Dieses Blog durchsuchen

Dienstag, 23. Januar 2024

Schön, wenn arbeitende Menschen auch noch Musik machen Pt. I


Im Regal hinter mir steht ein Buch mit dem Titel "Paradoxien der Arbeit".
Habe es noch nicht gelesen, bin abends immer zu müde und kann mir nur noch irgendwas auf Netflix in die Augen schrauben. Allein vom Titel her aber genau mein Buch.
Es geht ja schon mit der Begrifflichkeit los: Sagst du Lohnarbeit oder nur Arbeit? Wenn du nur Arbeit sagst, meinst du trotzdem die Art von Arbeit, für die es Geld gibt - und man unterstellt dir vielleicht, deinen Marx komplett gelesen zu haben.

Du meinst sicher nicht Pflege-, Care- oder Hausarbeit (die du machen musst, willst du nicht die berühmte Madenkolonie unter dem Bett haben).
Diese Lohnarbeit, die strukturierte, die ganze Wochen des einzigen Lebens, das du gerade hast, aus- und verfüllt; diese Arbeit bleibt in ihrer notwendigen Menge, dem Zeit- und Energieaufwand oft zwiespältig. Oder gar scheiße? Vor ein paar Monaten hätte ich das noch mit voller Inbrunst unterschrieben. Habe sogar allgemein über den Zweck von regelmäßiger Lohnarbeit gezetert. Habe Songs darüber geschrieben und morgens rausgebrüllt, meist war es der Blues (vgl. Gary Flanell - "Scheiß Lohnarbeits-Blues").

Nun ist es so, dass die Routine wirkt: Ich bin zufrieden mit meinem Job. Es gibt Geld, Struktur und Anerkennung und wirklich guten Kaffee. Ok, Geld ist auch Anerkennung, aber wenn das was du tust, von deinen Kolleg*innen als gut angesehen wird, dann ist das the groovy kind of Anerkennung. Alles tutti Sahne und gut also, zumindest in diesem Lebensbereich. Und trotzdem, der Zweifel, ob das alles sinnig ist oder gewollt, bleibt. Wird bleiben. Immer ein bißchen. Der Blues zupft mich jetzt halt im Hinterkopf und nicht vorne auf dem Stirnlappen. Fast jeden Song, der diese Ambivalenz von Arbeit thematisiert, finde ich erstmal gut.

Aktuelles Beispiel: Die neue Single namens "Fleißig" von NICHTSEATTLE a.k.a. Katja Kollmann und Band. Textlich so ziemlich alles zusammenfassend, was es dazu im 21. Jahrhundert zu sagen gibt: Über das Abrackern, das Ungläubig Zugucken, auf das, was die anderen für einen Quatsch machen, um im Hamsterrad arbeitsfähig zu bleiben.


Allerdings liegt die Ambivalenz darin, dass es nicht mehr reicht, mit slackerhafter Verächtlichkeit auf all die Idioten zu gucken, die jeden Tag um 8 Uhr morgens im Büro sitzen, während man selber... ja was eigentlich tut?
Um 8 Uhr auch im Büro sitzen, allerdings in dem von deinem Jobcenterberater. Auch nicht cool.


Davon ab geht es hier nicht nur um Arbeit. Eher um das ziemlich häufig auftretende Gefühl, nie genug getan zu haben, immer was machen zu müssen, in der Affenbande der Selbstoptimierung mit durch den Dschungel zu rennen, um dieses Andauernd-was-machen zu müssen, vielleicht auch die dunkle selbstausbeuterische Seite des Prizips DIY (sage ich so und tippe abends um fast elf diesen Text in diesen Blog). Und um eben das Gefühl des "Reicht nicht."

Auf "Fleißig" geht Kollmann das Thema recht poetry-slam-artig an, direkt über die gezupfte unverzerrte E-Gitarre aus der Bob-Dylan-Schule drüber, wird sprechgesungen, ohne sich an HipHop ranzuschleimen und langsam schält sich noch ein Schlagzeug in den Wulst aus Melancholie und Wut. Die oft wiederholte frustig rausgeschrieene Erkenntnis "Ich bin immer so fleißig aber irgendwie... reicht's nicht." drückt schon so gut aus, wie sich die Lohnarbeitswelt im 21. Jahrundert allzu oft darstellt.

Und da könnte sich jeder angesprochen fühlen: Die Tramfahrerin, der vollbärtige Barkeeper hinterm Tresen in deiner Lieblingskneipe, die studentisch Beschäftige in der Unibibliothek, der Post-Doc-Mensch mit einer ganzen Reihe von befristeten Lehraufträgen, die Irgendwas-mit-Medien-Menschen, die Referendar*innen, die am Rande des Burn-Out-Vulkans durch ihre Ausbildung balancieren, freiberufliche Grafiker*innen, Schreiber*innen, Soundtechniker*innen, Musiker*innen, die Quereinsteiger*innen, die sich das mal alles ganz anders vorgestellt haben, die Homies bei Zalando im Lager, der Typ auf dem Wolt-Fahrrad vor dir... soviele Menschen.
Vielleicht sogar die Festangestellten im Öffentlichen Dienst, aber was weiß ich?
Ich stell jetzt den Wecker, muss ja morgen früh raus. Ihr kennt das. Nicht so früh, dass es weh tut... aber trotzdem.

Also: Neue Single "Fleißig" von Nicht-Seattle & Band ist raus, Album "Haus" (produziert von Olaf O.P.A.L.) kommt im April. Auf Staatsakt.
Darüber wird zu schreiben sein.

Gary Flanell

Samstag, 20. Januar 2024

Schön wenn Menschen noch Orgel spielen Pt. XXIIXX


E.T. Explore Me – Drug Me

Drog mich!
Los, komm schon, Drog mich!
Manche Albumtitel lassen sich einfach nicht 1:1 übersetzen, wie wir sehen. Funktioniert nicht.
Drog mich!
Was aber gut funktioniert, ist so orgelgetriebener Psychedelic-Garage Rock von diesen drei Niederländern. Finde ich ja fast immer geil, sowas. Sich nicht nur auf die Kraft der Twang-Delay-Reverb-Gitarre zu verlassen und das Soundspektrum etwas zu erweitern, da steig ich gerne sofort ein. Drog mich! Hier in den heiligen Renfield-Hallen stehen auch diverse Orgeln rum. Direkt neben mir eine Eco Tiger, leider an der ein oder anderen Taste etwas kaputt. Ist nicht so, dass ich wirklich spielen könnte, aber es geht mehr darum, Töne zu erzeugen, als den perfekten Boogie hinzulegen.
Drog mich!

Eine Tiger hat das Trio aus den Niederlanden nicht an Board, ihr Monster mit Tasten ist eine ACE Tone Compact, Orgelexperten werden jetzt sicher lustvoll aufstöhnen. Wenn es das Trum ist, das auf den Fotos vom Infoblatt zu sehen ist, dann ähnelt diese Orgel eher einer Weltmeister Orgel aus DDR-Zeiten (steht auch hier irgendwo im Eck), Feeling B hatten so ein Ding, und es wiegt ca. 35 Kilo. Heavy stuff also. Ich denke, gewichtsmäßig könnte das ACE-Tone-Moped ähnlich gelagert sein. Drog mich!



„Aber lohnt sich das denn? So schwere Instrumente, wo heute dein Handy 3000 verschiedene Synthiesounds basteln kann?“ fragen sich die Feingeister? Na sowas von. Denn schwere Orgeln machen schwer geile Sounds, zu irgendwas muss die verbaute Elektronik ja da sein. Drog mich! Bei E.T. EXLPORE wird’s mal eher fix und nach vorne gehend (Höre "Boots" oder „Noon“, das ist schon schlecht gelaunter Noise-Rock und „SIC“, mit der wunderbaren Kim Tee Lo als Gastsängern) oder eher schwül-mysteriös. THE LO-FAT ORCHESTRA wären so Büder im Geiste, denke ich. Wenn es ein wenig langsamer, rhythmischer und psychedelischer wird, macht „Drug me“ am meisten Spaß. Mir zumindest, hier auf dem Teppich liegend.
Drog mich!

Bestes Beispiel wäre „Lipstick vibrators“, auch weil da diese brummelige Stimme von Joost Varkevisser so geil rüberkommt. Zuweilen muss ich auch an HUGO RACE & THE TRUE SPIRIT denken. Drog mich! Bei denen wird ja auch viel bedeutungsschwanger gebrummelt und somit angenehm desperate Stimmung erzeugt wie kurz vorm Showdown im Spaghetti-Western. Das können Joost und die beiden Jeroens auch recht gut. Drog mich!

Achja, das Album heißt ja „Drug me“ (Drog mich!), aber die Verzückung funktioniert auch sehr gut ohne Zugabe von psychedelischen Substanzen. Wie ich feststelle. Was erst passiert, wenn man sich dazu die richtigen Dinge zuführt, überlasse ich den pillenwerfenden Beatfreaks. Und das hier ist sicher keine naive Lobhudelei auf den Drogenkonsum. Denn wir wissen ja alle, dass Drogen scheiße sind und zumeist auch überaus doof und hässlich machen. Mindestens zwei Gründe, keine längerfristig zu nehmen. Ich hab jetzt eher Bock af Apfelstrudel. Drog mich!

Diese Rezension wurde im 10 minütigen Free writing Verfahren geschrieben und nur sanft redigiert.

Gary Flanell

E.T. Explore Me – Drug Me ist als CD und LP am 19.01.2024 auf Voodoo Rhythm Records erschienen.

Montag, 15. Januar 2024

Schön, wenn Bands noch Musik machen Pt. XIXIIIX


N.T.Ä.
Stories The Pave The Road To Hell


Jetzt ist es so, dass da draußen irgendwelche Bauern und ihre rechten Anhänger/Freunde/Kameraden/Genossen/Provokateure vor meiner Tür demonstrieren und ganz böse und sauer „auf die da oben sind“.
Und deshalb schreien sie Parolen, die teilweise so dermaßen unter der Gürtellinie sind, dass man sich auf einer Pegida-Demo wähnen könnte. So darf man Wut nicht kanalisieren.

Dann schon lieber auf die Art und Weise, wie es N.T.Ä. auf ihrem ersten Album „Stories The Pave The Road To Hell “ vormachen. Hier singt sich Frontfrau Nadine Nevermore die Seele aus dem Leib, als könnte sie alles Übel der Welt einfach wegschreien. Unterstützt wird sie dabei von ihren zwei Mitstreitern Tommy Crack und Axel Äxport. Das sind doch alleine schon mal echte Punk-Namen. Und so klingt auch die Musik dieses Trios. Direkt, raus, rotzig und nach vorne rausgeprügelt. Old School im wahrsten Sinne des Wortes. Eine sehr löbliche Form der Auflehnung und des Protestes. Auch in den Texten, die sich mit dem ganzen Scheiß da draußen von Armut über Drogen bis falschen Freunden auseinandersetzen. Verpackt in Hardcore-Punk-Sound der klassischen Art.



Das Album hätte auch gut in den frühen 90er Jahren das Licht der Welt erblicken können. Hat es aber nicht, sondern heute. Und auch im Hier und Jetzt passt das gut rein. Punk ist ja auch irgendwie zeitlos. Genauso wie die Proteste da draußen. Times are changing und bleiben doch irgendwie immer gleich. Da brauchen wir so einen Sound. Egal aus welchem Land er kommt, sogar aus Deutschland (Du alte Sau!).

Abel Gebhardt

N.T.Ä. - Stories The Pave The Road To Hell erscheint am 26.01.2024 als LP/CD auf Kidnap Music.

Samstag, 6. Januar 2024

Schön wenn Garagepunks noch Garagepunk machen Pt. XIIX


Japanischer Garage-Punk hatte schon immer eine ganz eigene Faszination. Das lag sicher zum einen an der für europäische Hörer recht überdrehten Performance
und nunja, grellen, fast comicartigen Interpretation von Rock'n'Roll und Punk. Das hatte und hat immer großen Unterhaltungswert, dafür muss man sich nur mal auf einen Gig von GUITAR WOLF begeben. Und sicher liegt's manchmal auch an den Lyrics, die oft gar nicht zu verstehen waren, selbst wenn klar war, dass da irgendwie auf Englisch gesungen wurde. Was aber auch wieder egal war, denn: Einen Scheiß drauf geben, ob dich jemand versteht oder eben auch nicht nicht, das war Punkrock.

Neben GUITAR WOLF gab es noch die in den 90ern recht präsenten TEEN GENERATE aus Tokyo, die unzählige Singles und LP's auf Labels wie Crypt oder Estrus rausgebracht haben. Wer "Wild Zero", das Rock'n'Roll-Wunderwerk im Filmformat, gesehen hatte, der kannte auch diese Garage-Punks.
Was aus denen geworden ist? Gebe zu, dass ich mich das in den letzten Jahre kaum gefragt habe. Die werden schon irgendwo sein, aber eben nicht in meiner Lebenrealität, dachte ich.

Eine hübsche Überraschung, dass nun die ANGEL FACES (nicht zu verwechseln mit der ähnlich klingenden französischen Band aus den 80ern) um die Ecke kommen, denn damit schließt sich der Kreis zu TEENGENERATE. Deren Gitarrist Fink hat nämlich, so scheint es, eine neue Crew um sich geschart und jetzt haut man gleich mal ein knackiges Album und eine 7inch raus.
Musikalisch ist klar, wohin es geht, die machen jetzt keinen Glee-Doom oder experimentellen Wurst-Wave. Sehr frischen Garage-Rock präsentiert man. Als wäre es immer noch Mitte der 90er, die Lederjacke und das Ramones-Shirt in Größe M würden immer noch passen und Chucks wären immer noch das, was als Gesundheitsschuhe durchgehen würde.
Die Gitarre klirrt wunderbar schrammelig-dünn und früh-punkrockig, eigentlich alle Songs haben ein ordentliches Tempo und der Gesang von Hercules (SO muss ein*e Sänger*in heißen! Eigentlich sollte es in jeder fuckin' Garageband eine Person namens Hercules geben. Grüße an dieser Stelle an die Cockbirds. Habt alles richtig gemacht.) ist angenehm struppig.


Bei manchen Chören muss ich glatt an müllige TOY DOLLS nennen, ohne dass der Gesang zu Olga-esk wird. Ansonsten regieren Ramones-Riffs und - TEEN GENERATE-Beats, alles schön billo, aber nie so lederartig finster wie GUITAR WOLF, sondern sehr gut gelaunt, also wie gemacht für eine richtig geile Punkrock Party. Bei "I can't stop" gönnt man sich sogar eine Reminiszenz an Chubby Checkers Twist - twistig wird's dann aber doch nicht.
Das schöne ist nun einfach, dass das zwar alles wieder erkennbar ist, aber soviele Bands, die diesen Stiefel fahren, gibt's auch nicht mehr. Von daher große Freude, dass Fink und seine Bande am Start sind. Fast schon beruhigend sowas. Hoffentlich gibt's ANGEL FACE bald mal live zu sehen. Ich komm dann rum.

C auf der 26,5-teiligen bewertungs-Skala aus dem Renfield-Universum.

Gary Flanell

Das selbstbenannte Debut-Album vom ANGEL FACE ist auf Slovenly Records erschienen.

Freitag, 5. Januar 2024

Schön wenn MMMMenschen Musik machen, Part XIX

Mila Morgenstern + Michael Merkelbach
M4+ ½ =


Das Duo mit den vielen Ms macht auf diesem Tape zu zweit Musik im Mehrspurverfahren. Eine erfrischende Ansammlung diverser Groß- (Fender Rhodes, Bassquerflöte) und Klein-Instrumente (Maultrommel, Thermoskanne) addiert sich zum verträumt vor sich hin murmelnden Gesamtsound, der gegen Ende auch noch funky wird. 

Ein paar Samples sind in den Arrangements versteckt und werden geklärt, mir sind sie nicht aufgefallen. Dafür hab ich das Rätsel um die seltsam mathematisch anmutenden Titel schon mal gelöst.

Spoiler Alarm: Sie entsprechen jeweils der Anzahl der Viertelnoten pro Takt bzw. Loop-Periode. Da fast alle Titel auf „1/2“ enden, gibt es also jede Menge stranger Rhythmen, nur nicht so simple Sachen wie Vierviertel oder Walzer oder so. In Griechenland normal, hier eine Art Rhythmus-Sudoku, zusammengepuzzelt von den beiden Ms. in ihrem Musikzimmer und mit (1/2?) Gast.


Für alle, denen das jetzt aber zu viel Gezähle ist, haben alle Stücke noch poetische Alternativtitel zwischen Morbidität und Melancholie. Damit passen sie auch ganz gut zum manischen Morphen und Mäandern der Musik. Die würde mir noch besser gefallen, wenn beim Anhäufen der Spuren oder spätestens im Mix noch ein bisschen Luft zum Atmen geblieben wäre.

Sun Ra Bullock

Mila Morgenstern + Michael Merkelbach - M4+ ½ = - ist erschienen auf Tomatenplatten