Es gibt Menschen, die sagen, in den 80ern wäre nur Scheißmusik entstanden. Und es gibt Menschen, die sagen, dass die 80er voll mit ganz wunderbarer Musik waren.
Während die erste Gruppe sich mit Grausen an die Plastik-Pop-Produktionen aus dem Hause Stock, Aitken und Waterman erinnert, kommt der zweite Gruppe eher das in den Sinn, was damals an Indiemusik, Punk/Hardcore und anderen aufregenden Sounds jenseits vom Hauptstrom der tumben Hitparaden zu hören war. Vielleicht legen sie bei ihrem ganz privaten Rückblick auch eine Scheibe von den MILKSHAKES auf – jener Band, mit der ein gewisser Billy Childish europaweit für Aufsehen sorgte. Dass die MILKSHAKES eine von vielen Bands war, die ein gewisser Landstrich um das ostenglische Flüßchen Medway hervorgebracht hat, haben wahrscheinlich nicht allzuviele auf dem Schirm.
Dabei steht der Begriff der „Medway Bands“ (benannt nach dem 112 Kilometer langen Fluß, in der Grafschaft Kent) eben genau für Gruppen wie THE DENTISTS, THE POP RIVETS (Childishs erster Band) oder THE PRISONERS, die bei Punk/Garagebeat-Liebhabern auf großen Anklang stießen. Grund genug, die musikalische Geschichte von Orten wie Chatham oder Rochester mal in von Ian Snowball, Fachmann für britische Popkultur aufarbeiten zu lassen, der in "THE KIDS ARE ALL SQUARE - Medway Punk 1977-85" eine Menge Beteiligter über ihre Ansichten zur damaligen Punk/Garage/Rockabilly-Szene im Südosten Englands zu Wort kommen lässt.
Klar, auch Billy Childish hat dabei was zu erzählen, aber der hat das Buch ja nun mal nicht zusammengestellt, also haben wir für RENFIELD No. 27 uns mal direkt an Ian Snowball zum Thema Medway Punk gewandt.
Gary: Hallo Ian, Du hast schon einige Bücher zum Thema Popkultur geschrieben, beispielsweise über Oasis, The Jam oder Ocean Colour Scene. Woher kam die Idee, mal einen Blick auf die Urspünge der Medway Szene zu werfen?
Ian Snowball: Ich bin seit vielen Jahren ein großer Fan des MedwaySounds und der dazugehörigen Bands. Ich mache nur Buchprojekte, von denen ich weiß, dass sie mich motivieren und inspirieren. Sich das Medway-Projekt auszusuchen, lag also wirklich nahe.
Ursprünglich wollte ich ein Buch nur über die PRISONERS schreiben, aber irgendwie kam das nicht in die Gänge. Aber das Buchprojekt, das den Medway Sound gebührend würdigt, wollte ich immer noch unbedingt machen. Also habe ich Bob Collins von den Dentists gefragt, ob er daran interessiert sei, das Buch mit mir gemeinsam zu schreiben. Er stimmte zu und so saßen wir in einem Boot.
G.: Der Titel bezieht sich auf die Jahre zwischen 1977 und 1985. Warum hast du exakt diesen Zeitraum gewählt? 1977 als Jahr, in dem Punk quasi in die Welt trat, ist klar, aber was ist mit 1985? Gab es ein bestimmtes Ereignis, das das Ende der Medway Szene markierte?
I.: 1977 war der Startpunkt, als Legenden wie Billy Childish und Bruce Brand anfingen Bands zu gründen. Dann trafen sich Graham Day und Allan Crockford und gründeten auch eine Band und der Rest ist Geschichte. Mitte der 80er gab’s dann diese Zeit, wo die Sachen langsam runterfuhren. Für diese Bands ging das auf ganz natürliche Weise zu Ende, für sie begann etwas Neues. Da ging es nicht wirklich um eine Reaktion auf die Veränderungen der Musik zu dieser Zeit. Es gibt in dem Buch aber ein paar Beiträge von Mitgliedern der CHARLATANS und INSPIRAL CARPETS, die auch von den Medway Bands inspiriert wurden und das in ihre eigene Musik einfließen ließen, die wiederum um 1989 größeren Einfluss auf die Musikindustrie ausübte.
Und nur ein paar Jahre davor hatte die Struktur der Musikszene sich dramatisch verändert. Das betraf auch die Medwaybands. Graham Day versuchte sich beispielsweise an einer neuen Band namens PLANET, die fast schon Acid Jazz machten. Und dann war da noch James Taylor, der den Acid Jazz Sound stark geprägt hat. Es war ganz anders als das, was THE PRISONERS gemacht haben. Ich bin also nicht der Meinung, dass die Medway-Szene sich einfach aufgelöst hat. Sie hat sich in etwas anderes verwandelt.
G.: Wie hast du diese Zeit persönlich erlebt? Hast du damals was von den Bands aus der Medway Area mitbekommen?
I.: Die Medway Bands waren in den 80ern sehr Underground. Einerseits waren sie schon ziemlich bekannt, aber in mancher Hinsicht doch immer noch sehr alternativ. Eigentlich war es sogar so, dass viele Bands in anderen europäischen Ländern bekannter waren als gerade in England. Ich selber fand THE PRISONERS spannend, weil ich mit Musik aufgewachsen war, die so eine Mod/60s Richtung hatte. Die Milkshakes waren punkiger, und ich bin nicht mit den Punks rumgehangen. Da gab es schon zwei Lager. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich anfing, Billy Childish’s Musik wirklich zu schätzen.
G.: Wenn du The Milkshakes, The Dentists und The Prisoners nimmst – die ja den Kern der sogenannten Medway Bands stellen, was hatten diese drei Bands deiner Meinung nach gemeinsam?
I.: Ursprünglich wollte ich das Buch „No Compromise“ nennen (was dann am Ende nur der Titel eines Kapitels wurde). Damit wollte ich hervorheben, dass Bands wie The Prisoners und The Milkshakes diese Tendenz wichtig war, sich nicht zu kompromittieren. So erschien es auf jeden Fall der Musikpresse. Ich schätzte ihre Einstellung, dass ihnen diese Haltung wirklich wichtig war, dass sie ihre Musik für sich machen wollten, und das war‘s eben… Und wenn das noch jemand anders gut fand, umso besser, aber darauf kam‘s nicht an. Auch die Klamotten und die Wahl der Instrumente war eine gemeinsame Vorliebe, das war alles in den 60ern verwurzelt.
G.: Wieso glaubst du, haben sich gerade dort mitten in der englischen Provinz eine aufregende innovative Musikszene entwickelt? Glaubst du dass es im Nachhinein ein Vorteil war, dass diese Bands weit weg von den ständigen Ablenkungen einer Metropole entstanden sind?
I.: Ich glaube, in erster Linie waren die Bandmitglieder erst mal einfach sie selbst. Ihre Musik war eine Erweiterung ihrer selbst und der Orte, an denen sie lebten. Ich bin auch am Medway aufgewachsen, von daher sind mir die Landschaft, der Baustil, die Menschen und die Szenerie sehr vertraut. Ich denke, das beeinflusst schon, was die Leute so machen. London ist nur 30 Minuten entfernt, so dass wir schon Zugang zu dem hatten, was dort abging, ohne gleich Teil davon sein zu müssen. Ich glaube nicht, dass Langeweile was damit zu tun hat. Eher geht es bei den meisten Bands einfach darum, ein Instrument zu spielen und mit den Kumpels Songs zu schreiben. Von da aus kann sich alles Mögliche entwickeln, aber das Grundprinzip ist recht einfach. Aber ja, es hat schon etwas Mystisches und man kann viel darüber spekulieren, warum ein gewisser Sound ausgerechnet in einer kleinen Region in Kent entstanden ist. Die Frage kann wohl nie richtig beantwortet werden. Glücklicherweise.
G.: Es wird öfter berichtet, dass recht viele bekannte Bands aus Seattle von Billy Childish und anderen Medway-Bands beeinflusst sind. Wo würdest du Gemein-samkeiten zwischen der frühen Grunge-Szene und den Medway Bands sehen?
I.: Zu der Zeit selbst ist es mir nicht aufgefallen, aber als der Grunge-Hype nachließ, war schon deutlich zu sehen, dass ein paar dieser Bands ihre Inspirationen von Billy und Co. hatten. Jack White ist ein gutes Beispiel. Er wollte, dass Billy mit ihm bei Top of the Pops auftritt, aber die Show sagte nein. Also hat er sich Billy Childish stattdessen mit Tinte auf den Arm geschrieben. Ich denke, jede Art von Musik entwickelt ihre eigene Atmosphäre, und das ist es, worauf Leute reagieren. Also ja, Seattle hat auf Medway reagiert, und sie haben ihr eigenes Ding daraus geformt. Es gibt viele Bands, die Medway als Einfluß nennen. Manche dieser Einflüsse kann man in ihren Songs hören, aber es fehlt immer etwas, etwas Besonderes und Entscheidendes, das nur Bands aus den Medway-Städten haben. Es ist dasselbe, wenn eine Band wie die SPECIALS klingen will, aber nicht aus Coventry kommt. Oder man will wie die TEMPTATIONS klingen, hat aber nicht in Hitsville aufgenommen.
G.: Das, was im Buch geschildert wird, erinnert mich allerdings eher an die Szene um Dischord Records aus Washington – auch wenn die Musik eine ganz andere war: Da drehte sich auch alles um Fugazi, Ian McKaye und eben Dischord Records: Bands und Menschen, bei denen irgendwie ein gewisser DIY-Ethos in Bezug auf Aufnahmetechniken und Vertrieb wichtig war. Siehst du da Ähnlichkeiten?
I.: Das ist ein guter Punkt, genau das meinte ich eben mit dem Beispiel Hitsville. Ja, Studios und Produzenten haben einen ungeheuren Einfluss. Meine Band AUNT NELLY nimmt in den Ranscombe Studios in Rochester auf, die von einem super Typen namens Jim Riley geleitet werden. Er hat im Lauf der Jahre eine Menge Sachen von Billy Childish, Graham Day, Glenn Pragnell und all denen aufgenommen. Deswegen hat er diesen Sound einfach drauf und versteht ihn richtig gut. Jim hat auch selber in einer Medway Band gespielt, WIPEOUT. Er weiß also wirklich, was er da macht. Mir scheint, das Label, auf dem die Platten erscheinen, ist gar nicht so entscheidend. Die Medway Bands haben viele verschiedene Labels gehabt. Aber das Studio, das die Songs aufnimmt, das macht echt einen Unterschied.
G.: MILKSHAKES, DENTISTS, PRISONERS – das sind alles reine Jungs-Bands. Gab es in der Medway-Area in den 80ern keine Frauen, die in der Szene um diese Bands aktiv Musik waren? Warum war das ein reines Jungs-Ding?
I.: Ist das nicht in den meisten ‚Szenen‘ so? Man muss sich nur in den 60ern anschauen: THE BEATLES, WHO, SMALL FACES, in den 80ern bei Madchester die STONE ROSES und die INSPIRALS, die meisten Two Tone Bands bestehen aus Jungs... aber es gab auch die BODYSNATCHERS und in Medway gab es die HEADCOATEES, und später die A LINES. Aber im Großen und Ganzen denke ich, Jungs haben einfach mehr Interesse daran, in Bands zu spielen. Das wird wahrscheinlich auch immer so bleiben.
G.: Wenn ich an England und Punk denke, assoziiere ich damit Oi, Crustpunk, Anarchobands wie Crass und, klar, auch klassischen Punkrock wie Sex Pistols, Damned, The Clash usw. Aber das sind alles sehr eng definierte und eingegrenzte Szenen. Die Medwaybands schienen mir da eine leichtere, ironischere Definition von Punk zu haben. Eine, die offener ist, sich aber auch von anderen Subkulturen wie Mods, Psychobilllys, Gothics abgrenzt. Siehst du das ähnlich?
I.: Hier geht‘s wieder darum, dass die Medway Bands nie versucht haben, wie irgendjemand zu klingen oder zu sein, sondern einfach ihr eigenes Ding gemacht haben. Sie hatten nie vor, sich einer Szene anzugleichen. Sie wurden umgekehrt von den Mods, Punks und Psychobillys aufgegriffen. Es ist so ähnlich wie THE JAM. Die hatten auch nie vor, eine Mod- oder Punkband zu sein, und das waren sie auch nicht, aber die Mods und die Punks haben sie für sich entdeckt.
G.: War es schwierig, all die Interviewpartner für das Buch ausfindig zu machen?
I.: Nein, gar nicht! Wir hätten noch viele andere mit reinbringen können, aber wir mussten uns ja irgendwie begrenzen. Letzte Woche habe ich mit AUNT NELLY in Italien gespielt, als Vorband für eine alte Mod-Band, THE CLIQUE. Bruce Brand hat bei denen Gitarre gespielt, und wir sprachen über das Buch. Und er meinte bloß: „Das war ein Buch, das dringend geschrieben werden musste.“ Ich denke, dass Leute wie Billy und Graham das auch so sehen, und Bob und ich haben‘s eben einfach gemacht. Die ganze Geschichte ist in dem Buch, und es kann bei dem Buch nur um diese Geschichte gehen. Bob und ich sind sehr glücklich damit, wie es geworden ist und wer mit dabei ist.
G.: Warum hast du für das Buch die Interviewform gewählt? Warum ist es einfacher, das alles in einer oral history darzustellen?
I.: Ich benutze oft die Interview-Form. Es ist mir wichtig, Geschichte zu schreiben aus der Erfahrung der Leute heraus, die diese Geschichte gemacht haben. Ein Buch wird so vielfältig und schillernd. Billy erinnert sich vielleicht anders als Bruce oder Graham, aber jede Sicht zählt. Diese Methode fängt ein Gefühl für die Geschichte und ihren Sinn ein, und das setze ich gern beim Schreiben ein. Aus Erfahrung lernt man am besten, denke ich, also muss man mit den Leuten reden, die dabei waren.
G.: Ich finde Billy Childish ist mit Abstand die bekannteste Figur des Buches – wie war sein Reaktion als er von den Plänen, ein Buch über die Medway Bands zu machen, erfahren hat?
I.: Billy fand das in Ordnung. Wir kennen uns, und ich denke, er hat mir da vertraut. Das ist natürlich hilfreich. Bei den Büchern über THE JAM und OASIS war das auch so. Wenn man sowas machen will, müssen die Leute, um die es geht, dir vertrauen, dass du ihre Geschichte verstehst, weil sie ihnen wichtig ist. Und das Medway Buch war für Billy sehr wichtig. Und jetzt, da er es gesehen hat, ist er zufrieden. Ich hab so vor drei Wochen bei ihm vorbeigeschaut und wir haben ausführlich gequatscht über das Buch, und auch über das Buch, an dem er gerade schreibt. Billy ist ein faszinierender Typ, und es macht Spaß, mit ihm rumzuhängen.
G.: Ist denn heute eigentlich noch was vom Einfluss der frühen Medway Bands in Chatham und den anderen Städten der Medway-Region übrig geblieben?
I.: Klar sind da Bands, die werden da immer sein, und einige haben ihre Inspirationen von THE PRISONERS, MILKSHAKES und all den anderen. Aber vor allem sind die ja auch immer noch da, und die meisten von ihnen machen immer noch was. Glenn Pragnell von den OFFBEATS nimmt mit seiner Band GROOVY UNCLE auf, Graham spielt wieder mit Allan in GRAHAM DAY AND THE FOREFATHERS, und die DISCORDS gibt‘s immer noch. Und Billy natürlich, der wird bis zu seinen letzten Tagen spielen und aufnehmen. Der kann gar nicht anders!
G.: Du hast das Buch zusammen mit Bob Collins von den Dentists geschrieben. Die meisten Bücher von dir sind in Kooperation mit einem anderen Autor erschienen. Wieso schreibst du die meisten Bücher im „Doppelpack“?
I.: Mit verschiedenen Leuten habe ich verschiedene Arten der Zusammenarbeit entwickelt. Mit Bob war das unkompliziert. Wir haben uns die Interviews aufgeteilt. Das mit Billy haben wir zusammen gemacht, an einem Tag haben wir über vier Stunden mit ihm verbracht. Das ging dann so aus, dass Billy uns zu sich nach Hause geschleift hat, um uns neue Songs vorzuspielen. Eigentlich haben Bob und ich vor allem einfach mit all unseren Freunden gequatscht, die sowieso zu all diesen Medwaybands gehören. Aber wir kennen auch verschiedene Leute, das war natürlich praktisch.
Mir macht es Spaß, ein Buch mit jemand zusammen zu machen. Aber ich schreibe auch gerne literarischen Kram.
Literarisches Schreiben und Sachbücher sind schon ganz schön unterschiedlich. Für meinen ersten Roman LONG HOT SUMMER habe ich 2009 drei Wochen gebraucht. Ich denke, ein Buch zusammen zu schreiben funktioniert, wenn die Chemie stimmt. Gerade hab ich die Autobiographie für Rick Buckler von THE JAM geschrieben, als Ghostwriter. Rick und ich haben neun Monate dafür gebraucht, und sie wird zum Ende des Jahres erscheinen. Da gab’s eine Menge Interviews zu machen und zu transkribieren. Aber Rick ist ein total netter Kerl und ich bin ein riesiger Fan von THE JAM. Also war das ein großer Spaß.
Gary: Ian, vielen Dank für das Interview
“The kids are all square – Medway Punk 1977-85” (ISBN-10: 0992830419) ist bei Countdown Books erschienen.
countdownbooks.com
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen