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Donnerstag, 6. April 2023

Men out of time (Charley Crocket & Friendly Rich)

Neulich war ich bei IKEA - unnd danach mit sehr viel Weltschmerz und Depression erfüllt. Soviel Sinnlosigkeit. Soviele Menschen, die wie die Lemminge Sinn im Kauf suchen. Ihr Narren. ihr Wahnsinnigen. Ok, lustig war es auch. Im Kino hätte ich weniger Spaß gehabt, aber mehr Eintritt bezahlt. Kino hätte aber mehr Vergnügen geschafft. Denn trotz aller Häme im Möbelhaus: Solche Besuche erschöpfen mich einfach und ich fühle mich viel älter als ich bin. Soviel Quatsch, den man eigentlich nicht braucht, von alle zuviel, vor allem von Menschen. Kann mich mit diesem Gefühl der Erschöpfung ob soviel gefühltem Unsinn nur dem Kollegen Nals anschließen, der seine Perspektive auf Shopping-Malls ja vor einigen Tagen hier eingebracht hat.

Zum Glück gibt es Gegengifte zu solchen Gefühlen - meistens und am wirksamsten ist Musik. Interessanterweise Musik, die selber nicht besonders hoffnungsvoll und optimistisch daher kommt. War es Townes Van Zandt, der gesagt hat: "Nicht alle meine Lieder sind traurig, manche sind auch hoffnugslos"? Großartig. Da muss ich doch wieder herzlich lachen und mit mir die Krähen im Baum über mir und dann ist die Welt wieder ok. Für ein Wochenende.

Hier also mal zwei meiner derzeitigen absoluten Seelenbalsam-Songs gegen die Depression, die sich aus Überdruss, Erschöpfung und Sinnlosigkeit speist und dort am besten gedeiht, wenn zuviele Menschen unfreiwillig aufeinanderhocken und man dir zwanghaftes Feel-Good-ehm, Feeling einimpfen will.

1. Charley Crockett - Lesson in Depression

Crockett liebe ich schon seit Jahren. Entdeckt habe ich ihn vor einiger Zeit im Urlaub in Posnan. Lag im Hostelbett, hatte nix zu tun und dann kam "Welcome to the hard times" beim YT-Scrollen daher. Soviel Spaß an Western-Musik und Cowboy-Romantik hatte ich lange nicht mehr. Eine detailliertere Betrachtung von Charleys wirklich umfangreichen Werk (10 Platten in acht Jahren) steht auf der To-Do-Liste für diesen Blog. Kommt dann demnächst.
Aber was ich jetzt schon empfehlen kann, ist "Lesson in Depression". Geiler Song, um mit dem Thema umzugehen. Psychic Appropriation nenne ich das hier mal, die Umkehrung der Depression als Makel, da finde ich mich voll wieder. Man kann auf Depressionen nicht stolz sein, sie hindern eine*n sehr häufig an einfachen alltäglichen Dingen, aber thematisieren sollte man sie. Und Charley hat das sehr schön gemacht.



2. Friendly Rich - Man Out Of Time

Nächster Kandidat für den paradoxen Feel-Good-Soundtrack: Friendly Rich. Kommt aus Kanada und hat jetzt gerade eine neue Platte raus, "Man out of time". Ha! Und auch da fühle ich mich sofort gut abgehoben. Wie nennt man sowas? Outsider Music? Weird Folk? Na, sowas halt.
Stell dir irgendwas seltsam kauziges von Tom Waits vor, wenn der sich an Metal-Growls mit Vaudeville-Band versuchen würde. Ja klar, der Waits-Vergleich kommt auch wegen der Stimme daher. Schön düster, als würde sich Friendly Rich beim Spielen zum Sterben in die Wälder zurückziehen. Oder zum Rendez-Vous mit dem Wendigo.

Auf der Fusion hat er schon gespielt, also sollte seine neue LP "Man out of time" (Ende März erschienen) nicht nur irgendwo in kanadischen Plattenläden zu kriegen sein, sondern auch in ausgewählten Plattenläden in dieser Gegend des Planeten. Total verrückt wäre es natürlich, wenn er demnächst auch mal hier stinknormale Clubgigs spielen würde. Ins Bassy hätte er super gepasst, ähnlich wie Sean Rowe, damals. Aber das Bassy gibt's ja gar nicht mehr. Hmmmm.

Dienstag, 4. April 2023

Die Hölle


Ich weiß jetzt wie die Hölle aussieht:

Es ist ein Einkaufszentrum, so ein riesiges wie der Alexa in Berlin am Alexanderplatz.

Oder heißt es ‚das Alexa’? Oder – naheliegenderweise –‚die Alexa’? Also, die Alexa an einem Samstag, das müsste der Hölle ziemlich ähnlich sehen. Da überkommen die dafür empfänglichen Besucher grundsätzliche Fragen der Menschheit – und bleiben doch vollkommen unbeantwortbar:

Woher kommen wir eigentlich?

Wohin gehen wir?

Wer hat das alles so eingerichtet?

Wie sind wir hier hineingeraten?

Wieso kommen wir nicht mehr heraus?

Wieso ist hier plötzlich die Voltairestraße?

Hat das alles einen Sinn?

Wieso gibt es überhaupt einen Starbucks und nicht vielmehr nichts?

Sartre hat in "Die geschlossene Gesellschaft" geschrieben: »Die Hölle, das sind die anderen.« Jetzt weiß ich, was er gemeint hat. Es sind vor allem diejenigen anderen, die ihre Kleidung hektoliterweise kaufen und in mehreren Papiertüten hinter sich herschleifen. Das ist kein Einkaufszentrum. Korrekterweise muss es ‚Shopping Mall’ genannt werden. Denn kaufen tut man Notwendiges.

Shoppen dagegen ist eine religiöse, eine ganzheitliche Erfahrung, die Gaffen, Unnötiges erstehen (das eine Woche später auf Ebay landet) und teuer Aufgetautes aus der System-Gastronomie Herunterwürgen umfasst. Die vollständige Abwesenheit von Sinn empfinden die Buddhisten als Befreiung und nennen sie Nirwana.
Als unumkehrbar Okzidentaler bedeutet sie für mich nur die Hölle. Wissen alle hier Anwesenden, all die Katholiken, Protestanten und Muslime, dass sie gerade religiös querpudern? Werden sie nicht dereinst gerade deshalb in die Hölle kommen – also in ihre Hölle?
Und warum müssen Atheisten wie ich durch die Hölle auf Erden, wenn sie nicht an die Hölle im Untergeschoß des Himmels glauben? Die anderen können sich hier wenigsten vorbereiten; die haben wenigstens was davon; die kommen dann unten an und sagen: »Ach sooo! Wie in der Alexa ist das hier. Vielleicht kann ich jetzt endlich meine Sammelkarte vervollständigen und kriege den zehnten Peitschenhieb gratis.«
Aber wir?

»Der Herr schaut noch?«

Nein, der Herr hört leider auch noch. Nämlich diesen Electro-R ’n’ B-Angriffskrieg gegen jeglichen musikalischen Geschmack, der dennoch zur Konsens-Musik erklärt worden ist. Das soll die Musik sein, die allen gefällt? Und in der U-Bahn-Station nebenan wird Klassik über die Lautsprecher gespielt, um die Säufer zu vertreiben.

Bach soll die Menschen abstoßen – und dieses Disco-Geblubber sie anziehen. Warum, zur Hölle, ist mir das unbegreiflich?
Aber es sind ja zehn Schuhgeschäfte in dieses Einkaufszentrum gepresst und ich brauche Schuhe, dringend, gegen die Knieschmerzen, die langsam unerträglich werden. Nach dem zehnten Paar, das ich im dritten Schuhgeschäft probiert habe, will ich der sechsten Verkäuferin eine Verdienst-Medaille verleihen, weil sie diese Umgebung erträgt mitsamt der Muzak, all den Jugendlichen ohne vernünftige Freizeitbeschäftigung, den Erwachsenen im Schnäppchenrausch – und mitsamt mir, der sich noch immer nicht für das knieschonendste Paar entscheiden kann.
Aber wie soll man auch die weichen Sohlen überhaupt wahrnehmen können, wenn die Musik im Fahrstuhl Richtung Untergeschoß am ganzen Körper Krämpfe verursacht stärker als die eines Epileptikers? Easy listening is a heavy duty.

Nach zwei Stunden versuche ich fluchtartig, irgendwie einen Ausgang zu finden, weil mittlerweile der Knieschmerz vom Ohrenschmerz und vom Weltschmerz überdeckt wird.
Aber die Sache hat einen Pferdefuß: In weiser Voraussicht haben die Architekten keine Balkone oder Terrassen an der Shopping Mall angebracht, weil es naheliegend wäre, sich von dort direkt hinunterzustürzen – entweder um der Qual durch einen Suizid ein sofortiges Ende zu bereiten oder weil man schlicht den Ausgang nicht findet.

Raus hier, völlig egal, ob aus dem Leben oder nur aus der Mall! Nachdem mir der Selbstmord verwehrt geblieben, jedoch endlich der Ausgang gefunden ist, bleibt mir nur eine Lösung: Ich kaufe mir fünf Pilsator, setze mich auf die Bank zu den Säufern und höre mit ihnen Bach. Dabei ist mir dann vollkommen egal, ob von Johann Sebastian, Carl Philipp Emanuel oder David Josef. Und Alkohol lindert bekanntlich selbst höllische Knieschmerzen.

Herr Nals

Die Hölle als Einkaufszentrum? Einkaufszentren als gescheiterte Höllen?

Gibt es unter retailhellunderground