCH SOCIETY verläuft in diesem neuen akustischen Forschungsbericht zunächst etwas ruhiger, aber nicht unbedingt ent-spannt. Hier dräut immer wieder das Unbekannte, Klänge wiegen die Hörer sanft, aber nie zu optimistisch. Man könnte sagen, hier überwiegt der introvertierte Part der Musiker, was sich in Sounds niederschlägt, die bis an die Ränder der Popkultur reichen. Man könnte bei der Zusammensetzung des forschenden Trios Noise und Doom erwarten, vielleicht etwas Outernational/DnB-mäßiges, aber nichts davon findet sich hier. INNER|OUTER.


INNER|OUTER. Dafür finden sich sphärische bis atmosphärische Synthiesounds, die zumeist ohne Rhythmusunterstützung auskommen, somit sehr soundtrackartige Assoziationen wecken. Wenn ich hier an Sci-Fi-Soundtracks denke, dann an die aus den 70ern, als Synthesizer so groß wie Raumstationen noch was Neues waren und man einige Zeit damit verbringen konnte, um ein kalt-finsteres Setting abzubilden. LA PLANÈTE SAUVAGE fällt mir als erstes ein, 2001: A SPACE ODYSSSEY als zweites und auch diverse Krautrockplanetenstürmer, die experimentelleren Werke von CESłAW NIEMEN, sogar JEAN-MICHEL JARRE sowie die Soundtracks einiger Hörspiele, mit denen sich die Kinder der 80er die Zeit vertrieben haben. Vieles auf diesem Tape wirkt kalt, unnahbar und wenig lebensfreundlich. Aber es gibt auch eine andere, tröstlichere Facette, denn die Tracks wirken mitunter reichlich meditativ und nachdenklich. INNER|OUTER.

INNER|OUTER. Dass old school Science Fiction, Forschung und Technik hier ein maßgeblicher Einfluß bei der Produktion und der Erschaffung des hinter diesem Tape stehenden Konzepts waren, bilden auch die Titel der insgesamt 13 Tracks ab: Hippocampus, Neuron, oder Nebula zeigen an, in welche Richtung das alles geht. Ins Hirn, ins Universum, ins Große und ins Detail. Und ganz am Ende, als diese fantastische Reise der kosmologischen Forschungsgesellschaft zu Ende ging und alle drei im Berichterstattungszeitraum 2016 und 2017, nach zahlreichen Soundabenteuern in faszinierend fremden Klangwelten wieder einigermaßen safe im Berliner Hier und Jetzt gelandet sind: Going Home.

INNER|OUTER.

Gary Flanell

Das Album INNER|OUTER der KOSMOLOGIC RESEARCH SOCIETY ist digital und als Tape auf confused machines recordings erschienen

Donnerstag, 3. April 2025

Schön, was uns die Alten singen Pt. I


Ancestor Sounds from Africatown, Alabama

Diesmal eine akustische Spurensuche in Mobile, Alabama, in Form eines klingenden Tagebuchs oder einer impressionistischen Skizzensammlung. Alles field-recordings, im Freien aufgenommen als ungeprobte one- takes. Die beiden O-Tonsammler sind gleichfalls interessante Leute, Ian Brennan produzierte das Grammy- gekrönte Album „Tassili“ von Tinariwen, des Touareg-Blueskollektivs aus Nordmali, und Marilena Umuhoza Delli ist eine italienisch-ruandische Fotografin & Filmemacherin.

Brennan ist auch Antieskalations-Coach, was er sich während langjähriger Arbeit in Psychatrien antrainierte, und für seine „fly-on-the-wall“ Aufnahmetechnik bekannt, sprich so wenig in den Aufnahmeprozess einzugreifen wie möglich sowie over-dubs strikt zu meiden. Musik ist für ihn gelebte Emotion, nicht Technik. Aber layering + mixing scheinen okay, denn das ist ja auch der Witz dieser Collage aus Oral- History und Umgebungsgeräuschen. Man hört dort bspw. die Stimme eines älteren Herren, dessen Großeltern noch mit dem letzten Sklavenschiff aus Westafrika gekommen seien. Er bedauert, dass er zwar in Vietnam war (als Soldat), aber nie je in Afrika. Allerdings wurde dieses Schiff, die Clotilda, 1860 versenkt und erst 2018 im Schlick des Mobile River wiederentdeckt, somit kann das mit den Großelten nicht hinhauen. Wahrscheinlich meint er seine Ururgroßeltern, aber geschenkt. 1860 war die Einfuhr von Sklaven bereits seit 52 Jahren verboten, doch die Südstaaten hatten bekanntlich andere Interessen, weshalb ein Jahr später der Sezessionskrieg ausbrach.


Im Fall der Clotilda war der Auslöser perfider Weise eine Wette, die ein Südstaaten-Plantagenbesitzer mit Nordstaaten-Geschäftsfreunden abschloss, dass ihm die Einfuhr trotz Verbot gelingen würde. Der Kapitän verhandelte mit dem damaligen König von Dahomey (heute Benin), der ihn in ein Lager vollgestopft mit 4000, übrigens durch Amazonenkriegerinnen Gefangene führen ließ, wo er seine Auswahl treffen sollte. Die traditionelle Brandmarkung der für jeweils 100 Golddollar Gekauften lehnte der Kapitän indes ab – immerhin.

Über 100 Personen wurden erworben, mussten sich nach Ankunft aber noch längere Zeit in Alabamas Sümpfen verstecken, wie sich Cudjoe Lewis erinnerte – dem wir übrigens den Bestseller Barracoon verdanken, ein Lieblingsbuch von Obama. Das erschien erst 2018 anhand 1927/28 geführter Interviews durch keine Geringere als Zora Neale Hurston, eine Ikone der Harlem Renaissance. Sie hatte das Buch bereits 1931 fertig, aber kein Verlag wollte es – sie selbst verstarb verarmt im Fürsorgeheim. Als nach dem Sieg der Nordstaaten die Sklaverei endgültig abgeschafft wurde, gründeten die bei Mobile Verbliebenen (u.a. Cudjoe Lewis) Africatown. Zur Blütezeit (in den 1960ern) hatte Africatown über 12.000 Einwohner, aber danach ging es bergab. Heutzutage leben nur noch 2000 Menschen dort, knapp 100 sind Nachfahren von der Clotilda.


Gleich zu Beginn bemerkt ein Herr, dass eigentlich nie groß über Afrika geredet wurde, es war ein „hidden secret“, und ihre Kirche beschränkte sich eher auf den Leidensaspekt – sowohl auf dem Herkunftskontinent vor etlichen Generationen, wie in der Diaspora. Ein anderer Herr singt zur Klavierbegleitung, dass keiner zuhöre, strugglin`(or straddlin`) all alone (under a) jealous God. Danach folgt „Lead me home“ in einer Micky-Maus-artigen Verzerrung, und eine Dame singt emphatisch „kept me“ - gemeint sind der Herr und Jesus - from all evil. Eine jüngere Dame berichtet, dass es in den alten Geschichten oft um Gehorchen ging (den Eltern, Gott), und eine Großmutter bei ihr anmerkte, sie habe gar nicht mehr die Kopfform, um einen Kartoffelsack zu tragen (auf dem Kopf).

Eine weitere Stimme erzählt: Das erste, was er tat, nach dem Bürgerkrieg, war eine Trommel zu bauen. Trommeln verwoben einst die Gemeinschaft, und er wollte so seine Stimme wiederfinden. Das wurde zum Fest, während Weiße sich argwöhnisch wunderten, wie gut Schwarze oft kooperierten, obwohl sie völlig verschiedene Muttersprachen hatten.

Diesen verbindenden Background bilden heute indes eher Industrie- und Werksgeräusche, die Signalhörner von Zügen und Schiffen. Oder das generelle Rumoren im graveyard- shift (der Nachtschicht), die im „odd job“ ein karges Auskommen sichert, aber zugleich die Umwelt zerstört. Alles in Africatown zu hören.


Den Rahmen bilden zwei Swamp-Bluesimpressionen, beeindruckend ob ihrer Melancholie und Intimität. Das Wort „Africa“ darin als industrielles Hecheln, wie eine stotternde Maschine gesprochen – mindestens so eindringlich wie John Lee Hooker. Einer der aufgenommen Anwohner brachte sogar seine Kologo mit, zu hören in „reconstructed memory“, die er allerdings anders bezeichnete, weil er deren ghanaischen Namen und Ursprung nicht kannte. Die jüngere Generation kommt mit einem Rap zu Wort, und ein Anwohner erinnert, dass Cudjoe Lewis ein kleines Standbild hatte, das in einen Graben geworfen wurde. Denn Rassismus und Disrespekt leben in stets neuer Form fort - oder wie der Eingangssong bemerkt: Misery down the road, I ain‘t goin` back down that road…

Bit Father Out

Das komplette Ancestor Sounds-Album gibt's auf der Bandcamp-Seite des Africatown-Projekts

Donnerstag, 20. März 2025

Schön, wenn Garagepunk komisch spricht Pt. BEESVVAXXXX


NUNOFYOURBEESWAX - HABLO RARO

Fast!

Hätte ich NUNOFYOURBEESWAX letztes Jahr live gesehen! Und das nicht mal in Berlin.

Verrücktes Leben: Da gibt es wirklich Bands, die Leute manchmal fast live miterlebt hätten. Das Dasein auf dieser Welt hät doch immer neue Überraschungen bereit.

Letztes Jahr habe ich zu Regenerationszwecken einige Tage in San Sebastian verbracht. Wunderbare Stadt, vor allem wegen der malerischen Buchten, Strände, Berge. Alles toll, also. Ich ging spazieren, lag im Sand und las ein Buch. In einem gut sortierten Plattenladen kaufte ich ein T-Shirt, in einem anderen, weniger gut sortierten Laden eine Live-Platte von SO MUCH HATE. Da wurde mir nochmal klar, wie Punk die Globalisierung schon früh drauf hatte: Das Live-Album ist nämlich in der Your Choice-Live Series erschienen. Your Choice war ein Label aus NRW, glaube ich. Die Livemitschnitte allesamt Sahne. Also, ein Label aus Deutschland veröffentlicht eine live aufgenommene Platte einer norwegischen Band und die wird mir 36 Jahre später in einem Plattenladen im Baskenland in die Finger gespült. Es wäre nachzuforschen, wie sie dort hingekommen ist. Eigentlich eine subkulturelle Flaschenpost.

Mein subkulturelles Erleben beschränkte sich ansonsten auf den Besuch eines Mini-Festivals mit MUDHONEY und drei baskischen/spanischen Bands, deren Namen ich leider vergessen habe - bis auf eine. MELENAS, eine reine Frauenband, die mir vor allem deshalb sofort sympathisch war, weil sie ihren Gig zunächst ohne Gitarren eröffnet haben. Nur Synthie, Bass, Schlagzeug und Gesang, es war wunderbar, denn die beiden Bands davor, deren Namen ich nun wirklich nicht mehr im Kopf habe, waren halt so typische Alternative-Rock-Indie-Emobands.

Die eine noch ganz jung und offensichtlich noch gar nicht so ausgereift (beendeten ihren Gig aber mit einem recht guten PINK-Cover), aber genau deshalb auch grundsympathisch. Die zweite, puh, das war anstrengend, denn das war so eine reine Männertruppe mittleren Alters, die so ganz wütenden brachalen Noiserock drauf hatten, dazu zwei Schlagzeuger, die orginal komplett dasselbe gespielt haben. Warum? Keiner weiß es. Dann noch ebenjene MELENAS, so viel Wave-artiger und spannender, auch wegen der fetzigen Coverversion von GRAUZONEs Eisbär. Auf spanisch: OSA POLAR.
Über MUDHONEY weiß ich nicht viel besonderes zu berichten, denn sie waren routiniert und souverän. So routiniert, dass ich mich gefragt habe, ob sie überhaupt wissen, in welcher Stadt sie gerade sind, oder ob das komplett egal ist. Was auch wiederum egal ist. Das war also mein einiges Konzerterlebnis im Urlaub in San Sebastian 2024. File this segment under holiday memories.

Es hätte noch ein Konzert dazukommen können, denn in den Zeitraum meines Urlaubs begab es sich, dass auch NUNFYOURBEESWAX in Spanien unterwegs waren und in San Sebastian Halt gemacht haben - gemeinsam mit THE GORIES.
Ja, ich weiß. Sowas sollte sich niemand niemals nicht entgehen lassen. Allerdings: Es war der Abend vor meiner Abreise Richtung Barcelona, die am nächsten Morgen sehr früh vonstatten ging. Und da ich mittlerweile zu ausgedehnten Ruhephasen im Vorfeld von An- und Abreisen neige... bin ich mit der Taschenbuchausgabe der gesammelten Briefkorrespondenz von Hunter P. Thompson auf dem Gesicht in meinem Herbergszimmer eingepennt. In der Youtube-Playlist das "Memphis Underground"-Album von Herbie Mann in Dauerschleife.

Aber von nun an war der Kontakt zu NUNOFYOURBEESAX da, und jetzt liegt ihr drittes Album hier auf dem Plattenspieler und dem Schreibtisch (wechselweise mit einer Platte von DEAD MOON und "Frenching the Bullies" von THE GITS). So ganz unbekannt war mir die Band vorher nicht, schließlich kann man sie immer wieder mal live in irgendwelchen Berliner Kellern sehen. Nun also neue Platte und alles, was irgendwie den Ruch von Garagerock/Punk hat, finde ich immer noch spannend und deshalb dieser Text.


Also gleich mal die Katze aus dem Sack: "Hablo raro" ist ein sehr erfrischendes Stück Garagepunk geworden. Das, was mal in den 60ern in dieser Art gespielt wurde, auf Nuggets- und Pebbles- und Backfromthegrave-Samplern zusammenkompiliert wurde, findet sich hier in modernisierter Art wieder. Dazu sicher das prägnante Erbe einiger südamerikanischer Garagebands wie LOS SAICOS. Diese mit den BUZZCOCKS, COATHANGERS, CRAMPS, LOLITAS und WHITE STRIPES in einen Mixer geworfen - fertig ist die stürmische-fiebrige, dich unmittelbar treffende Garagerock/Pop-Punk-Chose. Flott, tanzbar und sehr gute Laune verbreitend.

Was mir an den Songs auf "Hablo raro" so richtig gefällt, ist der Fakt, dass es eine Punkplatte ist, der dieser typische, RAMONES-artige Punksound fehlt. Die Gitarre ist kaum verzerrt, auch dieser harte Downstroke-Anschlag ist nicht da und das macht alle neun Songs zu einer angenehm luftigen und rhythmisch sehr tanzbaren Angelegenheit. Manche werden das Lo-Fi nennen, und vielleicht ist es das auch, aber die Tatsache, das die Band sich für diese Art von Sound entschieden hat, hat wenig mit mangelndem Technik- oder Equipment-Ressourcen oder Know-How zu tun, sondern war sicher eine bewusste Entscheidung und das finde ich wiederum äußerst charmant.


Schon das Intro, in dem das Stimmen der Gitarrensaiten die Zuhörer*innen darauf vorbereitet, dass NUNOFYOURBEESWAX sich gerade darauf vorbereiten, den Soundtrack für eine Party, für deine Party also, abzuspielen: Ich bin der Meinung:"...das ist Spitze!" (Hans Rosenthal, 1982)

Und dann noch Don Fury! Ich hab's kaum geglaubt, gerade den in den "Hablo Raro"-Credits zu finden! Erstens wusste ich gar nicht, dass Fury noch als Produzent o.ä. aktiv ist, und zweitens hätte ich ihn sicher nicht als Mastering-Mensch für eine Garage-Punkband erwartet. Aber nun, der Name steht da auf dem Backcover und es wär schon schräg, wenn es ein komplett anderer Don Fury wäre, als die Hardcore-Produzentenlegende aus New York.

Wo gerade von Back- und Frontcover die Rede ist... Auch das Coverartwork von Johan Schreier ist wunderbar: Bunt wie ein 80er-Jahre-Teenage-Bubblegum-Comic, bissl an frühe Punkscheiben wie von THE MODERNETTES erinnernd und somit in sich auch sehr passend zur Musik.


Festzustellen bleibt: NUNFYOURBEESWAX haben hier eigentlich nur Hits ins Vinyl gepresst und wer nur ein bißchen was mit der Art von Rockmusik anfangen kann, die die Silbe Garage in sich trägt, sollte sich HABLO RARO geben - egal ob auf Spotify, Bandcamp oder im Plattenladen eures Vertrauens.

Gary Garage Flanell

HABLO RARO ist über die Bandcampseite von NUNOFYOURBEESWAX erhältlich.

P.S.: Beste Songs? "All I Know" - so ein richtiger Hüftschwinger mit geilem Gitarrenthema, das mich an einen südamerikanischen Garagerock-Kracher erinert, dessen Name mir aber partout nicht einfällt. Und zweitens: "Never will" - ein unglaublich süßes Stück Pop-Punk, es gibt nichts schöneres, um die B-Seite dieses Album zu beenden.