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Dienstag, 14. Oktober 2014

Die Renfield-Crew im Außeneinsatz - Heute: Berlin ist Kobanê / Berlin Kobanê ye

Wir laufen auf einer Demo mit, was zum Glück sehr viele Leute tun. Wie viele genau? Ein Beobachter aus seinem Fenster am Kottbusser Damm schätzt: über zehntausend. Der Tagesspiegel wird später schreiben: dreitausend. Aber wer weiß, ob die wirklich alle gezählt haben. Und wer zählt nicht besser als ein Resident mit Kissen auf dem Fensterrahmen? Wir wandern also irgendwo zwischen Transpis Richtung Kottbusser Tor. Das berechtigt uns jetzt noch nicht gleich zu politischer Analyse. Aber andererseits: Was gibt es hier groß zu analysieren? Heute geht es nicht so sehr um politische Meinung und kluge Argumentation. Heute geht es darum, dass in Kobanê jeden Moment Menschen sterben. Frauen und Männer werden erschossen, weil sie versuchen, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) gegen die IS zu verteidigen. Die Stadt ist bereits zur Hälfte von IS eingenommen und wird von drei Seiten belagert. Es ist scheinbar ein verzweifelter Kampf, wenn man den Stimmen Glauben schenkt, die aus der Region berichten.

Die Renfield-Crew im Außeneinsatz trifft, wie immer zu spät, am Hermannplatz ein. Hier soll die geplante Großdemo ihren Ausgangspunkt nehmen. Gerade als wir auftauchen, erzählt der Sprecher auf dem Wagen von den drei deutschen Fotojournalisten Björn Kietzmann, Chris Grodotzki und Ruben Neugebauer, die in Diyarbakir in der Türkei verhaftet wurden, während sie die Proteste dokumentierten. Angeblich wurde ihnen Spionage und Provokation von der türkischen Polizei vorgeworfen. Auf ihren türkischen Mobiltelefonen waren sie nicht mehr erreichbar. Einen Tag später (Montag) wurden sie dann wieder freigelassen.

Die Jungs auf dem Wagen empfehlen Demonstrant*innen mit kleinen Kindern auf Deutsch und auf Kurdisch, mit den Kleinen zum Lärmschutz vor den Lautsprecherwagen zu gehen. Dann geht es los, die Kinder ganz vorne. Wir suchen uns eine Ecke möglichst weit weg von den Che Guevara Plakaten der MLPD. Das Internet vergisst nicht und Fotos tauchen immer wieder auf. Flickr, Youtube oder Instagram vergessen auch nicht, können noch nicht mal Zusammenhänge darstellen. Also besser nicht vor den Rentnerinnen und Rentnern der MLPD langlaufen. Stattdessen ordnen wir uns irgendwo zwischen den Sprechchören „Hoch die internationale Solidarität!“ und „YPG!“ ein. Manchmal murmeln wir auch „hoch die anti-nationale Solidarität“, aber so wirklich laut wollen wir das auch nicht tun. Die Leute von der MLPD haben schließlich Schilder und sind vielleicht doch nicht weit genug hinter uns. „YPG!“ geht aber immer.


YPG und YPJ sind die Freiheitskämpfer und Freiheitskämpferinnen, die kurdischen Verteidigungskräfte, die Kobanê seit vielen Tagen gegen die IS verteidigen. Sie fordern nicht militärische Unterstützung der Türkei, wie verirrte und verwirrte deutschsprachige Medien und Politiker*innen in letzter Zeit behauptet haben. Da sie in Rojava für eine Selbstverwaltung kämpfen, wollen sie natürlich nicht gleich von den nächsten Streitkräften belagert werden. Das gilt natürlich auch für die Deutschen. Wenn die Grünen jetzt gerade über einen Militäreinsatz in Syrien diskutieren, ist das absolut nicht im Sinn der Freiheitskämpfer*innen.
Ebenso wenig fordern sie ein Einstellen des US-Bombardements, im Gegensatz zu Christine Buchholz. Dies ist besonders großer Unsinn, da die USA die Stellungen der IS-Streitkräfte bombardieren und nicht die YPG und YPJ in Kobanê. Wie hilfreich das ist? Eine andere Frage.

Was also die kurdischen Volksverteidigungskräfte fordern, mit denen wir uns hier gerade solidarisieren, ist zuerst und vor allem die Freiheit, die Grenze zu übertreten, damit kurdische Streitkräfte zur Unterstützung nach Kobanê kommen können. Denn viele stehen zwei Kilometer entfernt auf der türkischen Seite der Grenze und müssen im wahrsten Sinne des Wortes mit ansehen, wie ihre Freund*innen auf der anderen Seite der Grenze über den Haufen geschossen werden. Die IS-Flaggen wehen schon. Doch die Grenzen werden von der Türkei geschlossen gehalten. Im Moment kommen keine Kurd*innen, keine Waffenlieferungen, keine humanitäre Hilfe durch, nichts. IS-Kämpfer – und hier kann man auf die weibliche Form getrost verzichten – können jedoch die Grenze nach Rojava übertreten. Insgesamt unterstellen YPG / YPJ der Türkei eine aktive antikurdische Haltung, die den IS den Rücken stärkt.

Darum sind wir auch hier: Bei Demonstrationen geht es vor allem um Aufmerksamkeit, um Gesehen-Werden, und hier versuchen alle, die Aufmerksamkeit auf die kurdische Geschichte und die Selbstverwaltung in Rojava zu lenken. Klar, dass ganz viele kurdische und türkische Berliner*innen hier dabei sind. Wir sehen junge Männer in Lederjacke mit kleinen Kindern auf dem Arm, ältere Männer, die unter Fahnen tanzen und singen – gute Musik übrigens, nicht die übliche Demo-Mucke. Frauen mit Kopftüchern fotografieren mit bunt gemusterten Smartphones. Frauen mit rotgelbgrünen Fahnen und dunkel geschminkten Augen singen und tragen ein Transpi, auf dem steht: „Heute Kobanê, morgen Berlin!“ und „Für IS sind wir alle Ungläubige.“


Der Kottbusser Damm eignet sich gut für Tausende von Leuten. Gemächlich wandern wir die breite Straße entlang. Ganze Familien mit ihren Nachbarn stehen auf ihrem Balkon, winken, halten ihre Kinder hoch. Immer wieder applaudieren Leute aus den Häusern. Auf den Dächern werden von Vermummten Antifa-Flaggen geschwenkt. Wir sind etwas ergriffen und schämen uns gar nicht dafür. Revolutionsromantik 2014! Am Kottbusser Tor dann Feuerwerk und auffliegende Vogelschwärme. Zwischen all den Siegessymbolen fällt uns wieder ein, dass die Freiheitskämpfer*innen sterben wie die Fliegen und sich Kobanê wahrscheinlich nicht halten lässt. Berlin ist eben nicht Kobanê. Das gute Gefühl ändert (erst) mal nichts.

Trotz so vieler Menschen hält sich die Polizei vornehm zurück. Zumindest in dem Abschnitt, in dem wir mitlaufen, sehen wir nur selten Staatsdiener*innen. Doch in der Adalbertstraße dann gepanzerte Polizei auf einem Haufen. Wir gucken zweimal hin, gucken auf die andere Straßenseite und sehen noch ein Büschel überdimensionierter Playmobilfiguren. In voller Montur, zum Einsatz bereit. Dann geht uns auf, dass alle Polizist*innen vor den Hasir-Läden stehen. Dass es gleich drei davon auf den paar Metern gibt, spricht schon für ein kleines Imperium. Die Gerüchte besagen, dass dieses kleine Imperium mit den Grauen Wölfen in Verbindung steht. (Gerüchte hier: http://de.indymedia.org/2011/07/312552.shtml).

Die Renfield-Crew wendet sich mal wieder an die Freund*innen vom Anti-Konflikt-Team. Ja, bestätigen die, da gibt es speziellen Objektschutz, wegen Hinweisen aus der Bevölkerung, dass da Übergriffe möglich wären. Weil das doch türkische Läden seien. Wir fragen nach: Türkische Läden gebe es hier ja viele, andere seien aber nicht gesichert? „Nein!“, sagt der Beamte und lächelt. Mehr will er nicht sagen.

Auf der Oranienstraße wird es dann doch noch auf einmal hektisch und einige vor allem junge Demonstrant*innen laufen entgegen der Demonstrationsroute. „Lasst Euch nicht provozieren“, schallt es vom Lauti. Kurz vor dem Ende der Demo möchte niemand mehr Ausschreitungen erleben. Doch das Hin- und Her-Gelaufe verläuft ohne Zwischenfälle. Wir erreichen den Oranienplatz.

Dort entdecken wir einen Herrn mit einer Fahne, auf der japanische Schriftzeichen prangen. Friedlich lächelnd wandert er mit und hält sein vertikal beschriebenes rotes Banner in alle Kameras, auch in unsere. Was denn da stehen würde, wollen wir natürlich wissen. Es sei die Solidaritätsbekundung einer kleinen japanischen Gewerkschaft, erzählt er uns. Denn in Japan würden sich die dort lebenden Kurden auch immer mit dieser Gewerkschaft solidarisieren. Und darum macht er das hier jetzt auch. So ungefähr stünde auf dem Banner „Die Werte der Arbeiterschaft“. Oder so ähnlich. Eigentlich müssen wir das nicht verstehen, aber klar wird: Kobanê ist eben doch überall! Und überall ist Solidarität.

Viola Nova & Mika Reckinnen

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