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Donnerstag, 19. Dezember 2024
Schön, wenn der Samtvogel wieder fliegt Pt. XXIV
GÜNTHER SCHICKERT - SAMTVOGEL
Dieses Album wollte ich schon ganz lange mal gehört haben. Es ist fast genau so alt wie ich, so dass Bureau B das Dings jetzt mit einer Jubiläumsausgabe (50!) ehrt.
Aber vor allem ist es bisher ein immer besonders geheimnisvolles Teilchen der Vergangenheit von Günther Schickert gewesen, den ich vor ungefähr 25 Jahren das erste Mal kennengelernt habe, weil wir uns einen Proberaum in der Waldemarstraße geteilt haben.
Er war eine tiefenentspannt wirkende Erscheinung mit Hut, von dem ich nicht viel wusste, außer dass er einen empfindlichen permanenten Aufbau kompliziert verschalteter Effektpedale pflegte, von dem wir (unbeholfen jazzrockende Postpunk-Opfer) gefälligst die Finger zu lassen hatten. Ich hab seine Effekte oder auch nur ihn damals nie in Aktion gesehen, aber ich wusste, dass er African Headcharge kannte und mochte, was ich bemerkenswert fand, denn mit dieser Leidenschaft war ich bisher allein geblieben.
Wir verloren uns aus den Augen, aber Jahre später sollte ich, interessanten Bassvibrationen folgend, in eine Stahltür in einem Kreuzberger Hof stolpern, und hinterm Tisch am Einlass saß niemand anders als der Günther aus der Waldemar und zeigte wortlos auf die Treppe abwärts. Das kann man wohl als lebensverändernden Moment bezeichnen, denn seitdem bin ich aus dem Loch, in das er mich damals lotste, nie so ganz wieder herausgekrochen. Das macht ihn noch ein bisschen mysteriöser.
Die Ahnung, dass Günther nicht irgendwer war, erhärtete sich kurz darauf, als ich ihn sah, wie er im Biergarten ums Eck sah einem japanischen Journalisten ein Interview gab. Und durch vielstimmige orale Überlieferung erfuhr ich nach und nach, in was für Sachen er so vor den Waldemar-Jahren verstrickt war, z.B: frühes SO36, ein Trio namens GAM (Günther Axel Michael) und Tontechnik für Klaus Schulze.
Ich hab Krautrock in meiner Leihbibliotheken-Phase gestreift und dann bis ins hohe Alter ignoriert, weil ich Drum’n’Bass wichtiger fand. Tatsächlich hab ich mir immer gesagt, dass ich mir die Musik alter Männer, Can, Kraftwerk, Tangerine Dream und Günther aufheben kann für wenn ich selber alt bin. Tja, jetzt ist es so weit, und ich kann mich an plötzlich an so was wie Harald Grosskopfs Solo-LP von 1981 erfreuen, oder eben Günthers „Samtvogel“.
Das kam aber auch nicht von ganz alleine. Vor ein paar Jahren habe ich Günther mal zusammen mit Gary für die Printausgabe vom Renfield-Magazin interviewt, natürlich in dem bewussten Keller. Dabei gab er uns eine aktuelle Doppel-CD von ihm namens „Pharoah Chromium“. Irre! Supergutes, irgendwie nicht endenwollendes Doom-Ambient-Geschwobber mit durch den Raum kollernden Gitarrenlinien, die offenbar immer noch aus einer hochkomplexen Anordnung von Effektpedalen kamen.
Seitdem weiß ich auch, dass sein erstes Album „Samtvogel“ im selbstverlegten Original auf Discogs von ganz besonders hingebungsvollen Fans (z.B. Japanern) für 800,- € gehandelt wird. Nachpressungen waren immer schnell weg, und Youtube zählt nicht. In der EU gibt’s das Teil jetzt also wieder für mehr oder weniger erschwingliche Ladenpreise.
Und ich bin schwer versucht! Das digitale Promo hat die Angewohnheit, immer weder von vorne zu beginnen, und ehe ich so ganz wusste, wie mir geschah, war ein halber Bürotag rum, und ich hatte das Album vier oder fünf mal durchgehört. Die Musik passt also einfach so in die Landschaft, taugt aber auch zum Reinfallenlassen.
Dann entfalten sich seine drei damals noch mit relativ minimalen Mitteln aufgenommenen 4-Spur-Studien aus Gitarre und Echo-Loops zur Mandala-artigen Handarbeit mit fortlaufender Entwicklung, ohne Pomp oder Blendwerk. Die sympathisch subjektiven Titel geben einen schönen Querschnitt davon, was den jungen Westberliner damals so umtrieb: Hedonismus („Apricot Brandy“), Pazifismus („Kriegsmaschinen, fahrt zur Hölle“) und Wald („Wald“).
Der erste Song ist ein bisschen anders, weil kürzer und mit Stimme: Der junge Günther klingt, wenn er singt, ein bisschen wie Arto Lindsay, nur was er singt, verstehe ich nie so richtig. Oder ich vergesse es, während die anderen, längeren Stücke reinkicken – entweder hypnotisch und wirklich die Aufmerksamkeit fesselnd, oder auch so ganz nebenbei, als Teil der Umwelt.
Auch wenn dieses Album nur ein ganz kleines Mosaikteil aus dieser mythischen Zeit darstellt, als Westberlin ein kachelofenbeheiztes Feuchtbiotop für Freaks mit Gitarreneffektpedalen war, steckt genau darin seine ganze Schönheit, die mich glatt mit dem Altwerden versöhnt … so lange es noch neue Musik gibt, die genau so alt ist du selbst.
Wolfgang Noise
Das Album Samtvogel von Günther Schickert ist als Neuauflage auf Bureau B erschienen.
Donnerstag, 12. Dezember 2024
Schön, wenn junge Menschen Musik (in München!) machen Pt. XIXIXMX
SINEM - Köşk
Bands, die türkische Psychedelica und sogenannten Anadolu Rock spielen, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe, und so unterschiedlich wie ihre Herkünfte sind auch die musikalischen Schwerpunkte, den diese Retro-Kapellen dabei setzen.
Die wohl erfolgreichsten, Altin Gün aus Amsterdam, konzentriert sich auf die Funk- und Disco-Aspekte der türkischen 70er, die Berliner Band Cherry Bandora erforscht die Verwandtschaft zwischen türkischer und griechischer Musik, die Sattelites aus Haifa heben die psychedelischen Pop-Aspekte hervor, und bei den Replikas, die tatsächlich aus der Türkei kommen und mit dem ganzen Retro-Trend möglicherweise angefangen haben, steht der Rock im Mittelpunkt.
In diesem Sinne nähern sich Sinem aus München dem türkischen Schlaghosen-Rock noch mal von einer anderen Seite, vielleicht der rumpeligsten von allen: Post Punk.
Ihr Sound besteht aus minimaler Instrumentation, stacheliger Gitarre und schroffem Gesang ohne Weichzeichner. Manchmal klingen die ersten paar Takte wie Television oder ESG, bevor sich das anatolisches Killer-Riff reinschraubt und Sinem Arslan Ströbel zu singen beginnt, wobei ihr unbefangener Umgang mit Tonhöhen an die schwer vermisste Ari Up erinnert.
So weit ich sehen kann, sind auch auf ihrem Album die meisten Songs Coverversionen. Keine Schande, es gibt so viele irre gute Songs aus dieser Periode, dass es schwer ist, in dem Stil auch noch eigene Stücke zu komponieren. Kann ja noch kommen.
Die A-Seite ist makellos. Die Eröffnungstitel „Dem Dem“ und „Gurbet“ rocken überzeugend auf, und mit den folgenden zwei Nummern erweitert sich das Soundspektrum ohne Druckverlust. Nur der Versuch, Selda Bağcans „Yaz Gazeteci Yaz“ übertreffen zu wollen, erweist sich als aussichtslos. So wie das heimwehgetränkte „Gurbet“, im Original von Özdemir Erdoğan verweist auch dieser Song aufs kalte Almanya. Der Titel lautet übersetzt interessanterweise (ungefähr) „Schreib, Journalist, schreib“, was ich immer persönlich genommen habe.
Die von der Westpresse jahrzehntelang verschlafenen musikalischen Verschlaufungen zwischen Türkei und BRD, z. B durch das erfolgreiche Kölner Cassetten-Label Türkyola, sind übrigens Thema des empfehlenswerten Films „Liebe, D-Mark und Tod“ (Ask, Mark ve Ölüm) von Cem Kaya. Der Rest der B-Seite geht ohne weitere Schwächen vonstatten und gipfelt in einer ekstatischen Version von Bariş Manços „Lambaya Püf De“.
Sieben Treffer von Acht, das ergibt immer noch ein cooles Album.
Wolfgang Noise
Das Album "Köşk" von Sinem ist auf Vinyl und digital auf Fun in the church erschienen.
Donnerstag, 5. Dezember 2024
Schön, wenn Lobotomie liebevoll ist Pt. I
LAO DAN, GREG KELLEY, GLYNIS LOMON - BALLOON FLOWER
Onomatopoetischer Free Jazz at it‘s best
Musik wird oft nicht schön empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden, heißt es längst bei Wilhelm Busch. Schöne Musik können viele. Ist üblich. Konsumerabel. Masse. Ja, regelrecht mondän! Avantgarde widerstrebt den üblichen Hörgewohnheiten, doch kann darob dennoch schön sein.
Gut, ein bisschen Mühe muss man sich schon geben. Tun wir dies! Hören wir Balloon Flower, the latest crazy of Lao Dan, Greg Kelley und Glynis Lomon: Vier Titel, alle ähnlich, alle anders – verrückter Free Jazz – wohlgemerkt, man muss schon genau hinhören!
Jade Shadow eröffnet schrill und schön, hier ist gleich viel los, doch lärmt es nicht. Gläserne Sounds, Saitenfetzen und Asien-Assoziationen. Klar, denn Lao Dan kommt aus China. Weit weg und nach sechs Jahren Unterbrechung ist er wieder mal in den Staaten und spielt in diesem infernalen Trio die chinesische Bambusflöte.
Apropos Assoziationen: In diesem wilden Tongeklapper und Getute muss ich unweigerlich an Rhasaan Roland Kirk denken. Der Mann mit den drei Saxophonen im Mund (nur die Mundstücke, versteht sich). Meister atonischer Harmonie - total verrückt und schmelzend sanft! Und auch bei Balloon Flower: Man hört, dass alle drei sogleich in Action sind – jeder bei sich, aber jeder bei allen.
Musketiergleich fitzelt die quietsch-trockene Trompete (Greg Kelly) und gurgelt das virtuose Stimmgemurmel (Glynis Lomon) dazu. Weise, lebensstark und spirituell zusammen. Ist übrigens auch gut aufgenommen worden. Ausgewogener Sound, der zwischen Nähe und Distanz im Raum unterscheiden lässt, was besonders bei den vielen leisen Passagen wichtig ist, wenn Klangfenster mit gut geölten Scharnieren geöffnet werden.
Dann ist da dieser gitterartige Wellensound. Den macht Glynis Lomon, wenn sie nicht gerade kehlkopfsingt oder des Wahnsinns grölt. Sie spielt nämlich Wasser-Telefon (erinnert Ihr Euch noch an Frank Zappa bei Steve Allen? „I play the bicycle.“)
Klickt beides ggf. nach! Sehens- und wissenswert, was und wie alles Instrument sein…, doch zurück zum Titel, der ist eigentlich irgendwie ruhig und fast schon traurig am Ende. Kurz davor das Hauptthema geblähter Luftballon und wie der so klingt. Alles zwischen albern und ernst. Verrückend! Trompete mit Dämpfer, nervöse Flöte und ich erwische mich sogar wie ich mitwippe! Was wie irrige Fetzen an- und zumutet, ist wohldosierter Rhythmus! Aber wie gesagt: Schaurig traurig mit erratischem Ende. Dieses war der erste Streich und zweite folgt sogleich:
Drama führt das Ballon-Thema fort und führt an, was niemand leiden kann, wenn einer mit einem gefüllten Luftballon am Zippel ziehend auf einen losgeht (Globophobie ist die Angst vor Ballons. Der Setzer). Und es wirkt todernst. Nomen est omen – besorgniserregend kreischt es in einem fort, als würde jemand erwürgt. Ein Glück ist es hier nur ein enervierendes Blasinstrument.
Das Ballon-Thema indessen bietet das Sujet „Vergewaltigung“ an. Mit Unterbrechungen. In Drama ist es, als wenn das Opfer noch mit dem Täter zu verhandeln versucht und dieser alle Vorbringungen mit „Bla bla“ abtut. Technisch enorm! Kelly züngelt neurotisch in seine Trompete, Dan tutet wie von der Tarantel gestochen, irr-schlenderndes bogen und biegen am Cello durch Lomon. Täter und Opfer derweil – scheinen sich nicht einig zu werden. Gehen ab. Dieses war der zweite Streich und Balloon Flower zerrt an der Luftballonhaut wie gehabt. Es ist und bleibt irre, aber Krach ist es nicht.
Im dritten Live-Titel des dämonischen Triotreffens meint man im Hauptsaal einer Anstalt zu sein.
Manisches Lachweinen, Ticks allerorten, es zuckt und gluckt und auch der Exorzismus lässt grüßen. Aber es bläht und wächst auch scheinbar etwas wie märchenhaft. Ist es Hans und die Bohnenranke? Ein dickes Stangengewächs hoch hinein ins Wolkenkuckucksheim? Oder bin ich jetzt schon meschugge? Goldmünzen! Goldeier! Goldharfe! Ich dreh durch!
…denn ich werde in den Bann geschlagen von der Genialität der Musiker. Man muss wirklich genau hinhören! Was hier ineinander übergeht und dynamisch erzählt wird, ist technisch meisterhaft vollbracht! Es sind nur drei Instrumentalisten und man weiß es irgendwie auch, doch trotzdem ist man mitten in einem Bühnenstück, das uns unsere Habgier aufzeigt, immer wieder Übliches zu konsumieren bis wir uns selbst auskotzen und stumpfsinnig vor uns hinsiechen. Dieses war der dritte Streich und Worcester ist der finale Saft, der dem musikantischen Beisammensein entströmt.
Nicht gerade englisch und auch nicht Dresdener Art, aber wenn man sich die Zutaten von Worcester Sauce einmal durchließt, muss man sich doch wundern, warum das Zeug so gut schmeckt und der Laib nicht kapituliert. In diesem letzten Stück wurde jedoch nicht so homöoptisch dosiert. Wie passend: viel geisteskrankes Kehlkopfgegurgel, nimmer enden wollendes Gequietsche und stotterndes Dröhntrötentrampeln – willkommen im dreisttollen Narrenkabinett! Es klingt wie vergiftet. Wenn da mal nicht der Teufel seine Hand im Spiel hat… Todestaumelnd dem Ende entgegen. Klingt so Gedärm, wenn es stirbt?
Wie der Narr mit seiner Kappe dem König als einzig Dürfender den Spiegel vorhält, so dürfen Lao Dan, Greg Kelly und Glynis Loman uns zum Narren halten und uns nichts weniger zeigen, als was wir dabei in unserem Alltagsspiegel sehen. Wir, die wir uns nur allzu oft für die Könige des Lebens halten und uns entsprechend benehmen – wir sind um keinen Deut besser und wir quietschen und wir platzen oder schrumpeln und pfeifen aus dem (letzten) Loch.
Free Jazz - Wir brauchen das! Liebevolle Lobotomie…
Lao Dan, Greg Kelly, Glyniy Lemon: BALLOON FLOWER
Lao Dan (Hangzhou/ China; Bambusflöte u.a. Blasinstrumente) Greg Kelly (Boston/USA; Trompete) Glynis Lomon (Newton/USA; Stimme, Wassertelefon, Cello)
4 Titel, 39 Minuten
erhältlich als Tape und digital über die Bandcamp-Seite von Lao Dan
Gustav Roland Reudengeutz
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