war im Renfield schon oft präsent. Nicht nur im Vorwort wurde die Playlist der allerersten selbst aufgenommenen Mischkassette seziert, die der Herr Flanell als junger Punker mal aufgenommen hat. (Auch so ein Ding, was für die neugierigen Netzräuber hier bald präsentiert wird).
In Renfield Nummer 27 führte dann Andi Kuttner, Betreiber des INCOGNITO Mailorders, die lose Kolumnenreihe "Musik-Kassetten stellen sich vor“, mit einem ein Blick auf seinen ersten Kassettenmix nach der Ankunft in der Hauptstadt weiter fort.
Das Tape, um das es ging, hatte den bedeutungsvollen Titel:
„Wall City Rock. Learning Berlin Lesson 1, 1 ½ Jahre Berlin in 1 ½ Stunden“.
Alles weitere nun direkt von Andi selbst...
Ziel der Zusammenstellung der Kassette war, wie der Untertitel es vielleicht schon verraten mag, einen musikalischen, oder präziser gesagt: akustischen Rückblick auf meine ersten 1 ½ Jahre in Berlin zu geben. Akustisch deswegen, da ich auch Sprüche vom Anruf-Beantworter, die ich mitgeschnitten hatte, mit in die Kassette hineinarbeitete. Das ganze wurde um den Jahreswechsel 2000/2001 zusammengestellt.
Es soll im folgenden Text weniger um die Songs selbst gehen, als nach Möglichkeit um ihre Verbindung zu meinen damaligen Erlebnissen.
Es war noch eine andere Zeit, und ein anderes Berlin, als wir es heute vor uns sehen. Damals zogen die neuangekommenen Studenten (wie ich es einer war) nicht wie heute nach Neukölln (oder Wedding, oder Moabit?), sondern nach Friedrichshain, in baufällige Wohnungen, die in aller Regel noch Kohleofen hatten und wirklich unglaublich billig waren. Ich bezahlte für meine insgesamt knapp 40 qm große Ein-Zimmer-Wohnung damals rund 380 DM incl. allem, wozu auch die nur kalte Dusche beim Nachbarn gehörte.
Es gab noch die Reste einer angestammten Bevölkerung: das waren ein paar wenige Familien, die meist in den etwas größeren Wohnungen in den Vorderhäusern wohnten, und die Reste einer alternativen Ost-Szene, die sich wie wir im weitesten Sinne als Lebenskünstler begriffen und in ständigen Provisorien lebten. Viele Wohnungen standen auch einfach leer. Es gab noch viel scheinbar Unberührtes zu entdecken. Die Wege führten von Friedrichshain aus häufig in den Prenzlauer Berg, nicht wie heute ausschließlich nur nach Kreuzberg. (von Neukölln war noch überhaupt nicht die Rede).
Es war schon irre: das Jahr 2000 galt zuvor immer als Synonym für eine neue, moderne Zeit. Mir persönlich hingegen brachte das Jahr 2000 das erste eigene Kohle-Ofen-Erlebnis – eine Crux, die ich natürlich liebte! Und auch sonst erschienen verschiedene Mechanismen der Marktwirtschaft – irritierender-, aber glücklicherweise – nicht intakt, in meinen ersten Wochen, Monaten und Jahren in Berlin.
Rückblickend erscheint mir persönlich diese post-sozialistische (?) Mischung als nicht immer harmonisch, aber authentisch, und es ließ sich darin interessanter leben als heute. Natürlich wurde auch auf dem Gehweg Fahrrad gefahren, und als die große Befreiung erlebt, mal in den Hinterhof zu pissen. Bei all dem hatte man aber das Grundgefühl, dass eigentlich letztendlich schon alle okay sind: Wer in den Schrottbuden (und es gab damals wirklich keine anderen) des Kiezes lebte, und sich diese meist rein DIY-mäßig halbwegs wohnlich gemacht hatte, das konnte kein schlechter Mensch sein. Verglichen mit heute habe ich auch das Gefühl, dass man bei aller Freiheit auch aufeinander Rücksicht nahm, soweit das ging, und dass man zumindest miteinander reden und sich verständigen konnte. Und wenn es dann doch zu Streit kam, wurde dieser mit einem von Herzen kommenden „Quatsch nicht rum“ beendet und die Kontrahenten gingen ihrer Wege. Diese Verständigung miteinander erscheint mir heutzutage völlig verloren gegangen zu sein, wenn Touri-Horden nur noch zum Konsumieren nach Berlin kommen, und sich einen Scheiß darum kehren, wie ihr Ausleben von vermeintlicher Freiheit bei den Leuten ankommt, die hier leben.
Aber auch sonst schlägt das Pendel kräftig zurück. Denn nicht nur beim Kampf um die Straße bzw. seinen Platz darauf reagiert heutzutage das Recht des Stärkeren in den Szene-Bezirken Berlins, sondern auch auf dem Immobilien- und Wohnungsmarkt. Es ist schon zum Speien. Jahre lang lebte man in Berlin als Mieter wie im Paradies, aber mit einem Mal machen die Mächtigen – die überbordende Nachfrage im Rücken – ernst, und wir können alle nur dumm aus der Wäsche gucken… Auch die groß-fressige autonome Szene, die um 2000 noch spürbar im Kiez vertreten war und Teil des ganzen Gefüges war. (Auch das hat sich geändert.)
Die Grundsteine für diese Entwicklung, die längst Friedrichshain voll erfasst und gekillt hat, wurden sicherlich damals gelegt – machen wir uns nichts vor, wenn nicht die ersten, dann aber die zweiten Gentrifizierer, das waren wir…
Aber nun genug des nachdenklichen Lamentierens, und bevor ich weiter über die eigene Vergreisung nachdenke, und schwermütig werde ob des Scheiterns eines Lebensentwurfs, flüchten wir lieber gemeinsam mithilfe der Musik zurück in eine andere Zeit…
LEATHERFACE – Sour grapes
Das Tape beginnt mit dem ersten Lied der im Jahr 2000 erschienenen Leatherface-Platte, weil es ein wunderschöner Opener ist, mit seinen öffnenden zwei Gitarren, und der grandiosen Reibeisenstimme von Frank Stubbs. Im Spätsommer 2000 kam ich nach längerer Abwesenheit nach Hause in meine kühle Wohnung, draußen Sonnenschein, beschattet durch die große Linde im Hof, und ich freute mich mit diesem grandiosen Lied, wieder da zu sein, in meinem eigenen kleinen Paradies, in dem ich mich sehr wohl fühlte! Dazu hatte ich die Band im Mai jenes Jahres auch erstmals live gesehen.
EA 80 – Dr. Murkes gesammeltes Schweigen
Ebenfalls erstmals live sah ich auch EA 80 in jener Zeit, es muss im Februar oder März 2000 gewesen sein. Es war noch kalt, und mit meinem Freund Brüdi fuhr ich mit dem Fahrrad immer den ehemaligen Mauerstreifen entlang bis zur Fettecke in Mitte, wo EA 80 auftreten sollten.
Das Gebäude sah von außen aus wie ein zerschossener Western-Saloon, war innen aber überraschend groß und geräumig. Es wurde ein wirklich großartiges Konzert, die Gitarren-Gewitter und Moll-Töne von EA 80 entfalteten in diesem aus lauter Provisorien bestehenden Gebäude ihre besondere Wirkung. „Dies ist der Freiraum, den ich immer wollte“, wie es im Song-Text gesungen wird, beschreibt auch sehr gut meine Gedanken über meine damalige Wohn-Situation in unserem Seitenflügel mit den bemalten Wänden - ohne Hausmeister und sonstige Nerv-Batzen…
NERDS – Peter, Paul & Carrie
Hm, warum hier dieser geil-fröhliche NERDS-Song auf eine Gerhard Polt-Einspielung folgt, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Jene Polt-Platte hatten wir seinerzeit rauf und runter gehört. Vielleicht erschien mir der Song, den ich damals jedenfalls auf dem Zettel hatte, als gute Möglichkeit, neu nach vorn zu blicken, die Kassette also quasi nochmals neu zu starten. Auf alle Fälle ein total geiles Lied einer Band aus Frankfurt, die Single sieht man noch häufig viel zu billig auf Flohmärkten.
CLASH – Rock the casbah
Scheißendreck, auch hier versagt mein Gedächtnis, warum… tut mir leid… Aber auf alle Fälle ein Song, den ich bis heute großartig finde…
RUDI – Time to be proud
An die Bewandtnis dieses Songs erinnere ich mich aber zum Glück, das war einfach ein Ausdruck meiner Freude, als ich im September 1999 endlich in Berlin angekommen war – dass ich endlich den Sprung nach Berlin geschafft hatte, den ich mir schon so lang gewünscht hatte… Wenn ich daran denke, wie mir anfangs immer einer abging, wenn ich FreundInnen meine neue Adresse in Berlin aufschrieb…
SCATTERGUN – Wargames
Scattergun hatten um 1999 ihre erste LP herausgebracht, eine Band, die ich in den späten 90ern durchaus verehrte. In Berlin angekommen, sah ich sie mir dann mal im Supamolly an, und lernte dadurch einen wirklich wunderschönen Konzert-Laden kennen, in dem ich mich dann auch häufiger herumtrieb. Dieser existiert ja bis heute, aber nach meinem Eindruck ist die Punkrock-Quote etwas zurückgeschraubt worden. Die Band, die live nochmal begeisternder war als auf Platte, existiert schon lang nicht mehr, dafür hab ich inzwischen mit Gitarrist Hardy guten und netten Kontakt…
QUETSCHENPAUA – UFO
Der Heinrichplatz und die Oberbaumbrücke, immer wieder Themen von Quetschenpaua in seinen Lobliedern auf die militant-alternativen Kieze in Berlin. Im Jahr 2000 erlebte ich meinen ersten 1. Mai in Kreuzberg, Freundin Heike zählte bei ihrer Nachricht auf dem AB alle Leute auf, die am Vormittag bei der Gegen-Demo zum Nazi-Aufmarsch eingefahren waren… Ich habe die Texte von Quetschenpaua damals gern gehört – sollt ich mal wieder rein hören…
INFA RIOT – Emergency
Ah nee, ich denk mal, einfach ein weiterer Song, den ich damals ohne weitere Bedeutung viel gehört habe. Bis heute ein absoluter Abräumer – und womöglich das einzig richtig überzeugende Lied dieser Band, das ja zudem noch nur eine Cover-Version ist…
ELEGANT – Menschen in Beton & Stahl
Der empfundene Soundtrack zu dem, was ich damals vor mir gesehen habe, auch wenn das Lied eigentlich von 1982 ist. Wenn ich nur an den Kohlen-Keller in unserem Haus denke, das von einem Gast mal als „Abbruch-Haus“ tituliert wurde: „Was sind das für viele Türen, keiner weiß wohin sie führen“… Wobei weniger „Stahl“ angesagt war, als bröckelnder Beton und generell Bauwerke, die ihre besten Zeiten lang hinter sich gelassen zu haben schienen.
LEATHERFACE – Springtime
Nochmal Leatherface, nochmal Erinnerungen an ein Konzert im Wild at heart, und nach dem Verlust eines Freundes ging irgendwo doch ein neues Licht auf, „a little bit of springtime in my mind…“ Bis heute DAS Lied von Leatherface für mich, Gänsehaut inclusive.
RAZZIA – Als Haus wärst du ne Hütte
Ein Lied, das damals auf nahezu jedes Haus in Friedrichshain, und auch noch auf viele im Prenzlauer Berg zutraf: eigentlich waren es größere Hütten… Baufällig, abbröckelnder Putz, ohne anständige Heizungen, die Haustüren immer offen… aber es lebte sich schön, in diesen Provisorien. Zumindest eine Zeit lang; Ich erinnere mich durchaus, dass es mir irgendwann zu bunt, nein, aber zu provisorisch geworden und ich 2002 in eine Wohnung mit Zentralheizung nach Kreuzberg geflohen war…
(dass ich Razzia Ende 1999 live im legendären Eimer sehen konnte, hatte mit dieser Nominierung auf diese Kassette – glaube ich – weniger zu tun, mit dem damals neuen Sänger gefielen sie mir nicht allzu gut)
NOGU SWELO – 280 dnej
Der Anfang von Seite B bringt mich aber sogleich wieder zurück nach Friedrichshain.
Ich sehe mich an meinem Schreibtisch sitzen und nach draußen auf den trüben Hinterhof blicken. Es schneit, und irgendwelche Leute aus dem Vorderhaus ziehen um, oder tragen jedenfalls ihre Sachen durch den Hof. Das zunächst sehr gleichförmige, melancholische Lied dieser russischen Band, das schließlich in geilem Geschreie endet, lässt mich an Szenen denken, wie ich sie in Filmen über den sibirischen Winter gesehen habe…
KUSCHELWEICH – Ahzuroh
Hoho, nach dem Auszug meines Freundes Sandro nach drei Monaten in eine Einzimmer-Wohnung feierte ich vor Erleichterung eine großartige Party-mit-mir-selbst mit Kopfhörern auf den Ohren. Es blieb nicht aus, dass hin- und hergesprungen und durchs Zimmer getobt wurde. Der gute Mensch, der unter mir wohnte, meinte, ich würde mir zu spätabendlicher Zeit ein neues Bett zimmern, klingelte und rief bei mir an, aber ich hörte ihn natürlich nicht. Viel später fand ich dann seine überraschend freundliche Beschwerde vor, die er mit exakt den Worten auf den AB gesprochen hatte, die auch die TOTEN HOSEN 1990 als Intro für ihren Song „Azuroh“ genommen hatten. Als Vollblut-Punkrocker nahm ich aber natürlich die Version von einer unbekannteren Band auf dieses Tape…;-)
FREE YOURSELF – Quella
Ick wees es nich mehr… einfach ein saugeiles Lied einer griechischen Hardcore-Band. Geiles, direktes nach-vorn-Gebretter!
RAZORS – Enemy
Ebenso… ein geiles Lied, das mir später sogar mal dabei half, meine Flugangst zu verringern. Ich meine, dass seinerzeit eine Nachpressung von RAZORS erschien, und mir das Lied deshalb damals präsent war. Am Rande wundere ich mich aber, dass ich Lied einer anderen Hamburger Band nicht auf die Kassette genommen habe, das ich seinerzeit oft mit einem Schmunzeln habe laufen lassen: „Ich sitz in meiner Bude, da ist es höllisch warm“… (was natürlich nur selten der Fall war): BÄRBEL – Im Flur.
BOXHAMSTERS – Es regnet
Wohl einfach aus der Freude heraus uffjenomm, weil ich die Boxhamsters im Jahr 2000 endlich mal live sehen konnte. Geiles Konzert im Tommyhaus, wobei mich persönlich das Getue der Vorband Tomte ziemlich nervte. Boxhamsters sind damals, glaube ich, leider auch schleichend in diese Richtung abgedriftet, was ein Jammer um eine großartig-dynamische Band mit intelligenten Texten. Und dann so’n Geseier machen… ich hasse es…
BEATLES – I wanna hold your hand
Haha, böse Zungen meinten damals, ich hätte sonst nur Punkrock im Haus, und die Beatles-Kassette sei die einzige Nicht-Punkrock-Kassette, die es bei mir gegeben hätte. Vielleicht 100-mal habe ich diese mit zwei damals sehr engen Freundinnen gehört…
RANTANPLAN – Unbekanntes Pferd
„Unbekanntes Pferd, lauf heim…“. Der letzte Song einer „Kiez-Disco“ im Zielona Gora, aus der wir morgens um 6 in die eisige, schwefelige Friedrichshainer Nacht stolperten. Gänsehaut bis heute - aber nicht etwa wegen der Gedanken an die vorherrschende Kälte…
SEX PISTOLS – Rock’n’Roll Swindle
Ein großartiger Film, der mich bereits 1989, als er bei Tele 5 lief, schwer beeindruckte. Wie aufgebrachte Eltern gegen das Konzert einer Band protestierten, aus Sorge um ihre Kinder. Von Malcolm McLaren natürlich gekonnt ausgeschlachtet. Im Kino Durchs Fenster sah ich den Film um das Jahr 2000 herum das zweite Mal. Und wieder fand ich ihn… grooooßes Kino!
FLUCHTWEG – Berliner Luft
Langsam näherte sich die Spielzeit dieser C90 ihrem Ende zu. Zeit für etwas melancholischere Klänge, die aber zugleich auch genau passend zum Thema waren. Fluchtweg besingen hier u.a. die „Stalin-Allee“. Als ich zum ersten Mal die Karl-Marx-Allee mit ihren mächtigen Bauten sah, wusste ich sofort: das muss die Stalin-Allee sein. Und genau wie es Fluchtweg besangen, war sie nachts besonders beeindruckend. Und „Pommes-Nebel“… na klar, auch die gehörten zur Luft der Berliner Nächte. Eine Band, die ich sehr gern gemocht habe. Die letzten paar Geschichten von ihnen waren dann aber sehr glatt und flach.
FRONTKICK – Danger
„Pat und Patachon“ sah man seinerzeit häufiger über Berliner Flohmärkte laufen. Das waren der riesengroße Gitarrist Marty, meist noch mit Irokesen-Frisur, und der kleinere, aber reichlich dicke erste Sänger von Frontkick, der allzuschnell wieder zurück nach Spanien ging. Die erste 7“ ist noch mit dem alten Sänger, und in der Formation sah ich sie auch mal live im Koma F. Das hatte mehr Biss als die später sehr glatt gewordene Band…
EA 80 – Auf Wiedersehen
Hier sagt der Text alles über eine Vorstellung, einen damals leider verstorbenen engen Freund einmal wieder zu sehen.
„Es ist schon spät, und alles, alles ist gesagt, alle Geschichten sind erzählt. Sicher werden wir uns einmal wiedersehen, wie es gestern schon geschah. Dann werden wir erzählen, bis tief in die Nacht, von Abenteuern, und Herzen, die man brach. Doch wir kennen und so gut und wir wissen genau – nichts von alledem ist wahr!“
R.I.P.
LEATHERFACE – Message in a bottle
Und tief versunken in der Melancholie… „I’m sending S.O.S. to the world - I hope that someone gets my message in a bottle“…
Tief gerührt verneige ich mich vor euch, verehrtes Renfield-Publikum, und stelle mir euren minutenlangen Beifall vor. Danke schön.
Ein Freund arbeitet momentan daran, das Tape „ Wall City Rock. Learning Berlin Lesson 1, 1 ½ Jahre Berlin in 1 ½ Stunden“ zu digitalisieren, um es sicher für die Nachwelt zu erhalten.
Andi Kuttner
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