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Donnerstag, 20. März 2025
Schön, wenn Garagepunk komisch spricht Pt. BEESVVAXXXX
NUNOFYOURBEESWAX - HABO RARO
Fast!
Hätte ich NUNOFYOURBEESWAX letztes Jahr live gesehen! Und das nicht mal in Berlin.
Verrücktes Leben: Da gibt es wirklich Bands, die Leute manchmal fast live miterlebt hätten. Das Dasein auf dieser Welt hät doch immer neue Überraschungen bereit.
Letztes Jahr habe ich zu Regenerationszwecken einige Tage in San Sebastian verbracht. Wunderbare Stadt, vor allem wegen der malerischen Buchten, Strände, Berge. Alles toll, also. Ich ging spazieren, lag im Sand und las ein Buch. In einem gut sortierten Plattenladen kaufte ich ein T-Shirt, in einem anderen, weniger gut sortierten Laden eine Live-Platte von SO MUCH HATE. Da wurde mir nochmal klar, wie Punk die Globalisierung schon früh drauf hatte: Das Live-Album ist nämlich in der Your Choice-Live Series erschienen. Your Choice war ein Label aus NRW, glaube ich. Die Livemitschnitte allesamt Sahne. Also, ein Label aus Deutschland veröffentlicht eine live aufgenommene Platte einer norwegischen Band und die wird mir 36 Jahre später in einem Plattenladen im Baskenland in die Finger gespült. Es wäre nachzuforschen, wie sie dort hingekommen ist. Eigentlich eine subkulturelle Flaschenpost.
Mein subkulturelles Erleben beschränkte sich ansonsten auf den Besuch eines Mini-Festivals mit MUDHONEY und drei baskischen/spanischen Bands, deren Namen ich leider vergessen habe - bis auf eine. MELENAS, eine reine Frauenband, die mir vor allem deshalb sofort sympathisch war, weil sie ihren Gig zunächst ohne Gitarren eröffnet haben. Nur Synthie, Bass, Schlagzeug und Gesang, es war wunderbar, denn die beiden Bands davor, deren Namen ich nun wirklich nicht mehr im Kopf habe, waren halt so typische Alternative-Rock-Indie-Emobands.
Die eine noch ganz jung und offensichtlich noch gar nicht so ausgereift (beendeten ihren Gig aber mit einem recht guten PINK-Cover), aber genau deshalb auch grundsympathisch. Die zweite, puh, das war anstrengend, denn das war so eine reine Männertruppe mittleren Alters, die so ganz wütenden brachalen Noiserock drauf hatten, dazu zwei Schlagzeuger, die orginal komplett dasselbe gespielt haben. Warum? Keiner weiß es. Dann noch ebenjene MELENAS, so viel Wave-artiger und spannender, auch wegen der fetzigen Coverversion von GRAUZONEs Eisbär. Auf spanisch: OSA POLAR.
Über MUDHONEY weiß ich nicht viel besonderes zu berichten, denn sie waren routiniert und souverän. So routiniert, dass ich mich gefragt habe, ob sie überhaupt wissen, in welcher Stadt sie gerade sind, oder ob das komplett egal ist. Was auch wiederum egal ist. Das war also mein einiges Konzerterlebnis im Urlaub in San Sebastian 2024. File this segment under holiday memories.
Es hätte noch ein Konzert dazukommen können, denn in den Zeitraum meines Urlaubs begab es sich, dass auch NUNFYOURBEESWAX in Spanien unterwegs waren und in San Sebastian Halt gemacht haben - gemeinsam mit THE GORIES.
Ja, ich weiß. Sowas sollte sich niemand niemals nicht entgehen lassen. Allerdings: Es war der Abend vor meiner Abreise Richtung Barcelona, die am nächsten Morgen sehr früh vonstatten ging. Und da ich mittlerweile zu ausgedehnten Ruhephasen im Vorfeld von An- und Abreisen neige... bin ich mit der Taschenbuchausgabe der gesammelten Briefkorrespondenz von Hunter P. Thompson auf dem Gesicht in meinem Herbergszimmer eingepennt. In der Youtube-Playlist das "Memphis Underground"-Album von Herbie Mann in Dauerschleife.
Aber von nun an war der Kontakt zu NUNOFYOURBEESAX da, und jetzt liegt ihr drittes Album hier auf dem Plattenspieler und dem Schreibtisch (wechselweise mit einer Platte von DEAD MOON und "Frenching the Bullies" von THE GITS). So ganz unbekannt war mir die Band vorher nicht, schließlich kann man sie immer wieder mal live in irgendwelchen Berliner Kellern sehen. Nun also neue Platte und alles, was irgendwie den Ruch von Garagerock/Punk hat, finde ich immer noch spannend und deshalb dieser Text.
Also gleich mal die Katze aus dem Sack: "Hablo raro" ist ein sehr erfrischendes Stück Garagepunk geworden. Das, was mal in den 60ern in dieser Art gespielt wurde, auf Nuggets- und Pebbles- und Backfromthegrave-Samplern zusammenkompiliert wurde, findet sich hier in modernisierter Art wieder. Dazu sicher das prägnante Erbe einiger südamerikanischer Garagebands wie LOS PSYCHOS. Diese mit den BUZZCOCKS, COATHANGERS, CRAMPS, LOLITAS und WHITE STRIPES in einen Mixer geworfen - fertig ist die stürmische-fiebrige, dich unmittelbar treffende Garagerock/Pop-Punk-Chose. Flott, tanzbar und sehr gute Laune verbreitend.
Was mir an den Songs auf "Hablo raro" so richtig gefällt, ist der Fakt, dass es eine Punkplatte ist, der dieser typische, RAMONES-artige Punksound fehlt. Die Gitarre ist kaum verzerrt, auch dieser harte Downstroke-Anschlag ist nicht da und das macht alle neun Songs zu einer angenehm luftigen und rhythmisch sehr tanzbaren Angelegenheit. Manche werden das Lo-Fi nennen, und vielleicht ist es das auch, aber die Tatsache, das die Band sich für diese Art von Sound entschieden hat, hat wenig mit mangelndem Technik- oder Equipment-Ressourcen oder Know-How zu tun, sondern war sicher eine bewusste Entscheidung und das finde ich wiederum äußerst charmant.
Schon das Intro, in dem das Stimmen der Gitarrensaiten die Zuhörer*innen darauf vorbereitet, dass NUNOFYOURBEESWAX sich gerade darauf vorbereiten, den Soundtrack für eine Party, für deine Party also, abzuspielen: Ich bin der Meinung:"...das ist Spitze!" (Hans Rosenthal, 1982)
Und dann noch Don Fury! Ich hab's kaum geglaubt, gerade den in den "Hablo Raro"-Credits zu finden! Erstens wusste ich gar nicht, dass Fury noch als Produzent o.ä. aktiv ist, und zweitens hätte ich ihn sicher nicht als Mastering-Mensch für eine Garage-Punkband erwartet. Aber nun, der Name steht da auf dem Backcover und es wär schon schräg, wenn es ein komplett anderer Don Fury wäre, als die Hardcore-Produzentenlegende aus New York.
Wo gerade von Back- und Frontcover die Rede ist... Auch das Coverartwork von Johan Schreier ist wunderbar: Bunt wie ein 80er-Jahre-Teenage-Bubblegum-Comic, bissl an frühe Punkscheiben wie von THE MODERNETTES erinnernd und somit in sich auch sehr passend zur Musik.
Festzustellen bleibt: NUNFYOURBEESWAX haben hier eigentlich nur Hits ins Vinyl gepresst und wer nur ein bißchen was mit der Art von Rockmusik anfangen kann, die die Silbe Garage in sich trägt, sollte sich HABLO RARO geben - egal ob auf Spotify, Bandcamp oder im Plattenladen eures Vertrauens.
Gary Garage Flanell
HABLO RARO ist über die Bandcampseite von NUNOFYOURBEESWAX erhältlich.
P.S.: Beste Songs? "All I Know" - so ein richtiger Hüftschwinger mit geilem Gitarrenthema, das mich an einen südamerikanischen Garagerock-Kracher erinert, dessen Name mir aber partout nicht einfällt. Und zweitens: "Never will" - ein unglaublich süßes Stück Pop-Punk, es gibt nichts schöneres, um die B-Seite dieses Album zu beenden.
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Donnerstag, 13. März 2025
Die Renfield-Musiklehre Pt. I: Schön, wenn 200 Tonnen Eisen singen
Das Telharmonium
Hier ist noch einmal der steinalte Azubi. Diesmal erzähl ich Euch einen Schwank aus meiner Jugend, als sintemalen der erste elektrische Synthesizer gebaut wurde. Ein titanisches Unterfangen eines gewissen Thaddeus Cahill am Ende des vorvorigen Jahrhunderts. Mittels additiver Klangsynthese, die ein 200 Tonnen wiegender Apparillo bewerkstelligte: voilà das Telharmonium!
Und das keineswegs wegen Wilhelm Tell und seiner Harmonika, sondern weil dieser Visionär aus Iowa von Anbeginn vernetzt dachte. Nämlich neuartige Klänge an zahlende Abonnenten via Telefon zu versenden - sozusagen ein Prequel zu Spotify.
Doch schalten wir etwas zurück: 1895 reichte besagter Herr ein Patent ein, auf dem man vor allem zahnradartige Wellen und sogenannte Rheostat-Bürsten sieht. Das war dem Patentamt zu wenig, aber Cahill war zugleich Anwalt und klagte sich sozusagen ein. Sein Claim lautete: „Das Telharmonium erlaubt es dem Spieler den Nachklang einer Orgel mit der Ausdrucksstärke eines Pianos zu kombinieren, die musikalische Intensität einer Violine mit der Polyphonie einer Streichergruppe und das Timbre und die Kraft der Bläser mit dem tonalen Spektrum einer Orgel. Indem es die „Defekte“ dieser traditionellen Instrumente korrigiert, wird das überlegene Telharmonium diese obsolet machen.“
Gut gebrüllt, protoelektronischer Tonerzeugungstiger, er hatte nämlich Hermann Helmholtz‘ „Die Lehre von den Tonempfindungen“ gelesen, der 1862 publikumswirksam postulierte, dass alle Klänge der Welt aus einer Mischung aus (Sinus)-Grundschwingungen und Obertönen bestehen. Und so kam dann der kernige Cahill ins Spiel. Dank einer Fabrik in Hollyoke, Massachusetts, wo 50 Ingenieure, Mechaniker und Helfer eine ganz dickes Gespann diverser Dynamos zusammenschraubten zum Listenpreis von 200.000 Dollar.
Da sieht man dann einen jungen Stift neben einer enormen Walze mit jeweils in Dreier- bzw. Fünferschritten enger stehenden Zahnkränzen stehen, die mittels gewaltiger Motoren via Transmissionsriemen in Rotation versetzt wurden und dann an besagten Rheostat-Bürstchen vorbei sausten und somit anfangs recht „drahtige“ bzw. kratzige Klänge erzeugten. Sprich zu viel Rauschen, weswegen Cahill alsbald auf modulierbare magnetische Induktion umstieg. Um diese vor Erfindung von Röhren und Verstärkern hörbar zu machen, jagte er sagenhafte 15.000 Watt und bis zu 1 Ampere hindurch, während handelsübliche Telefone eher mit Nanoampere arbeiteten.
Denn verblüffender Weise machte er sich zu Lautsprechern wenig eigene Gedanken. Stattdessen montierte er riesige Schalltrichter vor herkömmliche Telefonhörer jener Zeit und kaschierte das Ganze gern mit Blumengestecken (das Auge hört mit). Die Dinger tröteten somit am Rand ihrer Belastungsgrenze, was dann auch AT&T dazu bewog, Dr, Cahill die weitere Telefonnetznutzung zu untersagen.
Aus Furcht sonst ganze Fernmeldeämter zum Glühen zu bringen. Und gewisse frühe Telefonkunden hatten sich bereits über irritierende Klangkaskaden beim Verbindungsaufbau beschwert, bzw. erlebten ihre akustische Begegnung der dritten Art. Daher ließ er nun einen verbesserten „Mk II“ über x-Waggons und zahllose Droschken an den Broadway in New York karren, in die sogenannte „Telharmonic Hall“. Dort bewundeten ergriffene Zuhörer zudem eine gewisse Lightshow dank Kohlebogenlampen, weil William Duddell zuvor entdeckt hatte, dass diese Lampen ein je nach Stromstärke variierendes Zischen oder Fauchen von sich gaben.
Durch bis zu vier Tastaturen, diverse Register, Fußpedale sowie einer Kupplung-ähnlichen Vorrichtung konnten ein bis zwei musikalische Operateure eine Vielzahl von Klängen generieren, indem das Signal von zwölf Tonhöhen-Wellen mit diversen Oberton-Wellen addiert wurde für ein Klangerlebnis über sechs Oktaven. Die Maschinerie musste natürlich durch schwere Zementdecken vom Auditorium getrennt sein, denn sie hatte die Anmutung einer Umspannstation, die Nebengeräusche eines Walzwerks und die Kraftaufnahme einer Aluminiumschmelze. Darum hat sich das auch nie wirklich durchgesetzt, und Dr. Cahill ging bankrott.
Doch die Hammond-Orgel ist die niedliche Minischwester des Telharmonium-Titanen. „Die jetzige Maschine passt am besten zu höheren Formen von Musik. Sie tut sich eher schwer mit dem Razzmatazz des rag-time, was vielleicht ein Vorteil ist.“, so schrieb ein gewisser Ray Baker 1903, aber da sollte er sich gewaltig irren! Der selbe weitschauender Journalist verkündete zudem, dass wahre Demokratie erst erreicht wäre durch erstklassige Kunst und Musik für Jedermann (das Patriarchat winkt, fürs Frauenwahlrecht musste die US-Damenwelt noch siebzehn weitere Jahre kämpfen).
Aber auch damit sollte er sich irren. Doch immerhin inspirierte das italienische Futuristen und Komponisten wie Edgar Varèse, der 1915 klägliche Überreste des Telharmoniums eher enttäuscht vorfand. Und was wünschte sich Frank Zappa von seinen Eltern zum 15. Geburtstag? Einen Anruf bei Edgar Varèse (was sie ihm gewährten)!
Bit Father Out
(Bild Wikipedia: Von User Chris 73 on en.wikipedia - [1], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1347777)
Donnerstag, 6. März 2025
Schön, wenn der Skit tritt Pt. III
ZWEILASTER - wieherd
Da wird man ja vor unbedarfter Naivität fast umgehauen. Und das durchaus positiv.
Es ist auch eine Art Charme-Offensive, mit der man als Hörer hier konfrontiert wird. So herrlich unbekümmert schrammeln sich ZWEILASTER auf ihrem inzwischen dritten Longplayer durch die Songs. Bedient wird sich da bei altem Punk Rock, New Wave, Pop und ordentlich Neuer Deutscher Welle.
Das Ergebnis erinnert mich historisch an BÄRCHEN & DIE MILCHBUBIES, zeitgenössisch an ACHT EIMER HÜHNERHERZEN. Doch irgendwie auch noch und doch mittendrin. Sensibel, zerbrechlich, nachdenklich, fernab aufgesetzter Rock-Attitüden kommen die dreizehn Songs auf „wieherd“ daher, genau wie die Texte, die eine gewisse Skurriltät nicht entbehren können.
Titel wie „Herbsttagsstimmungslieder“, „Frösche im Pool“ oder „Wir fahren in die Berge“ werfen Fragen auf, lassen einen aber nicht alleine. Man hat das Gefühl mit den beiden Stuttgarter*innen im Proberaum zu sitzen und ihnen beim Fertigstellen des Albums zuzuhören.
Denn irgendwie hat es auch etwas Unfertiges und somit auch Zerbrechliches an sich. Womit wir wieder beim Charme des Unperfekten wären. Doch was heißt das schon? Geh raus und mach dein Ding, war doch mal die Parole im Punk. Und das beherzigen ZWEILASTER sehr genau. Darin sind sie dann schon fast wieder perfekt. Oder vielmehr konsequent. Hört mal rein. Es gibt so manch originelle Idee zu entdecken.
Abel Gebhardt
Die LP wieherd von ZWEILASTER ist auf Tomatenplatten erschienen.
Donnerstag, 27. Februar 2025
Schön, wenn ich zu Musik tanze Pt. I
FOTOKILLER - Eeri Nostalgia
Ich tanze. Oh Universum, wie ich tanze! Es zuckt überall, jede Faser des Körpes will sich bewegen. Naja, fast. Aber ich tanze. Von der Küche ins Wohnzimmer ins Schlafzimmer. In die Küche. Mit links einen Schluck Kaffee aus der Tasse gesippt. Ich tanze immer noch. Der wievielte Song? Egal. Ich tanze.
Ich tanze, wie ich früher getanzt habe. Etwas ungelenk, die Arme ausgebreitet, etwas nach vorne gebeugt, zwei Schritte vor, zwei zurück (vgl. RobertA Blanca "Tanze Dark Wave mit mir"). Ich tanze wie früher.
Als uns der kleine orangefarbene Polo meiner Mutter (der mit dem Putzlappen im Tankloch, weil der Deckel irgendwie weg war) mich und einige Freund*innen ins Silmarillion nach Werne brachte. Silmarillion war so eine kleine, aber irgendwie alternativ gestaltete Kneipe in der nächstgelegenen westfälischen Kleinstadt. Die Besitzer offensichtlich Tolkienfans. Da war einmal in der Woche Wave-Abend. Und da wurde getanzt zu allerlei: JOY DIVISION, PINK TURNS BLUE, NEW MODEL ARMY, SISTERS OF MERCY. Sowas halt.
An diese Wave-Abende im Simarillion denke ich, als hier in meinem Ostberliner Plattenbau die FOTOKILLER-Platte läuft. Mich befällt dabei die Erinnerung an etwas unbeschwertere Zeiten. Ich nenne es Nostalgie. Nostalgie finde ich immer ein bißchen unheimlich und mag sie wegen der darin enthalteten Abkehr vor der Lebensrealität nicht. Man flüchtet ja in Nostalgie. So wird es gesagt. Flucht davor, sich aktuellen Problemlagen zu stellen, find ich nicht so geil. Das ist mir unheimlich, schaurig, finde ich mindestens doof. So gesehen hat diese Berliner Band mit dem Titel ihres neuen Albums zumindest bei mir den richtigen Nerv getroffen.
Dabei kann man schon sagen, dass FOTOKILLER mit ihrer Musik schon Sounds nutzen, die eine gewisse Nostalgie fördern. Erinnerungen an eine Zeit, in der die gesellschaftliche Lage eher trist und langweilig war und man gut auf einer mit Kunstnebel bedeckten Tanzfläche verträumt davon schweben konnte.
Es ist also anzunehmen, dass FOTOKILLER recht genau wissen, dass vieles an ihrem Sound sehr an die subjektiv selig wahrgenommenen Goldenen Tage des New bis Dark Wave anknüpft, diese eventuell auch miterlebt haben und diese Nostalgie - weil "eerie" im Album Titel - zuweilen auch als beunruhigend erleben. Davon ab gesehen, haben sie auf "Eerie Nostaglia" einige Hits für die nie endende Discotheque mélancholique. "Stop the world" ist so toll, da möchte man in den Armen eines Seelenpartners sterben
Nun schauen wir wissend drein und können einordnen: Dieses Post-Punk-Wave-Neblige auf "Eerie Nostalgia" passt sehr gut in jede Indie/Wave-Disco. Auf Berlin bezogen, wohl sehr gut in den Duncker. Das klingt jetzt so, als wäre diese Musik hoffnungslos in den 80ern klebengeblieben. So ist es aber nicht. Eher so, als hätten FOTOKILLER die Einflüße der 80er in die 2020er hinüber geholt. Es gibt hier einige Referenzen zu so called Indie-Ikonen. THE CURE, die frühen, fallen mir da als erstes ein, JOY DIVISION auch. Dann THE CHAMELEONS oder auch seltsamerweise EA80, so manche einfache Gitarrenfigur (Control) hätte auch von denen sein können. Der Bass, so dünn und schlicht wie eine zweite Gitarre, treibt alles sehr klar nach vorn, die Rhythmen mit dieser hektischen Hihats haben auch so einen fiebrigen 80er-Post-Punk-Sound.
Darüber mändert dann geisterhaft die Stimmme der Sängerin/Gitarristin Sofy, oft verträumt, fast schon abwesend. Also schon wie im Kunstnebel verschwindend. Solche Sounds kommen mir nicht allzuoft unter, vielleicht gefällt mir dieser gespentische Widerhall an Zeiten, in denen das spannend war, ganz gut.
Andererseits gibt es genug aktuelle Bands, die ich mir gemeinsam mit FOTOKILLER auf einem Gig oder in einer Playlist vorstellen kann. Manche wie z.B. LEBANON HANOVER reisen damit ziemlich gut durch die Welt. Oder PLOHO aus Sibirien, die vor gar nicht langer Zeit die Neue Zukunft vollgemacht haben. Wobei FOTOKILLER im direkten Vergleich etwas gitarrenlastiger sind, die Synthies nicht ganz so präsent, somit einen fast schon Garage-artigen Touch haben. Garage-Wave? Gibt's das eigentlich? Dann wohl jetzt. Am ehesten fallen mir BELGRADO aus Spanien als direkte Nebelnachbarn ein, wobei die etwas mehr zum Experiment neigen.
Soviel zu Referenzen und Soundverwandtschaften, ihr wisst, wie dieses Album einzuordnen ist. Das kann man retro nennen und einen verschmitzten Retro-Hang würden FOTOKILLER auf Anfrage wohl nicht verleugnen. Das erkennt man auch gut an dem kleinen "Stereo"-Zeichen auf dem Frontcover der Platte. Den Hinweis braucht heute kein Mensch mehr, ist aber charmant. Als wäre die Platte nur auf Omas Phonoschrank optimal abspielbar, großartig. Jetzt müsste man noch eine Oma haben, die noch einen Phonoschrank hat und nicht nur einen seelenlosen Spotify-Premium-Account.
Überraschend ist "Eerie Nostalgia" nicht, dafür wohltuend wiedererkennbar und in seiner Entrücktheit tröstend. Aber das ist ja die Haupteigenschaft von Nostalgie und in diesem Kontext gefällt sie mir gut. Gäbe es eine Silmarillion-Revival-Party, ich würde hinfahren, und hoffen, dass der/die DJ* was von FOTOKILLER spielt. Und tanzen.
Gary Flanell
"Eerie Nostalgia" von FOTOKILLER ist auf It's Eleven Records erschienen.
Noch was zum Cover: Das sieht hübsch abstrakt aus, und ich freue mich, dass dabei alle DarkWave-Grafik-Klischees gekonnt vermieden wurden. Verrät nicht zviel über den Sound oder das Genre und ist allein deshalb schon super. Was dort genau zu sehen ist - ich habe keine Ahnung.
Und noch was: Ich habe versucht, mir vorzustellen, was ein Fotokiller ist. Habe keine zufriedenstellende Erklärung gefunden. Wer die schönste und fantasievollste Erklärung für den Namen hat, schicke sie ausreichend frankiert per E-Mail an renfield-fanzine@hotmail.de.
Vielleicht gibt es einen Preis.
Wer weiß...
Donnerstag, 20. Februar 2025
Lee(h)ren aus der Magengrube Pt. IXI
STRZAL W KOLANO - s/t
Selbst der rundeste Kreis besteht aus einer Ansammlung vieler Ecken. Perfektion ist eine Illusion und womöglich wurzelt unsere Verstörung ob arger Irritationen in dem innigen Wunsch, einer lullenden Apotheose anheim zu fallen, die Halt zumindest suggeriert.
Jakub Majchrzak, einst Mitglied des polnischen, experimentierfreudigen und genreoffenen Kraut-Post-Punk-Whatever-Trios The Kurws, soliert mit Strzal w kolano seit 2017 kakophon-verstörend und entkleidet allen Makel bar seiner Losigkeit. Los, Los, Lösung – immer weiter bis zur Vollkommenheit, doch nö und nein, wir leben in einem Moloch vieler Fehler, das darf man alldieweil wahrhaben. Und darum hören wir das!
Autoaggressiv, wer dies tut, denn Strzal w kolano heißt nichts weniger als Schuss ins Knie. Stolpern, humpeln, daniederliegen, das ist die Folge, eine Abfolge ungerader Rhythmen. Solo. Nur mit Gitarre. Zweifach abgenommen via Verstärker nebst Piezo-Mikrophon an der gleichgültigen Klampfe. Irgendwo dazwischen ist alles. Und das Nichts. Strukturen gegeben und wieder genommen – ein Hin und Her. Wie das klingt? Wie die Erde, die nicht kugel-, sondern kartoffelrund halt ist.
Beginnend mit nur einer Gitarrensaite, monoton akzelerierend wie ein rumpelnd-ovales Motorgetriebe einer unwilligen Nähmaschine bis zur zweiten Saite ab 1:25, die sich schnippisch dazugesellt, unrund bis zum dritten Ton bei 2:37, mal synchron, dann wieder nicht, ein Kommen und Gehen, Gruß und Abschied, Achtung hochtönende Variation ab 3:15! Tieftönend bei 3:40! 4:09 hätte Schluss sein können, 4:39 ebenso, doch dann stählernes Rauschen, seit 5:14 wie eine sphärische Doku über eine indische Schneiderei, kühne Arpeggio-Soli zur sechsten Minute, in der siebenten hat das Schwungrad Höhen- und Seiten-Acht!
><>>< die Naht vertorkelt ><<><
zu viel Mangoschnaps mit Bombay Gin! Der Motor klopft. Saitendresche in der achten. Harte Anschläge in der neunten und jäh: zaghaft, lieblich, experimentierend tastend, auf die Kotze schauend und darob nachwürgend. Kotze eklig, 11:30 – ist das Besinnungsklimpern? Stahl erdröhnt kephalgisch. Magensaft am Rachenzipfel. Scheiße, wen interessiert, ob ein Kreis wirklich rund ist…?!? Das war der erste Titel…
…und im zweiten wird das das Sujet Speibe fortgesetzt. Die Gitarre taumelt kühlen Brechsaft empor, den man aber gleich wieder runterwürgt. Dann Zweifel: Kotze ja? Kotze nein? Man kennt das ja… Was nun? Das Zupfbrett repetiert wie eine Schallplatte mit Sprung. Ein klassischer Hänger. Insgesamt alles melodischer hier (was es ja nur sein kann) und auch fröhlicher. Das Zaghafte kommt diesmal schon nach dreieinhalb Minuten; eine Prise Pitch untermalt die Trunkenheit. Fast schon perkussives Tätscheln in Hall gehüllt – klingt wieder irgendwie indisch. Gen Ende formiert sich die Suppe im Magen zum Klotz, der scheppernd anklopft – vielleicht doch besser kacken!
Und nun noch der Dritte: Ein klimperködernder Schellenring am Fuß verheißt Rhythmus total! Immerhin: Es wird ein enervierender Marsch eines manisch-boshaft grinsenden Jägers im Wahn, grundlos nach Beute suchend. (RUHE!) …aufmerksames Spähen… … …nichts. Forsches Weitermarschieren. Der Fuß wippt. Endlich mal ein halbwegs verlässlicher Takt. Wir brauchen Struktur! Ersterbende Gitarrenschreie. Halt! Erratisch-argwöhnendes Saitenschwingen… … Weiter im Gleichschritt… …und obwohl dieser Track recht rund daherkommt, ist er genau das wieder nicht. Ständige Unterbrechungen irritieren. Man weiß ohnehin nicht, warum es irgendwohin geht. Na ja, nach etwas mehr als sechs Minuten jedenfalls wird der beutegierige Marsch resigniert aufgegeben.
Krank! Und menschlich darum, nachgerade gesund in aller ontologischen Ehrlichkeit. Jakub Majchrzak vertont mit Strzal w kolano nichts weniger als den Umgang mit dem Unbeständigen in der Sehnsucht nach Verlässlichkeit. Allzeit modern also oder um es mit der Lehre aus Luhmanns Weltverständnis auszudrücken: Wir brauchen eine konsistente Beschreibung einer inkonsistenten Gesellschaft. Warum ist das reizvoll? Weil es dem entspricht, was wir stets scheiternd versuchen: Kommunikation.
Noise, Krampf und Getön, das ist interessante und interessierende Kommunikation im Prozess, Anschlüsse für nicht eindeutig aufeinander abbildbare und nicht endgültig harmonische Perspektiven zu finden. Reden hilft und auch nicht, ist problemlösend wiewohl auch problematisch. Verstehst Du das? Verstehst Du das? Ob Du das verstehst, Menschenskind?!? Die Diskrepanz zwischen den Bezugsproblemen und ihren „Lösungen“ ist der Kern der Kommunikation als solcher, denn ohne sie gäbe es gar keinen Anlass zu kommunizieren. Es gibt kein Entrinnen aus der höchsteigenen Spreche! Darum hilft einzig, Perspektiven in ihrer nimmer endenden Diversität zu beschreiben. Wer das anzweifelt, ist schon mal nicht politisch korrekt und darum muss das irgendwie auch richtig sein.
Majchrzak hat alles richtig gemacht im Falschen. Drei dummschlaue Titel mit merkwürdigen Namen. Allein die Veröffentlichung auf dem Label Pointless Geometry… Teufel, gerade Matheleerer würden hier parallel auf der Strecke bleiben!
Tja, der Jakob mag seine Klänge womöglich anders deuten, aber das versteht doch eh keiner außer er, wenn überhaupt. Ich gestehe offen und ehrlich, beim ersten Mal Hören fand ich das Werk absurd-bescheuert, doch wer öfters wagt – es ist einfach nur geil!
Gustav Roland Reudengeutz
Das selbstbetitelte Album von STRZAL W KOLANO ist als Tape und digital auf Pointless Geometry erschienen.
Donnerstag, 13. Februar 2025
Schön, wenn‘s schträäzt z Züri - Heute Cumbia, morgen Hunger!
ROLANDO BRUNO - LIVE IN EL LOKAL ZURICH
Bekanntlich haben die Peruaner den Punk erfunden (Ungläubige checken mal Los Saicos). Und die dortige Cumbia chicha war auch für den sympathischen Schnauz namens Rafael Bruno die Initialzündung „seine spezielle Sauce“ anzurühren, „die ihn von allen unterscheidet, so sagt man in Berlin, Köln und Madrid“ – nachzuhören im Song Falafel King vor einer psychedelischen Halbtempopassage.
Töte für 'ne Cumbia auf vermüllten Feten voller Amazonas-Havarien mit Ramón dem Hexerlein! Ja, allerdings im Sinne eines curandero, des traditionellen (indigenen) Heilers, der gern Fotos entgegen nimmt, um vor Neid und bösen Blicken zu schützen. Denn die gibt es gestern-heute-morgen im Dutzend billiger.
Wovon faselt der Loco, hat das ehrwürdige Renfield etwa wieder diesen fragwürdigen Zausel rangelassen? Absolut, diesmal geht es um einen verdienten Traktoristen auf dem unübersehlichen Acker der „Weltmusik“. In den 70er Jahren, als es noch freilaufende Linke gab, hatte Lateinamerika Leitwert in Sachen Literatur und Musik, doch die USA, dieser eifersüchtige Truthahn, wollten natürlich nie und nimmer ihre kulturelle Hegemonie hergeben.
Deshalb hören wir auf „Live in El Lokal Zürich 2024“ auch eine Version von „Sympathy for the devil“ alias simpatía por el demonio. Damit hat Südamerika und Argentinien im Besonderen eine Menge Erfahrung (ich sage nur Militärjunta + die Aufbewahrung von Evitas lobotomisierten und einbalsamierten Körper im Wandschrank eines Oberst).
Szenenwechsel: In Riberalta (Bolivien) begegnete mir mal eine schneeweiße Kuh. Sie schritt nächtens völlig selbsttätig zum Markt, um aus dem dortigen Müllhaufen die Leckerlis zu picken, derweil sie von kreischenden Kindern mit Müll beworfen wurde. Sie war somit die nährende Leinwand für junge Wilde - wenn das kein Symbol war!
Und sind wir schon bei wilde chueh, fallen wir direkt nach Züri ein, denn die zahlen zumindest vernünftige Gagen – in Berlin bekam man ja immer nix. Höchstens teilnahmslose Zuschauer, die eine Bierpulle im Schoß schaukeln (bzw. an der Brust, weil es meist auch keine Stühle gab). Und da erleben wir Ska-Anflüge, wie bei Conhaque, diverse Orientalismen samt Melismatik, und im Intro von cosas raras kommt Brunos Band in die Nähe von Math-Rock – jedenfalls was ich darunter verstehe. Umso eindrücklicher dies live abzufeuern.
Die Beatles waren von ihren Live-Auftritten indes dermaßen erschüttert (im negativen Sinne*), dass sie in eine Sinnkrise stürzten, aus der sie erst Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band katapultierte. Nach einer Idee, die McCartney beim Überfliegen des Kilimanjaro kam. Sprich eine Band, die andere Bands emuliert, um sich selbst nicht schämen zu müssen. Und wäre es jetzt zu viel gesagt, wenn Rolando Brunos eher dünnwandige Stimme dank Mash-up-Metamorphosen Metastasen bildet – sozusagen durch eine chinesische Supermarktbrille gesehen?
Was, Metastasen? Ja, aber ein fideler Krebs mit weltweit zuckenden Scheren, denn Cumbia ist die lingua franca für Panlatino-Powerpop-Psychedelica.
Zum Abschluss kullern zwei bedrocks der Latino-Globalisierung: El Eléctrico (von Los Destellos) und Lambada. Letztere war weiland sogar in den Rückwärtsgang ägyptischer Autos eingebaut - und verstörte mich 1990 in Alexandria. Wo ich mich fragte, mit wie wenig Bit lässt sich eigentlich Musik machen? Ja, die rundhüftige kolumbianische Cumbia hatte durch argentinische Interventionen zeitweise auch ein fies fiepsendes Gewand bekommen.
Aber Bruno und seine Band achen dies mit euphorischem Eklektizismus weg. Ein Shopping-Raubzug durch alle Regale und Register, denn bereits die Lambada ist eine französische Charts-Abstaubung des bolivianischen Panflöten-Klassikers namens Llorando se fue von Los Kjarkas. Schaut‘s Euch mal auf Youtube an, da könnt Ihr noch was über internationale Verwertungszyklen lernen.
Aber weshalb bitte live?
Tja, im Zeitalter immanenter KI-Dominanz könnte das eine niedlich humanoide Nische bilden – bis Algorithmen Dir jedes Publikum der Welt herbei generieren. Da hilft dann nur der curandero mit seinen hierbitas (Kräuterlein), denn sobald Computer rauchen, geben sie den Geist auf (den sie bislang nie hatten, nur emulieren).
Heute Cumbia, morgen Hunger. Das mag als düstere Prophezeiung erscheinen, kann aber gern auch Hunger nach mehr Cumbia bedeuten. In diesem Sinne, no hay que buscar cinco patas al gato, sino sigue cumbiando (Du musst nicht fünf Pfoten bei der Katze suchen, sondern kaschigger einfach weiter zur Cumbia).
Bit Father Out
*Jetzt fängt der schon mit Fußnoten an! Ich beziehe mich aber auf ihre Japan-Tournee, bei der das mäuschenstille Publikum ihre tonalen Schwächen offenbarte, während sie sonst stets mit Rängen voller tobsüchtiger Teenager konfrontiert waren.
Das komplette Latino-Cumbia-Trash-Feuerwerk "Live in El Lokal Zürich" kann übrigens auf Rolando Brunos Bandcamp-Seite und gehört werden.
Donnerstag, 6. Februar 2025
Schön, wenn die Sinnsuche in den Weltraum führt Pt. I
NESSYM - JIHAD SPACE PROGRAMM
Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen dass „Jihad“ kein Aufruf zu religiöser Gewalt sein muss, sondern im Islam auch eine persönliche spirituelle Sinnsuche bezeichnen kann.
Ganz in diesem Sinne hat der Produzent und Labeltmitbetreiber (Shouka) Nessym sein Album konzipiert, als Sun-Ra-mäßigen spielerisch-utopischen Gegenentwurf zur politischen Gegenwart.
Sein „Jihad Space Program“ ist ein musikalischer 360°-Blick über den Tellerrand und klingt zu Beginn wie der Twin-Peaks-Soundtrack. Auch wenn später Jazz in den Mix geworfen wird, erinnert er oft an die Schwarze Hütte oder vielleicht das One Eyed Jacks, nachdem eine arabische Familie die Bewirtschaftung übernommen hat.
Die Titel raunen von handgebastelten Satelliten und der Arbeit von Schamanen, und die Musik switcht dazu frei assoziierend einher zwischen meditativen Stimmungen, mediterraner Mikrotonalität und potenziell Trance-induzierenden Rhythmen, die aber ganz fix in etwas Nächstes umschlagen können.
Die Beats sind schon mal deswegen bemerkenswert, weil sie größtenteils auf echten Schlagwerk-Samples basieren, was der ganzen Reise eine gewisse Geschmeidigkeit und innere Ruhe gibt – wie das so ist, wenn mal keine fette Bassdrum mitläuft.
Auch wenn Nessym von den Produktionsmitteln her hörbar von der Tanzmusik kommt, ist sein Raumfahrtprogramm kein Dance-Album, eher eine Art Trip im Stil von Percussion-Assen wie Badawi und Azu Tiwaline, frühen Ninja-Tune-Sachen, dem (ungleich wütenderen) Sample-Collagisten 2/5 BZ oder auch – bisschen Nepotismus muss sein - dem ewigen Kreuzberger Geheimtipp T.I. Dong Cat.
Sun Ra Bullock
Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen dass „Jihad“ kein Aufruf zu religiöser Gewalt sein muss, sondern im Islam auch eine persönliche spirituelle Sinnsuche bezeichnen kann.
Ganz in diesem Sinne hat der Produzent und Labeltmitbetreiber (Shouka) Nessym sein Album konzipiert, als Sun-Ra-mäßigen spielerisch-utopischen Gegenentwurf zur politischen Gegenwart.
Sein „Jihad Space Program“ ist ein musikalischer 360°-Blick über den Tellerrand und klingt zu Beginn wie der Twin-Peaks-Soundtrack. Auch wenn später Jazz in den Mix geworfen wird, erinnert er oft an die Schwarze Hütte oder vielleicht das One Eyed Jacks, nachdem eine arabische Familie die Bewirtschaftung übernommen hat.
Die Titel raunen von handgebastelten Satelliten und der Arbeit von Schamanen, und die Musik switcht dazu frei assoziierend einher zwischen meditativen Stimmungen, mediterraner Mikrotonalität und potenziell Trance-induzierenden Rhythmen, die aber ganz fix in etwas Nächstes umschlagen können.
Die Beats sind schon mal deswegen bemerkenswert, weil sie größtenteils auf echten Schlagwerk-Samples basieren, was der ganzen Reise eine gewisse Geschmeidigkeit und innere Ruhe gibt – wie das so ist, wenn mal keine fette Bassdrum mitläuft.
Auch wenn Nessym von den Produktionsmitteln her hörbar von der Tanzmusik kommt, ist sein Raumfahrtprogramm kein Dance-Album, eher eine Art Trip im Stil von Percussion-Assen wie Badawi und Azu Tiwaline, frühen Ninja-Tune-Sachen, dem (ungleich wütenderen) Sample-Collagisten 2/5 BZ oder auch – bisschen Nepotismus muss sein - dem ewigen Kreuzberger Geheimtipp T.I. Dong Cat.
Sun Ra Bullock
Donnerstag, 30. Januar 2025
Schön, wenn alte Männer noch Musik machen Pt. MMMMXXXXIIIIXMMMXXII
OLD MEN GROUP - OMG! It’s… THE OLD MEN GROUP
Was für ein Titel. Das schlägt direkt in die Magengrube. So bringt man sprachlich jung und alt zusammen. Generationsübergreifende Musik also? Vielleicht. Doch schauen wir uns die Old Man Group doch erstmal etwas genauer an. Der Name ist da schon Programm.
Denn young und fresh sind die drei Herren jetzt nicht mehr so ganz. Hatte doch Frontmann und Mastermind Klaus Cornfield schon vor runde zweihundert Jahren mit Throw That Beat In The Garbagecan internationalen Erfolg, bevor es mit Katze weiterging. Der Rest ist Geschichte. So far.
Doch nun gibt es seit ein paar Jahren eben besagte Old Men Group, die bereits zahlreiche Berliner Bühnen unsicher machte und auch mich bei einem auftritt im Neuköllner Posh Teckel hellauf begeistern konnte. Es hat dann etwas gedauert, aber endlich ist auch ihr erster Longplayer erschienen, der mir hier jetzt als CD vorliegt.
Zwölf Indie-Pop-Kleinode, die ordentlich nach Garage, Rock’n’Roll und Beat riechen. Lo-Fi mit Charme. Das kennt man von Klaus Cornfield. Und so ist auch drin, was drauf steht. Hier wird quer durch die Rock-Geschichte zitiert und geklaut, dass es eine wahre Freude ist. Hier die Troggs, da die Who und so geht es weiter. Die Platte macht unheimlich viel Spaß, fast so viel wie die Konzerte der Band.
Abel Gebhardt
Das Album mit dem Oh my God-Titel der Old Men Group gibt's hier auf ihrer Bandcamp-Seite.
Donnerstag, 23. Januar 2025
Ambivalentes Gefühlskino der Bafög-Bohéme
Die Regierung: Unten
„Natalie sagt“, „Charlotte“, „Corinna“ oder „Nicole“: Tilmann Rossmys Vorliebe für Frauennamen als oder in Songtitel(n) ist kennzeichnend für das Album „Unten“ seiner Band „Die Regierung“. Er teilt sie mit seinem Einflüsterer Leonard Cohen, der Lieben und Liebschaften in „So Long, Marianne“ oder „Suzanne“ ebenfalls titelgebend in Songportäts verewigte.
Wem Corinna und Natalie und bekannt vorkommen: Bingo! Schon 1994 sorgte die aus Essen an die Elbe emigrierte Popband mit dieser Scheibe auf L'age d'or für Furore. Ein Jahr später löste sie sich auf, ehe sie später in neuer Besetzung wieder loslegte. Trotz des Aufwinds der sogenannten Hamburger Schule blieb der Gruppe Anfang der Neunziger der kommerzielle Erfolg weitgehend versagt. Aber sie avancierte zum Kritiker-Liebling, wie sich Sänger, Texter und Gitarrist Tilman Rossmy im Booklet-Interview mit Carsten Friedrichs zur Neu-Auflage erinnert. Zum 30-jährigen „Unten“-Jubiläum hat Tapete Records das Album Ende letzten Jahres als LP, auf CD und online veröffentlicht.
Zu hören ist zeitlos guter Poprock zum Zuhören und Abgehen. Weniger sperrig als die damaligen Hamburger Szene-Kollegas von „Kolossale Jugend“, „Blumfeld“ oder „Cpt. Kirk &.“, stand „Die Regierung“ für eingängigere Melodien mit Ohrwurm-Potenzial. Songwriterorientierter schon eher im musikalischen Atemzug mit Tom Liwa oder Bernd Begemann unterwegs, mit prägnanten Gitarren und dem Piano von Thies Mynther als tragender Extrasäule. Auf „Unten“ ist das Eingängige nie eintönig, top und dynamisch arrangiert, dabei immer wieder überraschend. Produziert haben das Herman Herman (Lassie Singers) und Chris von Rautenkranz.
Tilman Rossmy singt seine selbstreflexiven, kitsch- und ironiefreien Texte über Gemütszustände und Beziehungsgeflechte unaufgeregt, beiläufig bis schnodderig und mit Blick für Details, wenn er alltägliche Widersprüche, schöne wie seltsame Augenblicke, im Songformat festhält. Immer im Wissen, dass das alles schnell vorbei sein kann. Die Songtexte über diffuse, festgefahrene Beziehungskisten offenbaren auch Eingeständnisse von Ratlosigkeit: Die singende „Ich“-Figur schont sich nicht. Wo sie gerne anders wäre, bezichtigt sich als einer von vielen, „Ein Idiot mehr“. Ein Rausch, die Leere und die Einsicht.
Neben Unsicherheiten und ungeklärten Beziehungen spiegelt sich in den Texten aber auch das Abenteuer der Großstadt, mit der Lust, Neues zu entdecken – Anfang der Neunziger war das noch machbar, ohne viel Verantwortung und Geld, wie Rossmy im Booklet-Interview über seinen Lifestyle verrät: „Diese vier Jahre in Hamburg waren wie ein Traum. Irgendwie was es damals möglich, mit 800 Euro Bafög, täglich zwischen 17 und 5 Uhr zwischen 'Sorgenbrecher', 'Casper's Ballroom', 'Tempelhof' und 'Pudel' ein zünftiges Bohéme-Leben zu führen. Hatte schon was.“
Stonebridge
"Unten" von Die Regierung (erstmals 1994 auf L'age d'dor. Oder Lado) wurde wiederveröffentlicht auf Tapete Records
Donnerstag, 16. Januar 2025
Schön, wenn Kuduro Gamelan kickt! Pt. I
CEMENTO ATLANTICO – Dromomania
Für die Leser diese Fanzines mag das befremdlich klingen (für 98% der Menschheit, die dies nicht lesen, jedoch ganz normal): Ich habe noch nie ein geschriebenes Wort über Musik verloren!
Meine Gehirnareale scheinen dafür bislang nicht vernetzt, denn ich deklamiere nicht beim Lesen wie mittelalterliche Skribenten oder erblicke gar geometrische Figuren wie Bach beim Musizieren.
Nun, das muss man ja auch nicht, murmelt der irritierte Leser, ein Abspielgerät genügt. Herrje, wurde hier etwa der allersimpelste Azubi drangesetzt? Ich aber rufe: Sagt dies nicht, denn wenn Ihr wüsstet, wie alt ich bin, Ihr würdet Euch schämen!
Daher beginne ich mit meinem Zeitgenossen Debussy - wie er, nachdem er ein javanisches Gamelan-Orchester in Paris erlebte - nicht mehr komponieren konnte wie zuvor. Die europäische Leitfrequenz verschob sich von streicherhaften Höhenzügen in wesentlich subterranere und polyphonere Gefilde, die der geneigte oder spektakulär ungeneignte Hörer bis da bloß als Geräusch wahrnahm. Weswegen es bei Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ weiland zu Tumulten kam.
So was werden wir wohl kaum wieder erleben, aber „Weltmusik“ hatte lange Zeit gleichfalls mit vehementen Vorbehalten zu kämpfen – oder wurde von findigen Plattenproduzenten in eine Batik- Dudelecke gepresst. Doch die Globalisierung läuft seit X Jahrhunderten, mindestens seit der Vereenigde Oostindische Compagnie (als schlechtes Beispiel) oder Zheng He mit seiner Schatzflotte (wurde eingeäschert), warum sollte man da nicht endlich mal ein passendes musikalisches Gewand schneidern? Die Schätze einsammeln wie einst Zheng He?
Und da haben wir nun diesen italienischen Kühnen, namens Alessandro Zoffoli alias Cemento Atlantico aus Cesenatico!
Und was steckt schon alles in diesem Namen! Das „opus caementitium“, der Proto-Beton des Römischen Reichs sowie der Name eines legendären Clubs in Buenos Aires (wo ich mal Silvester 1992 weilte – doch das würde den Rahmen hier völlig sprengen). Cesenatico hat einen von Leonardo da Vinci höchstselbst entworfenen Hafen und für zwei Jahre das höchste Haus Italiens (1958-60). 35 Stockwerke Stahlbeton im razzionalismo italiano – da liegt die Latte hoch.
Aber wo liegt dieses Cesenatico? Aha, an der Adria, südlich von Ravenna und nur ein paar Steinwürfe von San Marino! Ha, die älteste Republik der Welt - und so erklingen in Zoffolis Zweitwerk polyrhythmisch und ganz gleichberechtigt Dhol- und Tabla-artige Drums, Arpeggio- Bässe, Marimbas, spanische Poesie, Flamenco-Gitarren sowie Field-Recordings. Sehr viele Field- Recordings, die ein Dickicht aus Denotaten bilden. Das musste ich jetzt einfach mal schreiben - aber es gibt gar ein Neruda-Gedicht in den Dialekt der Romagna übersetzt: „Es blieben nur Knochen, rigide sortiert, in Kreuzesform“ (Vienen por las Islas, Neruda).
„Eine Welt, in die viele Welten passen, fragend wandern wir“ (Zitat Zapatistas). Vereint von der digitalen Audio-Werkstation, wie der Deutsche sagt. Und sind das Sarangi- Streicher? Nein, Esraj, jeenfalls allenthalben „a strange mixture of east and west“ wie sogleich der erste Song im voice- over feststellt. Ich höre Kuduro, denke an Burial und empfange Flamenco-Vibes – nicht alles im selben Song, sondern im Verlauf der acht, die zur Hälfte spanische Namen tragen.
Danza Negra ist für mich das atmosphärisch dichteste Stück, aber verheddern wir uns nicht in Details, die sich jederzeit ändern können. „You will feel at home here“ (Zitat aus Garawek Khaos)!
Schließen wir deshalb mit dem brieflichen Ausruf Debussys: „Ah, mein Freund, erinnere Dich der javanischen Musik, die alle Nuancen enthielt, selbst solche, die man nicht benennen kann, bei der Tonika und Dominante nichts weiter sind als nutzlose Hirngespinste zum Gebrauch für Weinekinder, die noch nichts begreifen!“
Wundert Euch ebenfalls nicht, anfangs hörte ich beim Verfassen „The Book of Taliesyn“ von den frühen Deep Purple - das erklärt einiges + die Verfremdung (sowie den Klassik-Approach) - sondern schnappt Euch Eure Boombox und nehmt DROMOMANIA hinaus in die Lande!
Bit Father Out
Das komplette Dromomania-Album von Cemento Atlantico ist auf Vinyl & CD sowie digital hier über die C.A.-Bandcamp-Seite zu kriegen.
Donnerstag, 9. Januar 2025
Schön, wenn Nintendo-Core noch ballert Pt. IXI
KEM TRAIL - ACHT COLA ACHT BIT / SACHBESCHÄDIGUNG
Neues Jahr, guten Tag. Dann mal los und weitergemacht...
Zwei Fragen gehen mir beim Hören dieser Platte durch den Kopf:
1. Was war eigentlich mein Lieblingsspiel auf dem C64?
2. Was haben 8bit-Sounds und Thomas Gottschalk gemeinsam?
1. Das ist leicht zu beantworten: Ganz klar THE GREAT GIANA SISTERS. War eh mehr so der Jump'n'Run-Typ. Niedliche Pixelfiguren, denen die Haare explodieren, wenn sie mit dem Kopf einen Backstein zerbröseln war voll meins. So Tüfteladventure wie MANIAC MANSION eher nicht so. Dann lieber BUBBLE BOBBLE und ehm, dieses Spiel, bei dem man in Windeseile Roboterschaltkreise miteinander verknüpfen musste. Name leider vergessen.
2. Die Gemeinsamkeiten von dem "Berufsjugendlichen der Nation" (Spiegel Online) und dieser Art der Musik? Wahrscheinlich die Tatsache, dass sie zu ihrer Hochzeit in den 80ern ganz unterhaltsam waren. Auch, weil es wenig anderes gab, was in Reichweite war.
In Bezug auf das würdevolle Altern haben die 8Bit-Sounds dagegen ganz klar die Nase vorn. Der Humor von "Tommy" (HÖRZU) Gottschalk befindet sich mehr so auf dem Niveau einer Gurke, die du Anfang des Jahres gekauft und seitdem hinten im Kühlschrank vergessen hast.
Der kleinste gemeinsame Nenner ist wohl, dass Gottschalk und 8bit nunmal popkulturelle Phänomene der 80er waren und nun, ca. 40 Jahre später, bei beiden ein gewisser Alterungsprozess nicht aufzuhalten ist. Der allerdings mal so und mal so ausfällt.
Dieses 8bit-Gedöns, Sound und Bild, hat immer noch Charme, zugegeben einen recht nerdigen, aber immer noch Charme. Und die Leute, die damit Musik machen, wissen, dass sie sich hier mit einem Retrophänomen beschäftigen. Bei Gottschalk und seinem Altherren-Witz-Ich-fass-Leute-einfach-mal-an-Habitus bin ich mir nicht so sicher.
So gesehen passen 8bit-Sounds und rebellische Subkultur super zusammen: Hier kann sich Punk noch einmal als Außenseiter-Genre inszenieren, und gleichzeitig auch anschlußfähig für Leute aus linken Kontexten sein, die am Sonntag Morgen ins Sisiphos gehen, dementsprechend halt mehr so Elektro hören und drögen konventionellen GitarreBassSchlagzeug-Punk als etwas aus der Zeit gefallen bewerten.
KEM TRAIL, 8bit-Einzelkämpfer aus Hamburg, hat auf diesem Album zwei Veröffentlichungen zuammengemerged. ACHT COLA ACHT BIT ist als Tape schon 2022 rausgekommen, SACHBESCHÄDIGUNG wurde im letzten Jahr aufgenommen (Ha, jetzt müsst ihr nochmal alle rechnen, welches Jahr denn nun gemeint ist) - und nun gibt's das alles auf einer Platte.
Die ist in ihrer Gesamtheit sehr schick geworden, auch das Cover bringt beide Einflüße - Punk hier, old school Klötzchengrafik da, gut zusammen: Ein pixeliger Roboter zieht - die Faust erhoben - eine Schneise der Zerstörung durch eine Stadt, alles natürlich schick in Schwarz-Roter Optik. Opa Transformer beim Straßenkampf, ich will ein T-Shirt. Wann gibt's das Spiel im Emulator dazu?
Musikalisch ist die Platte ziemlich genau ein Mix aus seligen Electro-Sounds der Brotkisten-Ära und Texten, die typische Deutschpunkthemen abscannen: Hier was gegen Bullen, da was übers Saufen, apokalyptische Endzeitfantasien, Bürokratie-Irrsinn, Anti-Karriere-Songs, fundamentale linke Systemkritik - textmässig also alles am Start, was Punks seit den 80ern gerne thematisieren, wenn sie Musik machen. Da passen die beiden Coverversionen von L'ATTENTAT und BRAINDEAD super rein, ein schöner Brückenschlag zwischen Ost- und West-Punk, das.
Also ist das ACHT COLA ACHT BIT / SACHBESCHÄDIGUNG nur was für hoffnungslose Liebhaber von verstaubten 80er-Sounds- und Subkulturen? Nein.
Interessanterweise klingt diese Nintendo-Punk-Variante doch lebendiger und näher an der recht düsteren Gegenwart als gedacht. Das Tempo der Tracks ist natürlich um einiges höher als bei den gemütlichen Games aus dem C64 und damit grätschen dann doch Techno und Drum'n'Bass rein, sowas war und ist in linken Kontexten ja schon immer sehr verbreitet. Und schnelle, laute Musik - was ist denn bitte mehr Punk als das?
Also insgesamt eine sehr geeignete Platte, um die etwas schal gewordene Punkparty mit deinen Iro-Kumpels Atze, Zecke, Ratte und Penis mal aus dem Bierschlummer zu reißen. Darauf ein analoges Dosenbier.
Dazu kommt: Mit Blick auf derzeitige politische Entwicklungen und dem derzeit live mitzuerlebenden gesellschaftlichen Backlash sind die Themen, die KEM TRAIL ins Mikro brüllt, doch aktueller, als sie es vor 40 Jahren wohl mal waren. Bisschen gruselig dann doch, aber auch hier gilt: Scheiß Leben, aber geile Grafik.
Gary Flanell
KEM TRAIL - ACHT COLA ACHT BIT / SACHBESCHÄDIGUNG ist in limitierter Vinyl-Version (300 Stücker) und digital (und vielleicht auch auf Tape und Floppydisc?) auf RILREC erschienen.
KEM TRAIL gibt's live übrigens am 08.März 2025 in einem schäbigen Keller in Kreuzberg zu sehen.
Dienstag, 31. Dezember 2024
Schön, wenn Menschen ihre Lieblingsplatten des Jahres benennen. Können.
Jahresrückblicke kann jeder und macht jeder. Wir ebenfalls. Auch wenn's knapp ist.
Deshalb hier die Hit-not-Shit-Listen der Renfield-Blogsters, mit allem, was die Menschen, die diesen Blog wie fleißige Bienchen mit Text und Witz bestücken, 2024 gern gehört haben.
Kollege Abel empfiehlt übrigens jahresunabhängig alles von Brahms und Schubert. (Die haben leider letztes Jahr kein neues Album rausgebracht. Kommt vielleicht noch.) Und Rachmaninoff. Ein Mann mit Geschmack.
Gary Flanell (der Punk-Garage-Lo-Fi-Outsider-Rock'n'Roll-Blogsatz-Mogul):
PEKKA LAINE - The enchanted sounds of... (Svart)
Geile Instro-Surfmusik wie aus Omas finnischer Musikbox. Wenn das hier läuft, eskapiere ich total und denke, die Welt ist doch ganz ok und gut wird sowieso alles. Genau richtig zur Orientierung in Raum und Zeit an einem Sonntag morgen.
TRUST ISSUES - Too white to be real (Break The Silence)
Soviele Punkplatten gehen mir mittlerweile am Arsch vorbei, die hier kriegt einen besonderen Platz. Warum? Weil's eine der besten Punkplatten der letzten Zeit ist. Von alten Helden, die wissen, wie man's machen muss.
DAVID HOLMES feat. RAVEN VIOLET: Blind on a galloping horse (Heavenly)
Von David Holmes könnte ich alles nehmen, egal ob UNLOVED oder sein Solozeug. Diesmal mit der unglaublichen Raven Violet, was eine tolle Valiumstimme. Hit auf der Hitplatte: It's over now, if we run out of love. Da hat der eine Oasis-Typ mit geschraubt. Hört man auch.
STUMPF - SAND (Edelfaul)
Ein Höhepunkt des Jahres: Die Stumpfen haben Sand aufs Vinyl gepackt. Ein Monument, geschaffen, um mächtige Felsen kleinzukriegen. Es schleift und knirscht und sägt und dröhnt. Und es braucht Zeit. Höre ich in Augenblicken, in denen ich merke: So schnell muss alles nicht gehen. Schmeiß mal mal 'ne Fuhre Sand in den Kalender. Dit bremst.
TONY SLUG EXPERIENCE- s/t (Whoop Shoo Dop)
Tony Slug war einer der ausdauerndsten Punkrocker der Niederlande, leider in diesem Jahr gestorben. Das hier also ein letztes Dokument für den PunkROCK, den er seit den 80ern konsequent betrieben hat. Beindruckend, wer hier alles an Mikros und Instrumenten zusammengekommen ist: Jello Biafra, Nikke von den Hellacopters, Jerry A. von Poison Idea und soviele mehr. Habe ein unpeinliches Supergroup-Feeling. Geil.
Wolfgang Noise
(der Jazz-Polyrhythmik-Weltmusik-Elektro-DubStep-Drum'n'Bass-Berlin-Kreuzberg-Korrespondent)
PAINKILLER– Samsara (Tzadik)
Die Rückkehr der alten Götter: Anders als früher weil Mick Harris nicht mehr Schlagzeug spielt, aber genauso zerstörerisch, befriedigend und schmerzlindernd.
CHELSEA WOLFE - She Reaches Out To She Reaches Out To She (Loma Vista)
Die Fürstin der Finsternis mit wie üblich genialem Album, diesmal mehr zwischen Gothic Ambient und Doomstep, falls es das gibt.
PETER SOMUAH - Highlife (ACT)
Sympathischer ghanaischer Trompeter aus den Niederlanden mit qualitativ hochwertigem Strain aus Highlife und Jazz.
PΞB – IAMCHAINSAW (Edelfaul)
Debüt-Tape vom Kreuzköllner Kettensägen-Couple mit nix wie Schlagzeug, Stimme, moderner Technik und, wie Zweikant sagen würden: bedingungsloser Grundeinstellung.
IBELISSE GUERDA FERRAGUTI & FRANK ROSALY – Mestizx (International Anthem) Verwunschene Folkmusik, die, wenn sie erst mal angefangen hat, nicht so leicht wieder aufhört.
Philipp Nussbaum
(Der NRW-Korrespondent. Der Reydter der Apokalypse. Hat ATOMVULKAN BRITZ im Herbst safe durch die Hood von Mönchengladbach geleitet und saß wie der Pate von MG beim Gig rum. Stark.)
Die Musiken, garantiert unvollständig und garantiert morgen in einer anderen Zusammenstellung:
ARXX "Good Boy" - Getränk dazu: Gin Tonic
ANTILOPEN GANG "Alles muss repariert werden" - Getränk dazu: Gin Gin
EA80 "Stecker" (oder wie auch immer) - Getränk dazu: Malzbier oder Fanta
INCISURAT "Zurren" - Getränk dazu: einige Helle
SAFI "Groteske" - Getränk dazu: sieben Fässer Wein
Ergänzung:
Zu EA80 mag auch Herdecker Sackträger genossen werden.
Gustav Roland Reudengeutz
(der Free-Jazz-Techno-Atonal-Experimental-Ost-Berlin-Checker-Korrespondent)
Mit unterschwelligem Erschrecken auf die Frage nach den fünf favorisierten Tracks in diesem Jahr, stelle ich fest, dass ich wirklich wieder mehr und intensiver Musik hören muss! Aber ein paar alte Fundsachen sind dabei - nix Neues, aber für mich aktuell.
ESBJÖRN SVENNSON TRIO – The Left Lane
Treibend auf der Autobahn mit 180, aber gefühlt mit 300 und darum besser gleich mit Air Wings einen norwegischen Berg runter über Schweden in den Bottnischen Meerbusen. Angenehme, treibende dreizehneinhalb Minuten Triojazz. Jazz, Jazz, Jazz, dabei hat Esbjörn auch abgefahrene Noise-Kompositionen am Start gehabt – aber is ja eh alles Jazz…
POETS OF THOUGHT – The Rhyme Goes On
Den eher auf der Überlandstraße bei Abendsonne und mit Ellenbogen aus dem Fenster. Was für ein Bounce! Viel jazziger konnte elektronische Musik damals kaum klingen. Und super einfach gescratcht, aber es reicht sowas von aus…
P-TRIX – I Just Play Terror Routine
Hier die Platten auf einem ungleich höheren Niveau zerkratzt, eigentlich auch kein genuiner Track, aber eigentlich doch und apropos Bounce: Yeah!! Super funky, sehr innovativ und extrem cool performend, ist P-Trix als Turntablist um die Jahrtausendwende mit seinen Motor-off-skills bekannt geworden. Hab ich ziemlich oft gebannt wie eine schwingende Marionette am PC gehört und kann man sich eigentlich auch nur dort geben. Ich mag die 1999 USA DMC Finals Version.
RYOJI IKEDA – Ultratronics 04
Im brütenden Sommer zuerst gehört, völlig unpassend, denn Ikedas Klangkonzeption ist grundsätzlich außerordentlich kühl und eher dunkel. Ultratronics 04 indessen zählt zu den groovigeren, runderen Kompositionen, zu der man einen Veitstanz um Konrad Zuses Z3-Rechner machen sollte.
APHEX TWIN – Bucephalus Bouncing Ball
Tja, anscheinend war 2024 besonders schwungvoll oder einfach nur wieder ballaballa. Gut, wenn man dazu die passende Musik parat hat. Aphex Twin holt mich da voll ab. Bucephalus Bouncing Ball – die elektronische Idealvertonung des Menschen in der mehr oder weniger fortschrittlichen Welthermetik. Kann überall auf der Metaebene gehört werden.
Mr. Stonebridge (Der Indie-Post-Punk-Pop-Hamburger-Schule-Korrespondent)
2024 – Beste Musik zum...
NICHTSEATTLE: „Frau Sein“ & „Treskowallee“ … zum am Wasser sitzen oder in Bewegung sein
KRATZEN: „Reichtum“ … zum Durchs-Zimmer-Hüpfen
SLEAFORD MODS & HOT CHIPS: „Nom Nom Nom“ - auf der Torstraße mit dem Autostrom radeln
HUNDEFUTTERGRUPPE: „Kerze und Taschenmesser“ - zum Frühstück, Mittag, Abendbrot
FRITZI ERNST: „Ich bin so dumm“ - zum morgendlichen In-den-Spiegel-kucken
SOLTERO: „A True Indication“ - Tag in der Natur oder am Meer
TINY DORIS: „Nackt aufm Pelz“ - Beim Schnibbeln
JENSAUSDERWÄSCHE: „Grenzen“ - abends im Bettliegen
Das war es gewesen für 2024. Und ja, leider sind hier derzeit nur Männer unterwegs. Allesamt gute Männer, allerdings halt eben...wisst ihr auch. Das darf sich gerne ändern, von daher: Mitschreiberinnen sind hier herzlich willkommen.
Girls to the Blog, bei Interesse gern melden unter renfield-fanzine@hotmail.de. Niedrigschwelligkeit is the key, musikalisch/thematisch geht fast alles, the vielfältiger, the better quasi.
Guten Rootsh,
Gary Flanell
Deshalb hier die Hit-not-Shit-Listen der Renfield-Blogsters, mit allem, was die Menschen, die diesen Blog wie fleißige Bienchen mit Text und Witz bestücken, 2024 gern gehört haben.
Kollege Abel empfiehlt übrigens jahresunabhängig alles von Brahms und Schubert. (Die haben leider letztes Jahr kein neues Album rausgebracht. Kommt vielleicht noch.) Und Rachmaninoff. Ein Mann mit Geschmack.
Gary Flanell (der Punk-Garage-Lo-Fi-Outsider-Rock'n'Roll-Blogsatz-Mogul):
PEKKA LAINE - The enchanted sounds of... (Svart)
Geile Instro-Surfmusik wie aus Omas finnischer Musikbox. Wenn das hier läuft, eskapiere ich total und denke, die Welt ist doch ganz ok und gut wird sowieso alles. Genau richtig zur Orientierung in Raum und Zeit an einem Sonntag morgen.
TRUST ISSUES - Too white to be real (Break The Silence)
Soviele Punkplatten gehen mir mittlerweile am Arsch vorbei, die hier kriegt einen besonderen Platz. Warum? Weil's eine der besten Punkplatten der letzten Zeit ist. Von alten Helden, die wissen, wie man's machen muss.
DAVID HOLMES feat. RAVEN VIOLET: Blind on a galloping horse (Heavenly)
Von David Holmes könnte ich alles nehmen, egal ob UNLOVED oder sein Solozeug. Diesmal mit der unglaublichen Raven Violet, was eine tolle Valiumstimme. Hit auf der Hitplatte: It's over now, if we run out of love. Da hat der eine Oasis-Typ mit geschraubt. Hört man auch.
STUMPF - SAND (Edelfaul)
Ein Höhepunkt des Jahres: Die Stumpfen haben Sand aufs Vinyl gepackt. Ein Monument, geschaffen, um mächtige Felsen kleinzukriegen. Es schleift und knirscht und sägt und dröhnt. Und es braucht Zeit. Höre ich in Augenblicken, in denen ich merke: So schnell muss alles nicht gehen. Schmeiß mal mal 'ne Fuhre Sand in den Kalender. Dit bremst.
TONY SLUG EXPERIENCE- s/t (Whoop Shoo Dop)
Tony Slug war einer der ausdauerndsten Punkrocker der Niederlande, leider in diesem Jahr gestorben. Das hier also ein letztes Dokument für den PunkROCK, den er seit den 80ern konsequent betrieben hat. Beindruckend, wer hier alles an Mikros und Instrumenten zusammengekommen ist: Jello Biafra, Nikke von den Hellacopters, Jerry A. von Poison Idea und soviele mehr. Habe ein unpeinliches Supergroup-Feeling. Geil.
Wolfgang Noise
(der Jazz-Polyrhythmik-Weltmusik-Elektro-DubStep-Drum'n'Bass-Berlin-Kreuzberg-Korrespondent)
PAINKILLER– Samsara (Tzadik)
Die Rückkehr der alten Götter: Anders als früher weil Mick Harris nicht mehr Schlagzeug spielt, aber genauso zerstörerisch, befriedigend und schmerzlindernd.
CHELSEA WOLFE - She Reaches Out To She Reaches Out To She (Loma Vista)
Die Fürstin der Finsternis mit wie üblich genialem Album, diesmal mehr zwischen Gothic Ambient und Doomstep, falls es das gibt.
PETER SOMUAH - Highlife (ACT)
Sympathischer ghanaischer Trompeter aus den Niederlanden mit qualitativ hochwertigem Strain aus Highlife und Jazz.
PΞB – IAMCHAINSAW (Edelfaul)
Debüt-Tape vom Kreuzköllner Kettensägen-Couple mit nix wie Schlagzeug, Stimme, moderner Technik und, wie Zweikant sagen würden: bedingungsloser Grundeinstellung.
IBELISSE GUERDA FERRAGUTI & FRANK ROSALY – Mestizx (International Anthem) Verwunschene Folkmusik, die, wenn sie erst mal angefangen hat, nicht so leicht wieder aufhört.
Philipp Nussbaum
(Der NRW-Korrespondent. Der Reydter der Apokalypse. Hat ATOMVULKAN BRITZ im Herbst safe durch die Hood von Mönchengladbach geleitet und saß wie der Pate von MG beim Gig rum. Stark.)
Die Musiken, garantiert unvollständig und garantiert morgen in einer anderen Zusammenstellung:
ARXX "Good Boy" - Getränk dazu: Gin Tonic
ANTILOPEN GANG "Alles muss repariert werden" - Getränk dazu: Gin Gin
EA80 "Stecker" (oder wie auch immer) - Getränk dazu: Malzbier oder Fanta
INCISURAT "Zurren" - Getränk dazu: einige Helle
SAFI "Groteske" - Getränk dazu: sieben Fässer Wein
Ergänzung:
Zu EA80 mag auch Herdecker Sackträger genossen werden.
Gustav Roland Reudengeutz
(der Free-Jazz-Techno-Atonal-Experimental-Ost-Berlin-Checker-Korrespondent)
Mit unterschwelligem Erschrecken auf die Frage nach den fünf favorisierten Tracks in diesem Jahr, stelle ich fest, dass ich wirklich wieder mehr und intensiver Musik hören muss! Aber ein paar alte Fundsachen sind dabei - nix Neues, aber für mich aktuell.
ESBJÖRN SVENNSON TRIO – The Left Lane
Treibend auf der Autobahn mit 180, aber gefühlt mit 300 und darum besser gleich mit Air Wings einen norwegischen Berg runter über Schweden in den Bottnischen Meerbusen. Angenehme, treibende dreizehneinhalb Minuten Triojazz. Jazz, Jazz, Jazz, dabei hat Esbjörn auch abgefahrene Noise-Kompositionen am Start gehabt – aber is ja eh alles Jazz…
POETS OF THOUGHT – The Rhyme Goes On
Den eher auf der Überlandstraße bei Abendsonne und mit Ellenbogen aus dem Fenster. Was für ein Bounce! Viel jazziger konnte elektronische Musik damals kaum klingen. Und super einfach gescratcht, aber es reicht sowas von aus…
P-TRIX – I Just Play Terror Routine
Hier die Platten auf einem ungleich höheren Niveau zerkratzt, eigentlich auch kein genuiner Track, aber eigentlich doch und apropos Bounce: Yeah!! Super funky, sehr innovativ und extrem cool performend, ist P-Trix als Turntablist um die Jahrtausendwende mit seinen Motor-off-skills bekannt geworden. Hab ich ziemlich oft gebannt wie eine schwingende Marionette am PC gehört und kann man sich eigentlich auch nur dort geben. Ich mag die 1999 USA DMC Finals Version.
RYOJI IKEDA – Ultratronics 04
Im brütenden Sommer zuerst gehört, völlig unpassend, denn Ikedas Klangkonzeption ist grundsätzlich außerordentlich kühl und eher dunkel. Ultratronics 04 indessen zählt zu den groovigeren, runderen Kompositionen, zu der man einen Veitstanz um Konrad Zuses Z3-Rechner machen sollte.
APHEX TWIN – Bucephalus Bouncing Ball
Tja, anscheinend war 2024 besonders schwungvoll oder einfach nur wieder ballaballa. Gut, wenn man dazu die passende Musik parat hat. Aphex Twin holt mich da voll ab. Bucephalus Bouncing Ball – die elektronische Idealvertonung des Menschen in der mehr oder weniger fortschrittlichen Welthermetik. Kann überall auf der Metaebene gehört werden.
Mr. Stonebridge (Der Indie-Post-Punk-Pop-Hamburger-Schule-Korrespondent)
2024 – Beste Musik zum...
NICHTSEATTLE: „Frau Sein“ & „Treskowallee“ … zum am Wasser sitzen oder in Bewegung sein
KRATZEN: „Reichtum“ … zum Durchs-Zimmer-Hüpfen
SLEAFORD MODS & HOT CHIPS: „Nom Nom Nom“ - auf der Torstraße mit dem Autostrom radeln
HUNDEFUTTERGRUPPE: „Kerze und Taschenmesser“ - zum Frühstück, Mittag, Abendbrot
FRITZI ERNST: „Ich bin so dumm“ - zum morgendlichen In-den-Spiegel-kucken
SOLTERO: „A True Indication“ - Tag in der Natur oder am Meer
TINY DORIS: „Nackt aufm Pelz“ - Beim Schnibbeln
JENSAUSDERWÄSCHE: „Grenzen“ - abends im Bettliegen
Das war es gewesen für 2024. Und ja, leider sind hier derzeit nur Männer unterwegs. Allesamt gute Männer, allerdings halt eben...wisst ihr auch. Das darf sich gerne ändern, von daher: Mitschreiberinnen sind hier herzlich willkommen.
Girls to the Blog, bei Interesse gern melden unter renfield-fanzine@hotmail.de. Niedrigschwelligkeit is the key, musikalisch/thematisch geht fast alles, the vielfältiger, the better quasi.
Guten Rootsh,
Gary Flanell
Mittwoch, 25. Dezember 2024
Das traurigste Weihnachten ever
Vor ein paar Tagen frug Kollege Daniel Decker auf Facebook nach Ideen für das traurigste Weihnachten aller Zeiten. Kein Problem, dachte ich. Danach noch in Meme-Sprech "Hold my beer". Und dann, dann antwortete ich ihm recht ausführlich in der Kommentarspalte.
Später, des nächtens, habe ich den Text noch einmal überarbeitet und fand ihn auch nach mehrmaligem Lesen für bloggenswert. Sowas muss natürlich gepostet werden, wenn Weihnachten schon halb vorbei ist.
Für das traurigste Weihnachten ever empfehle ich also folgendes:
1. Filme gucken. Viele, die ganze Nacht durch - am besten diese hier:
- Leaving Las Vegas
- Komm und sieh
- Stalker
- irgendeinen belgischen Indiefilm - Ex Drummer, Die Beschissenheit der Dinge oder The Broken Circle Breakdown wären geeignet. Allerdings nicht Brügge sehen und sterben - der ist zu lustig.
2. Wohnung herrichten.
Fenster verdunkeln, Aussenrollos komplett runter lassen. Dann in alle Räumen Heizung und Licht aus, am besten derart, dass du alle Glühbirnen mit einem Nudelholz (sowas hat ja heute keiner mehr), Baseballschläger oder der bloßen Faust kaputtdrischst. Wenn Faust, dann Wunden bluten lassen.
Außerdem: Zwei olle Kerzenstumpen, die schon kurz vorm Verglühen sind, anzünden. Anschließend Feuerzeug, Streichhölzer und Mobiltelefon in die Toilette werfen. Gründlich nachspülen. Alle Fenster weit öffnen, nicht nur auf Kipp. Alle Türen in der Wohnung aufmachen, soll ja nicht zu warm werden. Das erledigt habend, komplett entkleiden. Wäsche aus dem Fenster werfen (dazu noch eimnmal kur die Rollos hochziehen).
Dann ist da nur noch eine dünne Decke aus grauem Baustellenvlies als Bekleidung.
3. Damit es noch zäher wird: Schlechte Internetverbindung einrichten - sollte schnell gehen.
4. Was im Vorfeld zu tun war.
An den Tagen vorher hast du die Wohnung komplett leer geräumt und alle Möbel sowie die Dinge, die du einmal mochtest, weit unter Wert an eine Haushaltsauflösung verkauft. Einiges davon wirst du im Frühjahr auf dem Trödelmarkt wiederfinden. Also keine Angst.
5. Weihnachtsessen.
Zu essen hast du nur zwei Scheiben hartes Brot, die du 2 Tage vorher von dem kleinen Laib Graubrot abschnittest, welchen du wiederum 3 Tage vorher bei einer "Gutes von gestern"-Aktion in dem Supermarkt gekauft hast, den du normalerweise wegen hygienischen Bedenken meidest.
Eventuell dazu noch die verbleichten Gürkchen aus dem Spreewälder-Glas, das schon seit sechs Monaten geöffnet in der Seitentür deines Kühlschranks steht. Der Kühlschrank wurde nicht verkauft, die Haushaltsauflöser sagten: "Sowas nehm wa nich'. "
Als Abschluss noch einen Zahnstocher in das Gewebe hinter deinen Schneidezähnen stecken.
6. Musik.
Ist. Immer. Wichtig.Fast. Immer. Du hörst also keine Musik, da ist nur die Stille des Raumes und der Kälte und der Dunkelheit. Diese Stille, die dich darüber nachdenken lässt, warum die Unendlichkeit mit dir Schluss gemacht hat.
7. Schlafen und Ruhen.
Nicht schlafen. Du schläfst nicht. Du guckst dir die empfohlenen Filme an und bleibst wach. Die Nacht wirst du in diesem Zustand durchwachen.
Falls du doch schlafen willst: Nicht ins Bett (das du verkauft hast), auch nicht an die kahle unverputzte Wand lehnen, sondern auf dem kalten Fliesenboden im Bad niederlassen, ohne das mittlerweile liebgewonnene Baustellenvlies unterzulegen. Aufpassen dass du dich nicht auf die halbverrottete Grinch-Leiche legst, die du schon im Sommer neben das Klo gelegt hast.
Deckenlicht anlassen, was ja nicht geht, weil du ja alle Glühbirnen kaputtgeschlagen hast. Mach es dir auf den Scherben und den Fliesen bequem.
8. Stoffwechselprodukte.
Toilette nicht benutzen, sondern die körperlichen Verwertungsprozesse einfach dem Fluss des Lebens folgen lassen. Keine Taschentücher, kein Toilettenpapier, keine Feuchttücher oder ähnliches Gewebe (bis auf das Baustellenvlies) wurden vorrausschauend nicht eingekauft. Nichts, womit du eventuell Tränen abtupfen könntest. "Let it flow, let it flow, let it flow" (Bing Crosby)
9. Drogen.
Drogen, welche Drogen? Du nimmst keine Drogen, das alles muss bei reinem, klaren Bewusstsein er- und durchlebt werden.
10. Epilog.
Eines sollte klar sein dabei: Du bist allein an diesem Abend. Nicht nur allein, weil du mal nach einem Jahr von normalem sozialen Austausch ein paar Minuten für dich brauchst, nein, du bist allein. Komplett. Allumfassend.
Niemand ist da, niemand erreichbar. Kein Chat, kein Anruf, keine Sprachnachricht. Keine SMS, kein Gif, kein Meme von irgendwem, keine Message. Jegliches Kommunikationsmittel ist gekappt. Du bist allein. Und nicht nur allein in dem Sinne, dass gerade kein Lebewesen in der Nähe ist. Nein. Du bist auch emotional allein. Vollkommen einsam ohne Aussicht, dass sich das bald ändert. Einfach. Komplett. Einsam.
Geh den Weg der Angst. Geh ihn ganz allein.
Gary Flanell
Später, des nächtens, habe ich den Text noch einmal überarbeitet und fand ihn auch nach mehrmaligem Lesen für bloggenswert. Sowas muss natürlich gepostet werden, wenn Weihnachten schon halb vorbei ist.
Für das traurigste Weihnachten ever empfehle ich also folgendes:
1. Filme gucken. Viele, die ganze Nacht durch - am besten diese hier:
- Leaving Las Vegas
- Komm und sieh
- Stalker
- irgendeinen belgischen Indiefilm - Ex Drummer, Die Beschissenheit der Dinge oder The Broken Circle Breakdown wären geeignet. Allerdings nicht Brügge sehen und sterben - der ist zu lustig.
2. Wohnung herrichten.
Fenster verdunkeln, Aussenrollos komplett runter lassen. Dann in alle Räumen Heizung und Licht aus, am besten derart, dass du alle Glühbirnen mit einem Nudelholz (sowas hat ja heute keiner mehr), Baseballschläger oder der bloßen Faust kaputtdrischst. Wenn Faust, dann Wunden bluten lassen.
Außerdem: Zwei olle Kerzenstumpen, die schon kurz vorm Verglühen sind, anzünden. Anschließend Feuerzeug, Streichhölzer und Mobiltelefon in die Toilette werfen. Gründlich nachspülen. Alle Fenster weit öffnen, nicht nur auf Kipp. Alle Türen in der Wohnung aufmachen, soll ja nicht zu warm werden. Das erledigt habend, komplett entkleiden. Wäsche aus dem Fenster werfen (dazu noch eimnmal kur die Rollos hochziehen).
Dann ist da nur noch eine dünne Decke aus grauem Baustellenvlies als Bekleidung.
3. Damit es noch zäher wird: Schlechte Internetverbindung einrichten - sollte schnell gehen.
4. Was im Vorfeld zu tun war.
An den Tagen vorher hast du die Wohnung komplett leer geräumt und alle Möbel sowie die Dinge, die du einmal mochtest, weit unter Wert an eine Haushaltsauflösung verkauft. Einiges davon wirst du im Frühjahr auf dem Trödelmarkt wiederfinden. Also keine Angst.
5. Weihnachtsessen.
Zu essen hast du nur zwei Scheiben hartes Brot, die du 2 Tage vorher von dem kleinen Laib Graubrot abschnittest, welchen du wiederum 3 Tage vorher bei einer "Gutes von gestern"-Aktion in dem Supermarkt gekauft hast, den du normalerweise wegen hygienischen Bedenken meidest.
Eventuell dazu noch die verbleichten Gürkchen aus dem Spreewälder-Glas, das schon seit sechs Monaten geöffnet in der Seitentür deines Kühlschranks steht. Der Kühlschrank wurde nicht verkauft, die Haushaltsauflöser sagten: "Sowas nehm wa nich'. "
Als Abschluss noch einen Zahnstocher in das Gewebe hinter deinen Schneidezähnen stecken.
6. Musik.
Ist. Immer. Wichtig.Fast. Immer. Du hörst also keine Musik, da ist nur die Stille des Raumes und der Kälte und der Dunkelheit. Diese Stille, die dich darüber nachdenken lässt, warum die Unendlichkeit mit dir Schluss gemacht hat.
7. Schlafen und Ruhen.
Nicht schlafen. Du schläfst nicht. Du guckst dir die empfohlenen Filme an und bleibst wach. Die Nacht wirst du in diesem Zustand durchwachen.
Falls du doch schlafen willst: Nicht ins Bett (das du verkauft hast), auch nicht an die kahle unverputzte Wand lehnen, sondern auf dem kalten Fliesenboden im Bad niederlassen, ohne das mittlerweile liebgewonnene Baustellenvlies unterzulegen. Aufpassen dass du dich nicht auf die halbverrottete Grinch-Leiche legst, die du schon im Sommer neben das Klo gelegt hast.
Deckenlicht anlassen, was ja nicht geht, weil du ja alle Glühbirnen kaputtgeschlagen hast. Mach es dir auf den Scherben und den Fliesen bequem.
8. Stoffwechselprodukte.
Toilette nicht benutzen, sondern die körperlichen Verwertungsprozesse einfach dem Fluss des Lebens folgen lassen. Keine Taschentücher, kein Toilettenpapier, keine Feuchttücher oder ähnliches Gewebe (bis auf das Baustellenvlies) wurden vorrausschauend nicht eingekauft. Nichts, womit du eventuell Tränen abtupfen könntest. "Let it flow, let it flow, let it flow" (Bing Crosby)
9. Drogen.
Drogen, welche Drogen? Du nimmst keine Drogen, das alles muss bei reinem, klaren Bewusstsein er- und durchlebt werden.
10. Epilog.
Eines sollte klar sein dabei: Du bist allein an diesem Abend. Nicht nur allein, weil du mal nach einem Jahr von normalem sozialen Austausch ein paar Minuten für dich brauchst, nein, du bist allein. Komplett. Allumfassend.
Niemand ist da, niemand erreichbar. Kein Chat, kein Anruf, keine Sprachnachricht. Keine SMS, kein Gif, kein Meme von irgendwem, keine Message. Jegliches Kommunikationsmittel ist gekappt. Du bist allein. Und nicht nur allein in dem Sinne, dass gerade kein Lebewesen in der Nähe ist. Nein. Du bist auch emotional allein. Vollkommen einsam ohne Aussicht, dass sich das bald ändert. Einfach. Komplett. Einsam.
Geh den Weg der Angst. Geh ihn ganz allein.
Gary Flanell
Donnerstag, 19. Dezember 2024
Schön, wenn der Samtvogel wieder fliegt Pt. XXIV
GÜNTHER SCHICKERT - SAMTVOGEL
Dieses Album wollte ich schon ganz lange mal gehört haben. Es ist fast genau so alt wie ich, so dass Bureau B das Dings jetzt mit einer Jubiläumsausgabe (50!) ehrt.
Aber vor allem ist es bisher ein immer besonders geheimnisvolles Teilchen der Vergangenheit von Günther Schickert gewesen, den ich vor ungefähr 25 Jahren das erste Mal kennengelernt habe, weil wir uns einen Proberaum in der Waldemarstraße geteilt haben.
Er war eine tiefenentspannt wirkende Erscheinung mit Hut, von dem ich nicht viel wusste, außer dass er einen empfindlichen permanenten Aufbau kompliziert verschalteter Effektpedale pflegte, von dem wir (unbeholfen jazzrockende Postpunk-Opfer) gefälligst die Finger zu lassen hatten. Ich hab seine Effekte oder auch nur ihn damals nie in Aktion gesehen, aber ich wusste, dass er African Headcharge kannte und mochte, was ich bemerkenswert fand, denn mit dieser Leidenschaft war ich bisher allein geblieben.
Wir verloren uns aus den Augen, aber Jahre später sollte ich, interessanten Bassvibrationen folgend, in eine Stahltür in einem Kreuzberger Hof stolpern, und hinterm Tisch am Einlass saß niemand anders als der Günther aus der Waldemar und zeigte wortlos auf die Treppe abwärts. Das kann man wohl als lebensverändernden Moment bezeichnen, denn seitdem bin ich aus dem Loch, in das er mich damals lotste, nie so ganz wieder herausgekrochen. Das macht ihn noch ein bisschen mysteriöser.
Die Ahnung, dass Günther nicht irgendwer war, erhärtete sich kurz darauf, als ich ihn sah, wie er im Biergarten ums Eck sah einem japanischen Journalisten ein Interview gab. Und durch vielstimmige orale Überlieferung erfuhr ich nach und nach, in was für Sachen er so vor den Waldemar-Jahren verstrickt war, z.B: frühes SO36, ein Trio namens GAM (Günther Axel Michael) und Tontechnik für Klaus Schulze.
Ich hab Krautrock in meiner Leihbibliotheken-Phase gestreift und dann bis ins hohe Alter ignoriert, weil ich Drum’n’Bass wichtiger fand. Tatsächlich hab ich mir immer gesagt, dass ich mir die Musik alter Männer, Can, Kraftwerk, Tangerine Dream und Günther aufheben kann für wenn ich selber alt bin. Tja, jetzt ist es so weit, und ich kann mich an plötzlich an so was wie Harald Grosskopfs Solo-LP von 1981 erfreuen, oder eben Günthers „Samtvogel“.
Das kam aber auch nicht von ganz alleine. Vor ein paar Jahren habe ich Günther mal zusammen mit Gary für die Printausgabe vom Renfield-Magazin interviewt, natürlich in dem bewussten Keller. Dabei gab er uns eine aktuelle Doppel-CD von ihm namens „Pharoah Chromium“. Irre! Supergutes, irgendwie nicht endenwollendes Doom-Ambient-Geschwobber mit durch den Raum kollernden Gitarrenlinien, die offenbar immer noch aus einer hochkomplexen Anordnung von Effektpedalen kamen.
Seitdem weiß ich auch, dass sein erstes Album „Samtvogel“ im selbstverlegten Original auf Discogs von ganz besonders hingebungsvollen Fans (z.B. Japanern) für 800,- € gehandelt wird. Nachpressungen waren immer schnell weg, und Youtube zählt nicht. In der EU gibt’s das Teil jetzt also wieder für mehr oder weniger erschwingliche Ladenpreise.
Und ich bin schwer versucht! Das digitale Promo hat die Angewohnheit, immer weder von vorne zu beginnen, und ehe ich so ganz wusste, wie mir geschah, war ein halber Bürotag rum, und ich hatte das Album vier oder fünf mal durchgehört. Die Musik passt also einfach so in die Landschaft, taugt aber auch zum Reinfallenlassen.
Dann entfalten sich seine drei damals noch mit relativ minimalen Mitteln aufgenommenen 4-Spur-Studien aus Gitarre und Echo-Loops zur Mandala-artigen Handarbeit mit fortlaufender Entwicklung, ohne Pomp oder Blendwerk. Die sympathisch subjektiven Titel geben einen schönen Querschnitt davon, was den jungen Westberliner damals so umtrieb: Hedonismus („Apricot Brandy“), Pazifismus („Kriegsmaschinen, fahrt zur Hölle“) und Wald („Wald“).
Der erste Song ist ein bisschen anders, weil kürzer und mit Stimme: Der junge Günther klingt, wenn er singt, ein bisschen wie Arto Lindsay, nur was er singt, verstehe ich nie so richtig. Oder ich vergesse es, während die anderen, längeren Stücke reinkicken – entweder hypnotisch und wirklich die Aufmerksamkeit fesselnd, oder auch so ganz nebenbei, als Teil der Umwelt.
Auch wenn dieses Album nur ein ganz kleines Mosaikteil aus dieser mythischen Zeit darstellt, als Westberlin ein kachelofenbeheiztes Feuchtbiotop für Freaks mit Gitarreneffektpedalen war, steckt genau darin seine ganze Schönheit, die mich glatt mit dem Altwerden versöhnt … so lange es noch neue Musik gibt, die genau so alt ist du selbst.
Wolfgang Noise
Das Album Samtvogel von Günther Schickert ist als Neuauflage auf Bureau B erschienen.
Donnerstag, 12. Dezember 2024
Schön, wenn junge Menschen Musik (in München!) machen Pt. XIXIXMX
SINEM - Köşk
Bands, die türkische Psychedelica und sogenannten Anadolu Rock spielen, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe, und so unterschiedlich wie ihre Herkünfte sind auch die musikalischen Schwerpunkte, den diese Retro-Kapellen dabei setzen.
Die wohl erfolgreichsten, Altin Gün aus Amsterdam, konzentriert sich auf die Funk- und Disco-Aspekte der türkischen 70er, die Berliner Band Cherry Bandora erforscht die Verwandtschaft zwischen türkischer und griechischer Musik, die Sattelites aus Haifa heben die psychedelischen Pop-Aspekte hervor, und bei den Replikas, die tatsächlich aus der Türkei kommen und mit dem ganzen Retro-Trend möglicherweise angefangen haben, steht der Rock im Mittelpunkt.
In diesem Sinne nähern sich Sinem aus München dem türkischen Schlaghosen-Rock noch mal von einer anderen Seite, vielleicht der rumpeligsten von allen: Post Punk.
Ihr Sound besteht aus minimaler Instrumentation, stacheliger Gitarre und schroffem Gesang ohne Weichzeichner. Manchmal klingen die ersten paar Takte wie Television oder ESG, bevor sich das anatolisches Killer-Riff reinschraubt und Sinem Arslan Ströbel zu singen beginnt, wobei ihr unbefangener Umgang mit Tonhöhen an die schwer vermisste Ari Up erinnert.
So weit ich sehen kann, sind auch auf ihrem Album die meisten Songs Coverversionen. Keine Schande, es gibt so viele irre gute Songs aus dieser Periode, dass es schwer ist, in dem Stil auch noch eigene Stücke zu komponieren. Kann ja noch kommen.
Die A-Seite ist makellos. Die Eröffnungstitel „Dem Dem“ und „Gurbet“ rocken überzeugend auf, und mit den folgenden zwei Nummern erweitert sich das Soundspektrum ohne Druckverlust. Nur der Versuch, Selda Bağcans „Yaz Gazeteci Yaz“ übertreffen zu wollen, erweist sich als aussichtslos. So wie das heimwehgetränkte „Gurbet“, im Original von Özdemir Erdoğan verweist auch dieser Song aufs kalte Almanya. Der Titel lautet übersetzt interessanterweise (ungefähr) „Schreib, Journalist, schreib“, was ich immer persönlich genommen habe.
Die von der Westpresse jahrzehntelang verschlafenen musikalischen Verschlaufungen zwischen Türkei und BRD, z. B durch das erfolgreiche Kölner Cassetten-Label Türkyola, sind übrigens Thema des empfehlenswerten Films „Liebe, D-Mark und Tod“ (Ask, Mark ve Ölüm) von Cem Kaya. Der Rest der B-Seite geht ohne weitere Schwächen vonstatten und gipfelt in einer ekstatischen Version von Bariş Manços „Lambaya Püf De“.
Sieben Treffer von Acht, das ergibt immer noch ein cooles Album.
Wolfgang Noise
Das Album "Köşk" von Sinem ist auf Vinyl und digital auf Fun in the church erschienen.
Donnerstag, 5. Dezember 2024
Schön, wenn Lobotomie liebevoll ist Pt. I
LAO DAN, GREG KELLEY, GLYNIS LOMON - BALLOON FLOWER
Onomatopoetischer Free Jazz at it‘s best
Musik wird oft nicht schön empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden, heißt es längst bei Wilhelm Busch. Schöne Musik können viele. Ist üblich. Konsumerabel. Masse. Ja, regelrecht mondän! Avantgarde widerstrebt den üblichen Hörgewohnheiten, doch kann darob dennoch schön sein.
Gut, ein bisschen Mühe muss man sich schon geben. Tun wir dies! Hören wir Balloon Flower, the latest crazy of Lao Dan, Greg Kelley und Glynis Lomon: Vier Titel, alle ähnlich, alle anders – verrückter Free Jazz – wohlgemerkt, man muss schon genau hinhören!
Jade Shadow eröffnet schrill und schön, hier ist gleich viel los, doch lärmt es nicht. Gläserne Sounds, Saitenfetzen und Asien-Assoziationen. Klar, denn Lao Dan kommt aus China. Weit weg und nach sechs Jahren Unterbrechung ist er wieder mal in den Staaten und spielt in diesem infernalen Trio die chinesische Bambusflöte.
Apropos Assoziationen: In diesem wilden Tongeklapper und Getute muss ich unweigerlich an Rhasaan Roland Kirk denken. Der Mann mit den drei Saxophonen im Mund (nur die Mundstücke, versteht sich). Meister atonischer Harmonie - total verrückt und schmelzend sanft! Und auch bei Balloon Flower: Man hört, dass alle drei sogleich in Action sind – jeder bei sich, aber jeder bei allen.
Musketiergleich fitzelt die quietsch-trockene Trompete (Greg Kelly) und gurgelt das virtuose Stimmgemurmel (Glynis Lomon) dazu. Weise, lebensstark und spirituell zusammen. Ist übrigens auch gut aufgenommen worden. Ausgewogener Sound, der zwischen Nähe und Distanz im Raum unterscheiden lässt, was besonders bei den vielen leisen Passagen wichtig ist, wenn Klangfenster mit gut geölten Scharnieren geöffnet werden.
Dann ist da dieser gitterartige Wellensound. Den macht Glynis Lomon, wenn sie nicht gerade kehlkopfsingt oder des Wahnsinns grölt. Sie spielt nämlich Wasser-Telefon (erinnert Ihr Euch noch an Frank Zappa bei Steve Allen? „I play the bicycle.“)
Klickt beides ggf. nach! Sehens- und wissenswert, was und wie alles Instrument sein…, doch zurück zum Titel, der ist eigentlich irgendwie ruhig und fast schon traurig am Ende. Kurz davor das Hauptthema geblähter Luftballon und wie der so klingt. Alles zwischen albern und ernst. Verrückend! Trompete mit Dämpfer, nervöse Flöte und ich erwische mich sogar wie ich mitwippe! Was wie irrige Fetzen an- und zumutet, ist wohldosierter Rhythmus! Aber wie gesagt: Schaurig traurig mit erratischem Ende. Dieses war der erste Streich und zweite folgt sogleich:
Drama führt das Ballon-Thema fort und führt an, was niemand leiden kann, wenn einer mit einem gefüllten Luftballon am Zippel ziehend auf einen losgeht (Globophobie ist die Angst vor Ballons. Der Setzer). Und es wirkt todernst. Nomen est omen – besorgniserregend kreischt es in einem fort, als würde jemand erwürgt. Ein Glück ist es hier nur ein enervierendes Blasinstrument.
Das Ballon-Thema indessen bietet das Sujet „Vergewaltigung“ an. Mit Unterbrechungen. In Drama ist es, als wenn das Opfer noch mit dem Täter zu verhandeln versucht und dieser alle Vorbringungen mit „Bla bla“ abtut. Technisch enorm! Kelly züngelt neurotisch in seine Trompete, Dan tutet wie von der Tarantel gestochen, irr-schlenderndes bogen und biegen am Cello durch Lomon. Täter und Opfer derweil – scheinen sich nicht einig zu werden. Gehen ab. Dieses war der zweite Streich und Balloon Flower zerrt an der Luftballonhaut wie gehabt. Es ist und bleibt irre, aber Krach ist es nicht.
Im dritten Live-Titel des dämonischen Triotreffens meint man im Hauptsaal einer Anstalt zu sein.
Manisches Lachweinen, Ticks allerorten, es zuckt und gluckt und auch der Exorzismus lässt grüßen. Aber es bläht und wächst auch scheinbar etwas wie märchenhaft. Ist es Hans und die Bohnenranke? Ein dickes Stangengewächs hoch hinein ins Wolkenkuckucksheim? Oder bin ich jetzt schon meschugge? Goldmünzen! Goldeier! Goldharfe! Ich dreh durch!
…denn ich werde in den Bann geschlagen von der Genialität der Musiker. Man muss wirklich genau hinhören! Was hier ineinander übergeht und dynamisch erzählt wird, ist technisch meisterhaft vollbracht! Es sind nur drei Instrumentalisten und man weiß es irgendwie auch, doch trotzdem ist man mitten in einem Bühnenstück, das uns unsere Habgier aufzeigt, immer wieder Übliches zu konsumieren bis wir uns selbst auskotzen und stumpfsinnig vor uns hinsiechen. Dieses war der dritte Streich und Worcester ist der finale Saft, der dem musikantischen Beisammensein entströmt.
Nicht gerade englisch und auch nicht Dresdener Art, aber wenn man sich die Zutaten von Worcester Sauce einmal durchließt, muss man sich doch wundern, warum das Zeug so gut schmeckt und der Laib nicht kapituliert. In diesem letzten Stück wurde jedoch nicht so homöoptisch dosiert. Wie passend: viel geisteskrankes Kehlkopfgegurgel, nimmer enden wollendes Gequietsche und stotterndes Dröhntrötentrampeln – willkommen im dreisttollen Narrenkabinett! Es klingt wie vergiftet. Wenn da mal nicht der Teufel seine Hand im Spiel hat… Todestaumelnd dem Ende entgegen. Klingt so Gedärm, wenn es stirbt?
Wie der Narr mit seiner Kappe dem König als einzig Dürfender den Spiegel vorhält, so dürfen Lao Dan, Greg Kelly und Glynis Loman uns zum Narren halten und uns nichts weniger zeigen, als was wir dabei in unserem Alltagsspiegel sehen. Wir, die wir uns nur allzu oft für die Könige des Lebens halten und uns entsprechend benehmen – wir sind um keinen Deut besser und wir quietschen und wir platzen oder schrumpeln und pfeifen aus dem (letzten) Loch.
Free Jazz - Wir brauchen das! Liebevolle Lobotomie…
Lao Dan, Greg Kelly, Glyniy Lemon: BALLOON FLOWER
Lao Dan (Hangzhou/ China; Bambusflöte u.a. Blasinstrumente) Greg Kelly (Boston/USA; Trompete) Glynis Lomon (Newton/USA; Stimme, Wassertelefon, Cello)
4 Titel, 39 Minuten
erhältlich als Tape und digital über die Bandcamp-Seite von Lao Dan
Gustav Roland Reudengeutz
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