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Sonntag, 5. März 2023

Schamanen-Punk im Badehaus: VHK & Törzs, live 04.03.2023

Intro. Am Tresen.

Typ: Bist du nicht der Goldschmied aus der Gräfestraße?

Ich: Nee, seh ich so aus?

Typ: Jau. Du siehst voll so aus wie der Goldschmied aus der Gräfestraße.

Ich: Nee, sorry, kann ich nicht mit dienen. Aber wenn ich so ausseh, dann geh ich vielleicht mal da hin und mach ein bißchen was mit Gold.

Typ: Gute Idee, mach mal.

*****

Die Rasenden Leichenbeschauer spielen im Badehaus auf dem RAW-Gelände. Ich nenne sie hier mal VHK, das ist die Abkürzung des ungarischen Namens Vágtázó Halottkémek, den ich kaum aussprechen kann. Rasende Leichenbeschauer. Allein mit dem bescheuerten Namen hatten sie mich in den 90ern schon am Wickel. Hab mir bei Malibu diese LP bestellt, die auf Alternative Tentacles raugekommen ist, "Hammering at the gates of nothingness". Auch das ein schöner sprechender Name. Was das heißen sollte, wusste ich damals nicht. Ich weiß es auch heute nicht. Es könnte so einiges heißen, alles vielleicht. Oder gar nichts. Aber es klingt toll.

VHK habe ich lange Zeit vergessen. Keine Ahnung, wo die in den letzten Jahrzehnten so waren. Im Fußball-Sprech gibt es ja die Phrase von den Toren, die man machen muss. Ich denke, es gibt auch Konzerte, die man machen muss. In den 90ern habe ich kein VHK-Konzert gemacht. Wie auch, die haben ja nie in unseren Breiten gespielt? Und die Informationslage zu ungarischem Schamanen-Punk war eher dürftig.

Jetzt also die Info, dass sie in Berlin spielen. Wieder der Gedanke wie bei vielen alten Bands: Was, die gibt's noch? Große Freude. Und Unruhe. Was, wenn das Konzert ausverkauft ist? Das wär scheiße. Also schnell Tickets besorgt, wer weiß, was da los ist. Will nicht auf dem RAW-Gelände stehen und in die Kälte frusten, weil alles sold out ist. Nela und Alex kommen mit, drei Tickets sind dann doch fix gebucht. Danke Alex.

Das Badehaus ist nicht ansatzweise ausverkauft. Meine Befürchtungen waren umsonst, allerdings auch meine Einschätzung der Relevanz von VHK. Alles verschwindet. Relevanz als erstes, dann Bands und dann die eigene Wahrnehmung. Nichts ist mehr so wichtig, wie wir es gern hätten.

Das Badehaus ist zwar nicht menschenleer, aber auch nicht proppevoll. Wir sind so pünktlich, dass die Vorband schon angefangen hat. TÖRZS. Klingt vom Einlass aus so zurückhaltend, als würde die Musik aus der Bluetooth-Box kommen. Ist dann aber doch schon live. Drei jungen Typen, alle sehr konzentriert und introvertiert auf der Bühne. Bass, Gitarre, Schlagzeug, das übliche. Kein Gesang, aber gut machtes Instrumentalzeug.


So eine flirrende dünne Gitarre, die wie eine verträumte Libelle über den Rhythmusteich schwebt, dazu stoisch korrekter Bass und entspanntes Trommeln. MONO und MOGWAI fallen mir ein, TÖRZS sind definitiv nicht schlechter, vielleicht ein bißchen zu unauffällig insgesamt. Bei Bands aus Berlin, die sowas veranstalten, würde ich rausgehen und einen rauchen, hier gefällt mir das zur Akklimatisierung sehr gut.

Das Badehaus ist eh eine schöne Location. Angenehme Größe, Bar und Konzertraum gut getrennt, guter Sound und rauchfrei. Das ist schon geil. Die Klamotten stinken nur nach Schweiß und Mensch und nicht nach stickigen Rauch. Sowas ist wichtig mittlerweile.
VHK fangen... wann an? Lass es neun Uhr sein oder so. Zeit ist nicht so wichtig, wie wir feststellen werden. Raum irgendwie auch nicht. Wahrnehmung schon eher.
Wahrzunehmen ist bei der anstehenden Schamanen-Punk-Performance erst einmal folgendes: Gleich sieben Männer stehen auf der Bühne. Nur Typen. Alles ist doppelt vorhanden: En Sänger, zwei Gitarristen, zwei Bassisten, zwei Trommler. Einer davon mehr so der Percussionist mit riesigen galeerenartigen Trommeln und Schlagwerkzeugen. Er dann auch noch so in Fell gehüllt. Alle Musiker mit kryptischen Zeichen, Linien und Mosaiken an Laib und Kopf versehen. Schlachtbemalung für den kosmischen Tanz eben. Kann also losgehen.

Hinter der Band ein riesiges Backdrop mit archaisch anmutenden Zeichnungen, wie man sie von den VHK-Platten kennt. Dieser Hybrid aus Rinderschädel und Steinzeitadler, links und rechts riesige Traumfänger, vor der Bühne an der Ecke ein rot beleuchteter Rinderschädel. Es sieht aus, als hätte jemand ein Goa-Zelt von der Fusion im Badehaus ausgepackt. Sonne, Mond und Sterne - made in Schamania.
Es geht dann ohne Vorwarnung los. Peng, eine Eruption mitten in die Fresse. Die ersten fünf Minuten stehe ich mit geschlossenen Augen da. Bin mitten drin im Sturm aus Tribal drums, humanem Wolfsgeheul, Gitarrenlärm und Bassgeblubber. Die Mitte des Universums ist in diesem Moment Attila Grandpierre. VHK-Sänger. Neben dem Bassisten schon von Anfang an dabei. Laut Wikipedia unglaubliche 71 Jahre alt und dabei so knackig und sehnig wie ein junger Hirsch. Astrophysiker ist er auch. Warum passt das mit dem, was er da auf der Bühne abzieht so wunderbar zusmmen und ist so gar kein Widerspruch? Steht da in einem bunten Talar wie ein animistischer Priester, auf dem auch wieder die Symbole von Hirsch, Sonne, Mond und Sternenwirbel zu finden sind. Gleich zu Beginn bricht alles los, als wollte die Band den Urknall reenacten. Strobo auf volle Pulle, man muss sich abwenden vor soviel Helligkeit und akustischem Druck. 90 Minuten lang wird im folgenden das All, die Galaxie, das Universum, alle Sternbilder, die sich so finden, in Sound und Licht komprimiert. Das Badehaus fliegt davon und alle anwesenden Zeug*innen dieses Infernos gleich mit.


Meine Augen bleiben lange geschlossen. Ich muss auch gar nichts sehen; sich in diesen Mahlstrom fallen zu lassen, reicht aus. Merke irgendwann, dass ich mir vor langer Zeit, es mag ein oder zwei Äonen her sein, mal eine Limo holen wollte. Geht aber nicht. Die Leichenbeschauer lassen keine*n Anwesenden aus dem Bannstrahl, peitschen Publikum und sich selber 90 verdammt kosmische Minuten lang durchs Universum. Lärm, Rhythmen, Extase. Das wollten wir und das haben wir bekommen. Egy kozmikus tombolás.
Wildes, unverständliches Geheul. Ob das Ungarisch ist oder animalische Lautäußerungen, wer kann das sagen? Ein einziges Brodeln, ein Kochen, keine Ansagen, keine Begrüßung, keine Verabschiedung. Würde alles nur den Zauber zerstören. Ich erwarte, dass es klopft, und der Mond reinkommt, weil ihn jemand gerufen hat. Jupiter und Venus waren neulich am Himmel zu sehen, sagten die Facebook-Spatzen. Ich glaube zu wissen, was sie mit ihrem Erscheinen ankündigen wollten. Das hier.

Füße wieder auf der Erde. Realitätscheck.
Es gab dann doch ein paar Punkte, die mir bei aller Faszination aufgefallen sind:

1. Keine Leichenbeschauer*innen:
Von ausgeglichenem Männer/Frauenverhältnis ist auf der Bühne keine Spur. VHK bestehen in der derzeitigen Konstellation nur aus sechs weißen jungen und alten Männern. Die einzige Frau von der Crew verkauft Shirts am Merch-Stand. Aufgabenteilung also wie so oft im Punkzirkus. Schamanen-Punk könnte gut eine Prise Geschlechterparität vertragen.

2. Die Posen der Schamanen:
Attila und Bassist Soós Lajos Szónusz sind die einzigen verbliebenen VHK-Urmitglieder. Derzeit haben die beiden Silberrücken eine ziemlich junge Grupe an Musikern um sich geschart. Die wirken, als hätten sie intensiv die Posen alter 80er-Metalbands studiert. Ein beinn auf die Box gestellt, die langen Haare zurückgeworfen, die Gitarre auch mal af dem Rücken gespielt oder ins Publiku gegeben. Rücken sich aber nie zu sehr in den Vordergrund damit, den da dreht sich und steht ja Attila, das Zentrum des VHK-Universums und das sei ihm auch gegönnt.

3. The Joy of Schamanisten aging & welcome to the working week:
Alle Welt redet von Iggy Pop und wie fit der noch wäre für sei Alter. Scheiß doch auf ollen Pop. Wenn ihr einen rüstigen Rockrentner sehen wollt, dann geht zu einem VHK-Konzert. Attila is the man. The old man. Der Gig war im übrigen eine einmalige Sache. Der nette TÖRZS-Gitarrist erzählt, dass beide Bands nur für diesen einen Gig von Budapest nach Berlin gefahren sind. Während ich diese Zeilen schreibe ist also sicher ein Trail von ungarischen Schamanenpunks auf schneeverwehten Autobahne unterwegs Richtung Südosten. Denn Lohnarbeit macht auch vor Rock-Derwischen nicht halt. Und am Montag muss man halt wieder an die digitale oder analoge Schippe. Nur Attila Grandpierre wahrscheinlich nicht, es sei ihm zu gönnen, mit über 70 den Ruhestand eines Astrophysikers zu genießen. Soós Lajos Szónusz natürlich auch.



Gary Flanell

Fotos: Frau Knaup