Es gibt Menschen, die sagen, in den 80ern wäre nur Scheißmusik entstanden. Und es gibt Menschen, die sagen, dass die 80er voll mit ganz wunderbarer Musik waren.
Während die erste Gruppe sich mit Grausen an die Plastik-Pop-Produktionen aus dem Hause Stock, Aitken und Waterman erinnert, kommt der zweite Gruppe eher das in den Sinn, was damals an Indiemusik, Punk/Hardcore und anderen aufregenden Sounds jenseits vom Hauptstrom der tumben Hitparaden zu hören war. Vielleicht legen sie bei ihrem ganz privaten Rückblick auch eine Scheibe von den MILKSHAKES auf – jener Band, mit der ein gewisser Billy Childish europaweit für Aufsehen sorgte. Dass die MILKSHAKES eine von vielen Bands war, die ein gewisser Landstrich um das ostenglische Flüßchen Medway hervorgebracht hat, haben wahrscheinlich nicht allzuviele auf dem Schirm.
Dabei steht der Begriff der „Medway Bands“ (benannt nach dem 112 Kilometer langen Fluß, in der Grafschaft Kent) eben genau für Gruppen wie THE DENTISTS, THE POP RIVETS (Childishs erster Band) oder THE PRISONERS, die bei Punk/Garagebeat-Liebhabern auf großen Anklang stießen. Grund genug, die musikalische Geschichte von Orten wie Chatham oder Rochester mal in von Ian Snowball, Fachmann für britische Popkultur aufarbeiten zu lassen, der in "THE KIDS ARE ALL SQUARE - Medway Punk 1977-85" eine Menge Beteiligter über ihre Ansichten zur damaligen Punk/Garage/Rockabilly-Szene im Südosten Englands zu Wort kommen lässt.
Klar, auch Billy Childish hat dabei was zu erzählen, aber der hat das Buch ja nun mal nicht zusammengestellt, also haben wir für RENFIELD No. 27 uns mal direkt an Ian Snowball zum Thema Medway Punk gewandt.
Gary: Hallo Ian, Du hast schon einige Bücher zum Thema Popkultur geschrieben, beispielsweise über Oasis, The Jam oder Ocean Colour Scene. Woher kam die Idee, mal einen Blick auf die Urspünge der Medway Szene zu werfen?
Ian Snowball: Ich bin seit vielen Jahren ein großer Fan des MedwaySounds und der dazugehörigen Bands. Ich mache nur Buchprojekte, von denen ich weiß, dass sie mich motivieren und inspirieren. Sich das Medway-Projekt auszusuchen, lag also wirklich nahe.
Ursprünglich wollte ich ein Buch nur über die PRISONERS schreiben, aber irgendwie kam das nicht in die Gänge. Aber das Buchprojekt, das den Medway Sound gebührend würdigt, wollte ich immer noch unbedingt machen. Also habe ich Bob Collins von den Dentists gefragt, ob er daran interessiert sei, das Buch mit mir gemeinsam zu schreiben. Er stimmte zu und so saßen wir in einem Boot.
G.: Der Titel bezieht sich auf die Jahre zwischen 1977 und 1985. Warum hast du exakt diesen Zeitraum gewählt? 1977 als Jahr, in dem Punk quasi in die Welt trat, ist klar, aber was ist mit 1985? Gab es ein bestimmtes Ereignis, das das Ende der Medway Szene markierte?
I.: 1977 war der Startpunkt, als Legenden wie Billy Childish und Bruce Brand anfingen Bands zu gründen. Dann trafen sich Graham Day und Allan Crockford und gründeten auch eine Band und der Rest ist Geschichte. Mitte der 80er gab’s dann diese Zeit, wo die Sachen langsam runterfuhren. Für diese Bands ging das auf ganz natürliche Weise zu Ende, für sie begann etwas Neues. Da ging es nicht wirklich um eine Reaktion auf die Veränderungen der Musik zu dieser Zeit. Es gibt in dem Buch aber ein paar Beiträge von Mitgliedern der CHARLATANS und INSPIRAL CARPETS, die auch von den Medway Bands inspiriert wurden und das in ihre eigene Musik einfließen ließen, die wiederum um 1989 größeren Einfluss auf die Musikindustrie ausübte.
Und nur ein paar Jahre davor hatte die Struktur der Musikszene sich dramatisch verändert. Das betraf auch die Medwaybands. Graham Day versuchte sich beispielsweise an einer neuen Band namens PLANET, die fast schon Acid Jazz machten. Und dann war da noch James Taylor, der den Acid Jazz Sound stark geprägt hat. Es war ganz anders als das, was THE PRISONERS gemacht haben. Ich bin also nicht der Meinung, dass die Medway-Szene sich einfach aufgelöst hat. Sie hat sich in etwas anderes verwandelt.
G.: Wie hast du diese Zeit persönlich erlebt? Hast du damals was von den Bands aus der Medway Area mitbekommen?
I.: Die Medway Bands waren in den 80ern sehr Underground. Einerseits waren sie schon ziemlich bekannt, aber in mancher Hinsicht doch immer noch sehr alternativ. Eigentlich war es sogar so, dass viele Bands in anderen europäischen Ländern bekannter waren als gerade in England. Ich selber fand THE PRISONERS spannend, weil ich mit Musik aufgewachsen war, die so eine Mod/60s Richtung hatte. Die Milkshakes waren punkiger, und ich bin nicht mit den Punks rumgehangen. Da gab es schon zwei Lager. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich anfing, Billy Childish’s Musik wirklich zu schätzen.
G.: Wenn du The Milkshakes, The Dentists und The Prisoners nimmst – die ja den Kern der sogenannten Medway Bands stellen, was hatten diese drei Bands deiner Meinung nach gemeinsam?
I.: Ursprünglich wollte ich das Buch „No Compromise“ nennen (was dann am Ende nur der Titel eines Kapitels wurde). Damit wollte ich hervorheben, dass Bands wie The Prisoners und The Milkshakes diese Tendenz wichtig war, sich nicht zu kompromittieren. So erschien es auf jeden Fall der Musikpresse. Ich schätzte ihre Einstellung, dass ihnen diese Haltung wirklich wichtig war, dass sie ihre Musik für sich machen wollten, und das war‘s eben… Und wenn das noch jemand anders gut fand, umso besser, aber darauf kam‘s nicht an. Auch die Klamotten und die Wahl der Instrumente war eine gemeinsame Vorliebe, das war alles in den 60ern verwurzelt.
G.: Wieso glaubst du, haben sich gerade dort mitten in der englischen Provinz eine aufregende innovative Musikszene entwickelt? Glaubst du dass es im Nachhinein ein Vorteil war, dass diese Bands weit weg von den ständigen Ablenkungen einer Metropole entstanden sind?
I.: Ich glaube, in erster Linie waren die Bandmitglieder erst mal einfach sie selbst. Ihre Musik war eine Erweiterung ihrer selbst und der Orte, an denen sie lebten. Ich bin auch am Medway aufgewachsen, von daher sind mir die Landschaft, der Baustil, die Menschen und die Szenerie sehr vertraut. Ich denke, das beeinflusst schon, was die Leute so machen. London ist nur 30 Minuten entfernt, so dass wir schon Zugang zu dem hatten, was dort abging, ohne gleich Teil davon sein zu müssen. Ich glaube nicht, dass Langeweile was damit zu tun hat. Eher geht es bei den meisten Bands einfach darum, ein Instrument zu spielen und mit den Kumpels Songs zu schreiben. Von da aus kann sich alles Mögliche entwickeln, aber das Grundprinzip ist recht einfach. Aber ja, es hat schon etwas Mystisches und man kann viel darüber spekulieren, warum ein gewisser Sound ausgerechnet in einer kleinen Region in Kent entstanden ist. Die Frage kann wohl nie richtig beantwortet werden. Glücklicherweise.
G.: Es wird öfter berichtet, dass recht viele bekannte Bands aus Seattle von Billy Childish und anderen Medway-Bands beeinflusst sind. Wo würdest du Gemein-samkeiten zwischen der frühen Grunge-Szene und den Medway Bands sehen?
I.: Zu der Zeit selbst ist es mir nicht aufgefallen, aber als der Grunge-Hype nachließ, war schon deutlich zu sehen, dass ein paar dieser Bands ihre Inspirationen von Billy und Co. hatten. Jack White ist ein gutes Beispiel. Er wollte, dass Billy mit ihm bei Top of the Pops auftritt, aber die Show sagte nein. Also hat er sich Billy Childish stattdessen mit Tinte auf den Arm geschrieben. Ich denke, jede Art von Musik entwickelt ihre eigene Atmosphäre, und das ist es, worauf Leute reagieren. Also ja, Seattle hat auf Medway reagiert, und sie haben ihr eigenes Ding daraus geformt. Es gibt viele Bands, die Medway als Einfluß nennen. Manche dieser Einflüsse kann man in ihren Songs hören, aber es fehlt immer etwas, etwas Besonderes und Entscheidendes, das nur Bands aus den Medway-Städten haben. Es ist dasselbe, wenn eine Band wie die SPECIALS klingen will, aber nicht aus Coventry kommt. Oder man will wie die TEMPTATIONS klingen, hat aber nicht in Hitsville aufgenommen.
G.: Das, was im Buch geschildert wird, erinnert mich allerdings eher an die Szene um Dischord Records aus Washington – auch wenn die Musik eine ganz andere war: Da drehte sich auch alles um Fugazi, Ian McKaye und eben Dischord Records: Bands und Menschen, bei denen irgendwie ein gewisser DIY-Ethos in Bezug auf Aufnahmetechniken und Vertrieb wichtig war. Siehst du da Ähnlichkeiten?
I.: Das ist ein guter Punkt, genau das meinte ich eben mit dem Beispiel Hitsville. Ja, Studios und Produzenten haben einen ungeheuren Einfluss. Meine Band AUNT NELLY nimmt in den Ranscombe Studios in Rochester auf, die von einem super Typen namens Jim Riley geleitet werden. Er hat im Lauf der Jahre eine Menge Sachen von Billy Childish, Graham Day, Glenn Pragnell und all denen aufgenommen. Deswegen hat er diesen Sound einfach drauf und versteht ihn richtig gut. Jim hat auch selber in einer Medway Band gespielt, WIPEOUT. Er weiß also wirklich, was er da macht. Mir scheint, das Label, auf dem die Platten erscheinen, ist gar nicht so entscheidend. Die Medway Bands haben viele verschiedene Labels gehabt. Aber das Studio, das die Songs aufnimmt, das macht echt einen Unterschied.
G.: MILKSHAKES, DENTISTS, PRISONERS – das sind alles reine Jungs-Bands. Gab es in der Medway-Area in den 80ern keine Frauen, die in der Szene um diese Bands aktiv Musik waren? Warum war das ein reines Jungs-Ding?
I.: Ist das nicht in den meisten ‚Szenen‘ so? Man muss sich nur in den 60ern anschauen: THE BEATLES, WHO, SMALL FACES, in den 80ern bei Madchester die STONE ROSES und die INSPIRALS, die meisten Two Tone Bands bestehen aus Jungs... aber es gab auch die BODYSNATCHERS und in Medway gab es die HEADCOATEES, und später die A LINES. Aber im Großen und Ganzen denke ich, Jungs haben einfach mehr Interesse daran, in Bands zu spielen. Das wird wahrscheinlich auch immer so bleiben.
G.: Wenn ich an England und Punk denke, assoziiere ich damit Oi, Crustpunk, Anarchobands wie Crass und, klar, auch klassischen Punkrock wie Sex Pistols, Damned, The Clash usw. Aber das sind alles sehr eng definierte und eingegrenzte Szenen. Die Medwaybands schienen mir da eine leichtere, ironischere Definition von Punk zu haben. Eine, die offener ist, sich aber auch von anderen Subkulturen wie Mods, Psychobilllys, Gothics abgrenzt. Siehst du das ähnlich?
I.: Hier geht‘s wieder darum, dass die Medway Bands nie versucht haben, wie irgendjemand zu klingen oder zu sein, sondern einfach ihr eigenes Ding gemacht haben. Sie hatten nie vor, sich einer Szene anzugleichen. Sie wurden umgekehrt von den Mods, Punks und Psychobillys aufgegriffen. Es ist so ähnlich wie THE JAM. Die hatten auch nie vor, eine Mod- oder Punkband zu sein, und das waren sie auch nicht, aber die Mods und die Punks haben sie für sich entdeckt.
G.: War es schwierig, all die Interviewpartner für das Buch ausfindig zu machen?
I.: Nein, gar nicht! Wir hätten noch viele andere mit reinbringen können, aber wir mussten uns ja irgendwie begrenzen. Letzte Woche habe ich mit AUNT NELLY in Italien gespielt, als Vorband für eine alte Mod-Band, THE CLIQUE. Bruce Brand hat bei denen Gitarre gespielt, und wir sprachen über das Buch. Und er meinte bloß: „Das war ein Buch, das dringend geschrieben werden musste.“ Ich denke, dass Leute wie Billy und Graham das auch so sehen, und Bob und ich haben‘s eben einfach gemacht. Die ganze Geschichte ist in dem Buch, und es kann bei dem Buch nur um diese Geschichte gehen. Bob und ich sind sehr glücklich damit, wie es geworden ist und wer mit dabei ist.
G.: Warum hast du für das Buch die Interviewform gewählt? Warum ist es einfacher, das alles in einer oral history darzustellen?
I.: Ich benutze oft die Interview-Form. Es ist mir wichtig, Geschichte zu schreiben aus der Erfahrung der Leute heraus, die diese Geschichte gemacht haben. Ein Buch wird so vielfältig und schillernd. Billy erinnert sich vielleicht anders als Bruce oder Graham, aber jede Sicht zählt. Diese Methode fängt ein Gefühl für die Geschichte und ihren Sinn ein, und das setze ich gern beim Schreiben ein. Aus Erfahrung lernt man am besten, denke ich, also muss man mit den Leuten reden, die dabei waren.
G.: Ich finde Billy Childish ist mit Abstand die bekannteste Figur des Buches – wie war sein Reaktion als er von den Plänen, ein Buch über die Medway Bands zu machen, erfahren hat?
I.: Billy fand das in Ordnung. Wir kennen uns, und ich denke, er hat mir da vertraut. Das ist natürlich hilfreich. Bei den Büchern über THE JAM und OASIS war das auch so. Wenn man sowas machen will, müssen die Leute, um die es geht, dir vertrauen, dass du ihre Geschichte verstehst, weil sie ihnen wichtig ist. Und das Medway Buch war für Billy sehr wichtig. Und jetzt, da er es gesehen hat, ist er zufrieden. Ich hab so vor drei Wochen bei ihm vorbeigeschaut und wir haben ausführlich gequatscht über das Buch, und auch über das Buch, an dem er gerade schreibt. Billy ist ein faszinierender Typ, und es macht Spaß, mit ihm rumzuhängen.
G.: Ist denn heute eigentlich noch was vom Einfluss der frühen Medway Bands in Chatham und den anderen Städten der Medway-Region übrig geblieben?
I.: Klar sind da Bands, die werden da immer sein, und einige haben ihre Inspirationen von THE PRISONERS, MILKSHAKES und all den anderen. Aber vor allem sind die ja auch immer noch da, und die meisten von ihnen machen immer noch was. Glenn Pragnell von den OFFBEATS nimmt mit seiner Band GROOVY UNCLE auf, Graham spielt wieder mit Allan in GRAHAM DAY AND THE FOREFATHERS, und die DISCORDS gibt‘s immer noch. Und Billy natürlich, der wird bis zu seinen letzten Tagen spielen und aufnehmen. Der kann gar nicht anders!
G.: Du hast das Buch zusammen mit Bob Collins von den Dentists geschrieben. Die meisten Bücher von dir sind in Kooperation mit einem anderen Autor erschienen. Wieso schreibst du die meisten Bücher im „Doppelpack“?
I.: Mit verschiedenen Leuten habe ich verschiedene Arten der Zusammenarbeit entwickelt. Mit Bob war das unkompliziert. Wir haben uns die Interviews aufgeteilt. Das mit Billy haben wir zusammen gemacht, an einem Tag haben wir über vier Stunden mit ihm verbracht. Das ging dann so aus, dass Billy uns zu sich nach Hause geschleift hat, um uns neue Songs vorzuspielen. Eigentlich haben Bob und ich vor allem einfach mit all unseren Freunden gequatscht, die sowieso zu all diesen Medwaybands gehören. Aber wir kennen auch verschiedene Leute, das war natürlich praktisch.
Mir macht es Spaß, ein Buch mit jemand zusammen zu machen. Aber ich schreibe auch gerne literarischen Kram.
Literarisches Schreiben und Sachbücher sind schon ganz schön unterschiedlich. Für meinen ersten Roman LONG HOT SUMMER habe ich 2009 drei Wochen gebraucht. Ich denke, ein Buch zusammen zu schreiben funktioniert, wenn die Chemie stimmt. Gerade hab ich die Autobiographie für Rick Buckler von THE JAM geschrieben, als Ghostwriter. Rick und ich haben neun Monate dafür gebraucht, und sie wird zum Ende des Jahres erscheinen. Da gab’s eine Menge Interviews zu machen und zu transkribieren. Aber Rick ist ein total netter Kerl und ich bin ein riesiger Fan von THE JAM. Also war das ein großer Spaß.
Gary: Ian, vielen Dank für das Interview
“The kids are all square – Medway Punk 1977-85” (ISBN-10: 0992830419) ist bei Countdown Books erschienen.
countdownbooks.com
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Dienstag, 28. Oktober 2014
Dienstag, 21. Oktober 2014
Spend money, support the SO!
Mal ehrlich, wer in Kreuzberg wohnt und das SO36 NICHT kennt, hat sein wahrscheinlich sein Leben seit 36 Jahren unter einem Stein im Görlitzer Park verbracht. Und weiß wohl auch nicht, dass der frühere Berliner PLZ-bezirk diesem langlebigsten aller Clubs auf der Kreuzberger Oranienstraße den Namen gab.
Der Platz auf diesem Blog reicht wahrscheinlich nicht aus, um die Historie des SO36 in aller notwendigen Ausführlichkeit zu beleuchten. Ich würde mich zwar nicht als Stammgast bezeichnen, aber es gab mindestens eine Handvoll Konzerte , die ich dort gesehen haben und die schlicht legendär waren (THE BELLRAYS vor ein paar Jahren beispielsweise) und auch die Besuche auf dem immer wieder guten Nachtflohmarkt gehören beim regelmäßigen Lauf durch den Kiez dazu.
Aber das SO36 ist nicht nur für Kreuzberg wichtig, genauswenig wie es nur in Berlin bekannt ist. Ich würde sogar sagen, dass das SO deutschlandweit im Laufe der letzten Jahrzehnte einen legendären Ruf erarbeitet hat. Wer immer eine Connection zu subkulturellem Leben hat oder hatte und mal ein paar Tage in Berlin verbringt, wird auch das SO36 als Musste-ma-jesehen-haben-Ziel auf seiner Liste haben. Ähnliches gilt für die Bands, die es auf Tour hierhin verschlägt. Im Laufe der Jahrzehnte waren schon fast alle da, die man schon immer sehen wollte. Allein im Punkbereich sagen namen wie DEAD KENNEDYS, UK SUBS, RUTS DC, SICK OF IT ALL, SLIME eigentlich alles. Und das ist ja nur die weithin bekannte Spitze des Eisbergs all der Kapellen, die Monat für Monat in der Oranienstraße halt machen.
Jede dieser Band hat wahrscheinlich einen ganzen Sack voller Anekdoten zu diesem Laden zu erzählen. Und das SO36, hätte es denn Mund und Zunge, könnte wahrscheinlich auch mittlerweile tagelang darüber parlieren, was in seinen Wänden in den letzten drei Jahrzehnten so los war, seitdem es den Betrieb als Kollektiv-Club aufgenommen hat.
Natürlich war nicht alles immer Sahne, es gab Zeiten, da musste das SO regelrecht um seine Existenz als Live-Club kämpfen, aber auch solche schwierigeren Phasen(wie zum Beispiel 2009, als Beschwerden über Lärmbelästigung in der direkten nachbarschaft fast das Aus für den Laden bedeuteten) konnten dank eines großen Rückhalts im Kiez gut gemeistert werdenn. Es wird also Zeit, die SO36-Geschichte mal in Wort und Bild festzuhalten und an die Öffentlichkeit zu bringen. Der Zeitpunkt ist günstig, denn ein passenderer Anlass als der 36. Geburtstag lässt sich wohl kaum finden und deshalb plant das SO36-Kollektiv die schillernde Geschichte ihres Ladens in Buch- und DVD-Form unters Volk zu bringen. Da für solche Projekte "leider" immer eine Menge Geld nötig ist, wurde vom SO36-Kollektiv eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen. Wer also dieses wirklich sinnvolle Buchprojekt unterstützen will, kann die nächsten 17 Tage mal nutzen, um die Groschen aus seinem Sparstrumpf für eine gute und interessante Sache anzulegen.
Der Platz auf diesem Blog reicht wahrscheinlich nicht aus, um die Historie des SO36 in aller notwendigen Ausführlichkeit zu beleuchten. Ich würde mich zwar nicht als Stammgast bezeichnen, aber es gab mindestens eine Handvoll Konzerte , die ich dort gesehen haben und die schlicht legendär waren (THE BELLRAYS vor ein paar Jahren beispielsweise) und auch die Besuche auf dem immer wieder guten Nachtflohmarkt gehören beim regelmäßigen Lauf durch den Kiez dazu.
Aber das SO36 ist nicht nur für Kreuzberg wichtig, genauswenig wie es nur in Berlin bekannt ist. Ich würde sogar sagen, dass das SO deutschlandweit im Laufe der letzten Jahrzehnte einen legendären Ruf erarbeitet hat. Wer immer eine Connection zu subkulturellem Leben hat oder hatte und mal ein paar Tage in Berlin verbringt, wird auch das SO36 als Musste-ma-jesehen-haben-Ziel auf seiner Liste haben. Ähnliches gilt für die Bands, die es auf Tour hierhin verschlägt. Im Laufe der Jahrzehnte waren schon fast alle da, die man schon immer sehen wollte. Allein im Punkbereich sagen namen wie DEAD KENNEDYS, UK SUBS, RUTS DC, SICK OF IT ALL, SLIME eigentlich alles. Und das ist ja nur die weithin bekannte Spitze des Eisbergs all der Kapellen, die Monat für Monat in der Oranienstraße halt machen.
Jede dieser Band hat wahrscheinlich einen ganzen Sack voller Anekdoten zu diesem Laden zu erzählen. Und das SO36, hätte es denn Mund und Zunge, könnte wahrscheinlich auch mittlerweile tagelang darüber parlieren, was in seinen Wänden in den letzten drei Jahrzehnten so los war, seitdem es den Betrieb als Kollektiv-Club aufgenommen hat.
Natürlich war nicht alles immer Sahne, es gab Zeiten, da musste das SO regelrecht um seine Existenz als Live-Club kämpfen, aber auch solche schwierigeren Phasen(wie zum Beispiel 2009, als Beschwerden über Lärmbelästigung in der direkten nachbarschaft fast das Aus für den Laden bedeuteten) konnten dank eines großen Rückhalts im Kiez gut gemeistert werdenn. Es wird also Zeit, die SO36-Geschichte mal in Wort und Bild festzuhalten und an die Öffentlichkeit zu bringen. Der Zeitpunkt ist günstig, denn ein passenderer Anlass als der 36. Geburtstag lässt sich wohl kaum finden und deshalb plant das SO36-Kollektiv die schillernde Geschichte ihres Ladens in Buch- und DVD-Form unters Volk zu bringen. Da für solche Projekte "leider" immer eine Menge Geld nötig ist, wurde vom SO36-Kollektiv eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen. Wer also dieses wirklich sinnvolle Buchprojekt unterstützen will, kann die nächsten 17 Tage mal nutzen, um die Groschen aus seinem Sparstrumpf für eine gute und interessante Sache anzulegen.
Dienstag, 14. Oktober 2014
Die Renfield-Crew im Außeneinsatz - Heute: Berlin ist Kobanê / Berlin Kobanê ye
Wir laufen auf einer Demo mit, was zum Glück sehr viele Leute tun. Wie viele genau? Ein Beobachter aus seinem Fenster am Kottbusser Damm schätzt: über zehntausend. Der Tagesspiegel wird später schreiben: dreitausend. Aber wer weiß, ob die wirklich alle gezählt haben. Und wer zählt nicht besser als ein Resident mit Kissen auf dem Fensterrahmen?
Wir wandern also irgendwo zwischen Transpis Richtung Kottbusser Tor. Das berechtigt uns jetzt noch nicht gleich zu politischer Analyse. Aber andererseits: Was gibt es hier groß zu analysieren? Heute geht es nicht so sehr um politische Meinung und kluge Argumentation. Heute geht es darum, dass in Kobanê jeden Moment Menschen sterben.
Frauen und Männer werden erschossen, weil sie versuchen, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) gegen die IS zu verteidigen. Die Stadt ist bereits zur Hälfte von IS eingenommen und wird von drei Seiten belagert. Es ist scheinbar ein verzweifelter Kampf, wenn man den Stimmen Glauben schenkt, die aus der Region berichten.
Die Renfield-Crew im Außeneinsatz trifft, wie immer zu spät, am Hermannplatz ein. Hier soll die geplante Großdemo ihren Ausgangspunkt nehmen. Gerade als wir auftauchen, erzählt der Sprecher auf dem Wagen von den drei deutschen Fotojournalisten Björn Kietzmann, Chris Grodotzki und Ruben Neugebauer, die in Diyarbakir in der Türkei verhaftet wurden, während sie die Proteste dokumentierten. Angeblich wurde ihnen Spionage und Provokation von der türkischen Polizei vorgeworfen. Auf ihren türkischen Mobiltelefonen waren sie nicht mehr erreichbar. Einen Tag später (Montag) wurden sie dann wieder freigelassen.
Die Jungs auf dem Wagen empfehlen Demonstrant*innen mit kleinen Kindern auf Deutsch und auf Kurdisch, mit den Kleinen zum Lärmschutz vor den Lautsprecherwagen zu gehen. Dann geht es los, die Kinder ganz vorne. Wir suchen uns eine Ecke möglichst weit weg von den Che Guevara Plakaten der MLPD. Das Internet vergisst nicht und Fotos tauchen immer wieder auf. Flickr, Youtube oder Instagram vergessen auch nicht, können noch nicht mal Zusammenhänge darstellen. Also besser nicht vor den Rentnerinnen und Rentnern der MLPD langlaufen. Stattdessen ordnen wir uns irgendwo zwischen den Sprechchören „Hoch die internationale Solidarität!“ und „YPG!“ ein. Manchmal murmeln wir auch „hoch die anti-nationale Solidarität“, aber so wirklich laut wollen wir das auch nicht tun. Die Leute von der MLPD haben schließlich Schilder und sind vielleicht doch nicht weit genug hinter uns. „YPG!“ geht aber immer.
YPG und YPJ sind die Freiheitskämpfer und Freiheitskämpferinnen, die kurdischen Verteidigungskräfte, die Kobanê seit vielen Tagen gegen die IS verteidigen. Sie fordern nicht militärische Unterstützung der Türkei, wie verirrte und verwirrte deutschsprachige Medien und Politiker*innen in letzter Zeit behauptet haben. Da sie in Rojava für eine Selbstverwaltung kämpfen, wollen sie natürlich nicht gleich von den nächsten Streitkräften belagert werden. Das gilt natürlich auch für die Deutschen. Wenn die Grünen jetzt gerade über einen Militäreinsatz in Syrien diskutieren, ist das absolut nicht im Sinn der Freiheitskämpfer*innen.
Ebenso wenig fordern sie ein Einstellen des US-Bombardements, im Gegensatz zu Christine Buchholz. Dies ist besonders großer Unsinn, da die USA die Stellungen der IS-Streitkräfte bombardieren und nicht die YPG und YPJ in Kobanê. Wie hilfreich das ist? Eine andere Frage.
Was also die kurdischen Volksverteidigungskräfte fordern, mit denen wir uns hier gerade solidarisieren, ist zuerst und vor allem die Freiheit, die Grenze zu übertreten, damit kurdische Streitkräfte zur Unterstützung nach Kobanê kommen können. Denn viele stehen zwei Kilometer entfernt auf der türkischen Seite der Grenze und müssen im wahrsten Sinne des Wortes mit ansehen, wie ihre Freund*innen auf der anderen Seite der Grenze über den Haufen geschossen werden. Die IS-Flaggen wehen schon. Doch die Grenzen werden von der Türkei geschlossen gehalten. Im Moment kommen keine Kurd*innen, keine Waffenlieferungen, keine humanitäre Hilfe durch, nichts. IS-Kämpfer – und hier kann man auf die weibliche Form getrost verzichten – können jedoch die Grenze nach Rojava übertreten. Insgesamt unterstellen YPG / YPJ der Türkei eine aktive antikurdische Haltung, die den IS den Rücken stärkt.
Darum sind wir auch hier: Bei Demonstrationen geht es vor allem um Aufmerksamkeit, um Gesehen-Werden, und hier versuchen alle, die Aufmerksamkeit auf die kurdische Geschichte und die Selbstverwaltung in Rojava zu lenken. Klar, dass ganz viele kurdische und türkische Berliner*innen hier dabei sind. Wir sehen junge Männer in Lederjacke mit kleinen Kindern auf dem Arm, ältere Männer, die unter Fahnen tanzen und singen – gute Musik übrigens, nicht die übliche Demo-Mucke. Frauen mit Kopftüchern fotografieren mit bunt gemusterten Smartphones. Frauen mit rotgelbgrünen Fahnen und dunkel geschminkten Augen singen und tragen ein Transpi, auf dem steht: „Heute Kobanê, morgen Berlin!“ und „Für IS sind wir alle Ungläubige.“
Der Kottbusser Damm eignet sich gut für Tausende von Leuten. Gemächlich wandern wir die breite Straße entlang. Ganze Familien mit ihren Nachbarn stehen auf ihrem Balkon, winken, halten ihre Kinder hoch. Immer wieder applaudieren Leute aus den Häusern. Auf den Dächern werden von Vermummten Antifa-Flaggen geschwenkt. Wir sind etwas ergriffen und schämen uns gar nicht dafür. Revolutionsromantik 2014! Am Kottbusser Tor dann Feuerwerk und auffliegende Vogelschwärme. Zwischen all den Siegessymbolen fällt uns wieder ein, dass die Freiheitskämpfer*innen sterben wie die Fliegen und sich Kobanê wahrscheinlich nicht halten lässt. Berlin ist eben nicht Kobanê. Das gute Gefühl ändert (erst) mal nichts.
Trotz so vieler Menschen hält sich die Polizei vornehm zurück. Zumindest in dem Abschnitt, in dem wir mitlaufen, sehen wir nur selten Staatsdiener*innen. Doch in der Adalbertstraße dann gepanzerte Polizei auf einem Haufen. Wir gucken zweimal hin, gucken auf die andere Straßenseite und sehen noch ein Büschel überdimensionierter Playmobilfiguren. In voller Montur, zum Einsatz bereit. Dann geht uns auf, dass alle Polizist*innen vor den Hasir-Läden stehen. Dass es gleich drei davon auf den paar Metern gibt, spricht schon für ein kleines Imperium. Die Gerüchte besagen, dass dieses kleine Imperium mit den Grauen Wölfen in Verbindung steht. (Gerüchte hier: http://de.indymedia.org/2011/07/312552.shtml).
Die Renfield-Crew wendet sich mal wieder an die Freund*innen vom Anti-Konflikt-Team. Ja, bestätigen die, da gibt es speziellen Objektschutz, wegen Hinweisen aus der Bevölkerung, dass da Übergriffe möglich wären. Weil das doch türkische Läden seien. Wir fragen nach: Türkische Läden gebe es hier ja viele, andere seien aber nicht gesichert? „Nein!“, sagt der Beamte und lächelt. Mehr will er nicht sagen.
Auf der Oranienstraße wird es dann doch noch auf einmal hektisch und einige vor allem junge Demonstrant*innen laufen entgegen der Demonstrationsroute. „Lasst Euch nicht provozieren“, schallt es vom Lauti. Kurz vor dem Ende der Demo möchte niemand mehr Ausschreitungen erleben. Doch das Hin- und Her-Gelaufe verläuft ohne Zwischenfälle. Wir erreichen den Oranienplatz.
Dort entdecken wir einen Herrn mit einer Fahne, auf der japanische Schriftzeichen prangen. Friedlich lächelnd wandert er mit und hält sein vertikal beschriebenes rotes Banner in alle Kameras, auch in unsere. Was denn da stehen würde, wollen wir natürlich wissen. Es sei die Solidaritätsbekundung einer kleinen japanischen Gewerkschaft, erzählt er uns. Denn in Japan würden sich die dort lebenden Kurden auch immer mit dieser Gewerkschaft solidarisieren. Und darum macht er das hier jetzt auch. So ungefähr stünde auf dem Banner „Die Werte der Arbeiterschaft“. Oder so ähnlich. Eigentlich müssen wir das nicht verstehen, aber klar wird: Kobanê ist eben doch überall! Und überall ist Solidarität.
Viola Nova & Mika Reckinnen
Die Renfield-Crew im Außeneinsatz trifft, wie immer zu spät, am Hermannplatz ein. Hier soll die geplante Großdemo ihren Ausgangspunkt nehmen. Gerade als wir auftauchen, erzählt der Sprecher auf dem Wagen von den drei deutschen Fotojournalisten Björn Kietzmann, Chris Grodotzki und Ruben Neugebauer, die in Diyarbakir in der Türkei verhaftet wurden, während sie die Proteste dokumentierten. Angeblich wurde ihnen Spionage und Provokation von der türkischen Polizei vorgeworfen. Auf ihren türkischen Mobiltelefonen waren sie nicht mehr erreichbar. Einen Tag später (Montag) wurden sie dann wieder freigelassen.
Die Jungs auf dem Wagen empfehlen Demonstrant*innen mit kleinen Kindern auf Deutsch und auf Kurdisch, mit den Kleinen zum Lärmschutz vor den Lautsprecherwagen zu gehen. Dann geht es los, die Kinder ganz vorne. Wir suchen uns eine Ecke möglichst weit weg von den Che Guevara Plakaten der MLPD. Das Internet vergisst nicht und Fotos tauchen immer wieder auf. Flickr, Youtube oder Instagram vergessen auch nicht, können noch nicht mal Zusammenhänge darstellen. Also besser nicht vor den Rentnerinnen und Rentnern der MLPD langlaufen. Stattdessen ordnen wir uns irgendwo zwischen den Sprechchören „Hoch die internationale Solidarität!“ und „YPG!“ ein. Manchmal murmeln wir auch „hoch die anti-nationale Solidarität“, aber so wirklich laut wollen wir das auch nicht tun. Die Leute von der MLPD haben schließlich Schilder und sind vielleicht doch nicht weit genug hinter uns. „YPG!“ geht aber immer.
YPG und YPJ sind die Freiheitskämpfer und Freiheitskämpferinnen, die kurdischen Verteidigungskräfte, die Kobanê seit vielen Tagen gegen die IS verteidigen. Sie fordern nicht militärische Unterstützung der Türkei, wie verirrte und verwirrte deutschsprachige Medien und Politiker*innen in letzter Zeit behauptet haben. Da sie in Rojava für eine Selbstverwaltung kämpfen, wollen sie natürlich nicht gleich von den nächsten Streitkräften belagert werden. Das gilt natürlich auch für die Deutschen. Wenn die Grünen jetzt gerade über einen Militäreinsatz in Syrien diskutieren, ist das absolut nicht im Sinn der Freiheitskämpfer*innen.
Ebenso wenig fordern sie ein Einstellen des US-Bombardements, im Gegensatz zu Christine Buchholz. Dies ist besonders großer Unsinn, da die USA die Stellungen der IS-Streitkräfte bombardieren und nicht die YPG und YPJ in Kobanê. Wie hilfreich das ist? Eine andere Frage.
Was also die kurdischen Volksverteidigungskräfte fordern, mit denen wir uns hier gerade solidarisieren, ist zuerst und vor allem die Freiheit, die Grenze zu übertreten, damit kurdische Streitkräfte zur Unterstützung nach Kobanê kommen können. Denn viele stehen zwei Kilometer entfernt auf der türkischen Seite der Grenze und müssen im wahrsten Sinne des Wortes mit ansehen, wie ihre Freund*innen auf der anderen Seite der Grenze über den Haufen geschossen werden. Die IS-Flaggen wehen schon. Doch die Grenzen werden von der Türkei geschlossen gehalten. Im Moment kommen keine Kurd*innen, keine Waffenlieferungen, keine humanitäre Hilfe durch, nichts. IS-Kämpfer – und hier kann man auf die weibliche Form getrost verzichten – können jedoch die Grenze nach Rojava übertreten. Insgesamt unterstellen YPG / YPJ der Türkei eine aktive antikurdische Haltung, die den IS den Rücken stärkt.
Darum sind wir auch hier: Bei Demonstrationen geht es vor allem um Aufmerksamkeit, um Gesehen-Werden, und hier versuchen alle, die Aufmerksamkeit auf die kurdische Geschichte und die Selbstverwaltung in Rojava zu lenken. Klar, dass ganz viele kurdische und türkische Berliner*innen hier dabei sind. Wir sehen junge Männer in Lederjacke mit kleinen Kindern auf dem Arm, ältere Männer, die unter Fahnen tanzen und singen – gute Musik übrigens, nicht die übliche Demo-Mucke. Frauen mit Kopftüchern fotografieren mit bunt gemusterten Smartphones. Frauen mit rotgelbgrünen Fahnen und dunkel geschminkten Augen singen und tragen ein Transpi, auf dem steht: „Heute Kobanê, morgen Berlin!“ und „Für IS sind wir alle Ungläubige.“
Der Kottbusser Damm eignet sich gut für Tausende von Leuten. Gemächlich wandern wir die breite Straße entlang. Ganze Familien mit ihren Nachbarn stehen auf ihrem Balkon, winken, halten ihre Kinder hoch. Immer wieder applaudieren Leute aus den Häusern. Auf den Dächern werden von Vermummten Antifa-Flaggen geschwenkt. Wir sind etwas ergriffen und schämen uns gar nicht dafür. Revolutionsromantik 2014! Am Kottbusser Tor dann Feuerwerk und auffliegende Vogelschwärme. Zwischen all den Siegessymbolen fällt uns wieder ein, dass die Freiheitskämpfer*innen sterben wie die Fliegen und sich Kobanê wahrscheinlich nicht halten lässt. Berlin ist eben nicht Kobanê. Das gute Gefühl ändert (erst) mal nichts.
Trotz so vieler Menschen hält sich die Polizei vornehm zurück. Zumindest in dem Abschnitt, in dem wir mitlaufen, sehen wir nur selten Staatsdiener*innen. Doch in der Adalbertstraße dann gepanzerte Polizei auf einem Haufen. Wir gucken zweimal hin, gucken auf die andere Straßenseite und sehen noch ein Büschel überdimensionierter Playmobilfiguren. In voller Montur, zum Einsatz bereit. Dann geht uns auf, dass alle Polizist*innen vor den Hasir-Läden stehen. Dass es gleich drei davon auf den paar Metern gibt, spricht schon für ein kleines Imperium. Die Gerüchte besagen, dass dieses kleine Imperium mit den Grauen Wölfen in Verbindung steht. (Gerüchte hier: http://de.indymedia.org/2011/07/312552.shtml).
Die Renfield-Crew wendet sich mal wieder an die Freund*innen vom Anti-Konflikt-Team. Ja, bestätigen die, da gibt es speziellen Objektschutz, wegen Hinweisen aus der Bevölkerung, dass da Übergriffe möglich wären. Weil das doch türkische Läden seien. Wir fragen nach: Türkische Läden gebe es hier ja viele, andere seien aber nicht gesichert? „Nein!“, sagt der Beamte und lächelt. Mehr will er nicht sagen.
Auf der Oranienstraße wird es dann doch noch auf einmal hektisch und einige vor allem junge Demonstrant*innen laufen entgegen der Demonstrationsroute. „Lasst Euch nicht provozieren“, schallt es vom Lauti. Kurz vor dem Ende der Demo möchte niemand mehr Ausschreitungen erleben. Doch das Hin- und Her-Gelaufe verläuft ohne Zwischenfälle. Wir erreichen den Oranienplatz.
Dort entdecken wir einen Herrn mit einer Fahne, auf der japanische Schriftzeichen prangen. Friedlich lächelnd wandert er mit und hält sein vertikal beschriebenes rotes Banner in alle Kameras, auch in unsere. Was denn da stehen würde, wollen wir natürlich wissen. Es sei die Solidaritätsbekundung einer kleinen japanischen Gewerkschaft, erzählt er uns. Denn in Japan würden sich die dort lebenden Kurden auch immer mit dieser Gewerkschaft solidarisieren. Und darum macht er das hier jetzt auch. So ungefähr stünde auf dem Banner „Die Werte der Arbeiterschaft“. Oder so ähnlich. Eigentlich müssen wir das nicht verstehen, aber klar wird: Kobanê ist eben doch überall! Und überall ist Solidarität.
Viola Nova & Mika Reckinnen
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