DESCENDENTS-Fans sind scheiße.
Ja, ich weiß, das ist eine steile These. Aber es gibt Ereignisse in den letzten Tagen, die für diese Behauptung Gründe liefern.
Los ging's damit, dass die DESCENDENTS, eine der dienstältesten und wohl auch einflussreichsten Pop-Punkbands, am 29. Juli eine neue Platte raus bringen. Die heißt "Hypercaffium Spazzinate". Dazu schickt man gleich eine 5-Song-EP hinterher. Die heißt schlicht "Spazz Hazard".
Was bei beiden Titeln auffällt, ist die Verwendung des Wortes Spazz. Und der geht gar nicht. Denn "Spazz" bezeichnet im Englischen recht abfällig Menschen mit einer Bewegungsstörung, die durch eine frühe Hirnschädigung verursacht wird. Im Deutschen wurden Menschen mit einer solchen Behinderung früher - analog wie im Englischen - einfach als Spastis oder Spast(en) bezeichnet. Hat sich im Laufe der Jahre auch als ganz normales Schimpfwort durchgesetzt. Etwas weiter verbreitet, aber von gleicher Wortherkunft ist der vielbenutzte Spacko oder Spacken.
Im Deutschen wie im Englischen ist das Wort Spast bzw. Spazz sehr beleidigend, egal ob man nun Spastiker ist oder nicht. Ich denke, die DESCENDENTS haben den Begriff bei der Namensfindung ihrer Platte eher unbedarft eingesetzt. Aber das ist im Jahr 2016, vor dem Hintergrund von Begriffen wie Inklusion und der zunehmenden Integration von Behinderten, einfach nur total dämlich und dumm (beides!).
Für die englische Punkband HEAVY LOAD, die zu 2/3 aus Menschen mit Behinderungen besteht, war dieser Titel der DESCENDENTS-Platte ein Grund zum Protest. Es ist in diesem Zusammenhang auch wichtig zu erwähnen, dass die DESCENDENTS eine US-amerikanische Band sind, HEAVY LOAD aus Großbritannien kommen. Trotz gleicher Sprache hat der Begriff "Spazz" in beiden Ländern eine unterschiedliche Wertigkeit. Ich glaube, dass in England dem Begriff Spazz sensibler begegnet wird als im sonnigen Kalifornien, wo die DESCENDENTS herkommen. Trotzdem sollte man sowas auf dem Schirm haben, wenn man seine Platte so benennt. Dazu kommt die Einschätzung von HEAVY LOAD auf ihrer Homepage: "There also seems to be a real trend at the moment for people to proudly declare they are ‘politically incorrect and proud of it’.
Ganz allein stehen HEAVY LOAD mit ihrem Protest nicht, Unterstützung gab es auch von seiten des Blogs realgonerock.
Aber wie kann eine relativ unbekannte Punkband, ihren Unmut gegenüber solchen Szenestars wie den DESCENDENTS über deren Albumtitel äußern?
Was sie taten, war folgendes:
1.) Auf ihrem Blog einen Post setzten, der eindeutig gegen die Nutzung von "divisive language" Stellung bezieht.
2.) einen offenen Brief an die DESCENDENTS schreiben
3.)Aufruf zum Boykott der neuen DESCENDENTS-Platte.
4.) Ihrerseits ein an das bekannte Milo-goes-to-irgendwas-Motiv angelehntes T-Shirt anbieten. (Bestes DESCENDENTS-Fake-Shirt seit langer Zeit, übrigens).
5.) Eine Petition starten, die die DESCENDENTS dazu auffordert, den Titel ihres Albums zu ändern.
Nun kann man ganz pragmatisch sagen: Das bringt ja eh nichts. Die große DESCENDENTS-Werbewalze ist schon Monate vor dem Release im Gang, da sind Plattencover gedruckt, Anzeigen geschaltet, Touren gebucht, Shirts gedruckt, all das. Stimmt. Aber es geht bei dieser Aktion von HEAVY LOAD vielmehr darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aufmerksamkeit für den wirklich dummen Umgang mit einem Begriff, der in den 70er und 80ern oft benutzt wurde, aber auch da schon ein sehr abwertendes Schimpfwort war.
Zumindest wäre ein Statement der DESCENDENTS zu der ganzen Sache drin gewesen. Aber da kam nix. Und von einer Band, bei der immer wieder gern erwähnt wird, dass ihr Sänger ja ein gebildeter Mensch mit einem Doktortitel in Biochemie ist, wäre etwas mehr Reflexion bei der Wahl des Albumtitels sicher zu erwarten gewesen.
Was stattdessen als Reaktion für die HEAVY LOAD-Crew kam, war die geballte Wut der DESCENDENTS-Gemeinde.
Nur fünf Tage nachdem die Petition gestartet wurde, musste sie eingestellt werden. Warum? Weil aufgebrachte, von der Kritik an ihrer ach-so-tollen Lieblingsband in ihrem Innersten verletzte DESCENDENTSfans die Website und den Facebook-Account von HEAVY LOAD sabotiert haben. Na, spitze.
Was man sich in dem Zusammenhang mal fragen kann: Wie sieht der typische DESCENDENTS-Fan eigentlich aus? Wahrscheinlich ähnlich wie die Band. Weiße Männer mittleren Alters, möglicherweise eher der Mittelklasse zugehörig, also gar nicht so arm, und wahrscheinlich mit einer ganz ordentlichen Ausbildung - und wohl auch ganz ohne körperliche und geistige Behinderung. Ja, ich weiß, da kann ich mir an die eigene Nase fassen. Aber es kotzt mich an, dass man aus dieser Position heraus dermaßen nachtreten muss, wenn es mal zu einer Kritik an deiner Lieblings-Punkband kommt.
Und dass, nachdem gerade mal 201 (in Worten ZWEIHUNDERTUNDEINE!) Personen, diese Petition unterschrieben haben.
Dafür gibt's dann gleich massenhaft Drohmails und Webseitesabotage? Von Leuten, deren liebste Band wahrscheinlich tausendmal soviele Fans hat? Die sich mit ihrer neuen Platte, all den dazugehörigen Shirts und dem anderem Merch-Klimbim wahrscheinlich doof und dämlich verdient?
Eine Band übrigens, die ihrerseits total gerne auf ihr Außenseitertum und ihr Nerd-Dasein in ihren Songs thematisiert. Und in deren Namen wird jetzt auf die nächsten Outsider getreten, nur weil die mal Protest anmelden in einer Sache, die sie persönlich was angeht?
Es kotzt mich an. Deshalb sind DESCENDENTS-Fans scheiße.
P.S.: Dear Bill, Milo, Karl and Stephen,
I suppose, you won't understand a word of what I wrote above. But maybe you heard about the protest of HEAVY LOAD from England about the title of your new album. Would be overcharged from you to issue at least a statement regarding to this topic? I'd really appreciate that.
Cheers from a Plattenbau in East-Berlin,
Gary Flanell
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Mittwoch, 27. Juli 2016
Dienstag, 26. Juli 2016
Das gute Leben: Weitersuchen.
Was machen wir also, wenn wir das Normale nicht können, nicht wollen, nicht wollen können? Wir haben nachgedacht und uns selbst befragt, wo wir nach dem guten Leben suchen, mit allen Zweifeln und Abstrichen, und wie sich dem eine Gestalt geben lässt, was sonst bloß formlose Negation ist.
Was, du hast nur einen Teilzeitjob?
Was ich erstrebe, ist gesellschaftlich eine Defizitexistenz. Die Gewerkschaft kämpft dafür, dass mehr Menschen in Vollzeit arbeiten können, lese ich in einer Publikation der Dienstleistungsgewerkschaft. „Ach, du hast nur einen Teilzeitjob? Ja, es wird immer schwieriger, Vollzeitjobs zu finden“, seufzt eine Bekannte. Ich bin irritiert, und zugleich verunsichert.
Ja, ich arbeite in Teilzeit, 20 Wochenstunden. Zumindest was den sozialversicherungspflichtigen Teil meiner Einkünfte angeht. Ansonsten bin ich selbständig. Und das frei gewählt – zumindest im Rahmen der herrschenden Zustände. Ich habe einen Brotjob in Teilzeit, damit ich nebenher das machen kann, was ich wirklich machen möchte: Mediation. Konflikte bearbeiten. Praktische Friedensarbeit an der Basis. Sich damit voll zu finanzieren, ist bisher in Deutschland unmöglich. Reich wird man auch von meiner Kombi nicht, aber es langt zum Leben.
Als ich den Teilzeitjob gefunden habe, war ich heilfroh. In der Regel gibt es die nur für Mütter. Hat man kein Kind als Grund vorzuweisen, warum man*frau gerne Teilzeit arbeiten möchte, wird es schwierig. Eine Promotion ist eventuell noch ein Argument, aber ein anderer Arbeitsbereich, der einem auch noch am Herzen liegt? Das erscheint den meisten Arbeitgebern erstens suspekt und zweitens unnötig. Es passt nicht ins vorherrschende Leistungssystem, in dem man*frau immer alles zu geben hat, und zwar an einen Arbeitgeber.
Dazu kommt, dass ich sogar, hätte ich die ganz freie Wahl, tatsächlich nur Teilzeit arbeiten würde (derzeit tendiert die Kombi zu einer Vollzeittätigkeit). Mit einer 20- bis 30-Stunden-Woche in der Mediation meinen Lebensunterhalt zu verdienen – das wäre für mich das Paradies auf Erden. Den Rest der Zeit wüsste ich schon zu füllen, auch ohne Kind. Und ich glaube, vielen anderen geht es genauso. Dennoch hält sich der Mythos vom erstrebenswerten Vollzeitjob hartnäckig. 80% oder 75%, das ist das Höchste der Gefühle. Und auch das wird schon skeptisch betrachtet. Aber 50%? Das ist, ohne Mutterschaft, in den Augen vieler eine eindeutige Defizitexistenz.
Ich wehre mich dagegen, weiterhin. Und erträume mir einen Zustand, in dem ich - in Teilzeit! - von meinem Beruf leben kann.
Daja Stern
Was, du hast nur einen Teilzeitjob?
Was ich erstrebe, ist gesellschaftlich eine Defizitexistenz. Die Gewerkschaft kämpft dafür, dass mehr Menschen in Vollzeit arbeiten können, lese ich in einer Publikation der Dienstleistungsgewerkschaft. „Ach, du hast nur einen Teilzeitjob? Ja, es wird immer schwieriger, Vollzeitjobs zu finden“, seufzt eine Bekannte. Ich bin irritiert, und zugleich verunsichert.
Ja, ich arbeite in Teilzeit, 20 Wochenstunden. Zumindest was den sozialversicherungspflichtigen Teil meiner Einkünfte angeht. Ansonsten bin ich selbständig. Und das frei gewählt – zumindest im Rahmen der herrschenden Zustände. Ich habe einen Brotjob in Teilzeit, damit ich nebenher das machen kann, was ich wirklich machen möchte: Mediation. Konflikte bearbeiten. Praktische Friedensarbeit an der Basis. Sich damit voll zu finanzieren, ist bisher in Deutschland unmöglich. Reich wird man auch von meiner Kombi nicht, aber es langt zum Leben.
Als ich den Teilzeitjob gefunden habe, war ich heilfroh. In der Regel gibt es die nur für Mütter. Hat man kein Kind als Grund vorzuweisen, warum man*frau gerne Teilzeit arbeiten möchte, wird es schwierig. Eine Promotion ist eventuell noch ein Argument, aber ein anderer Arbeitsbereich, der einem auch noch am Herzen liegt? Das erscheint den meisten Arbeitgebern erstens suspekt und zweitens unnötig. Es passt nicht ins vorherrschende Leistungssystem, in dem man*frau immer alles zu geben hat, und zwar an einen Arbeitgeber.
Dazu kommt, dass ich sogar, hätte ich die ganz freie Wahl, tatsächlich nur Teilzeit arbeiten würde (derzeit tendiert die Kombi zu einer Vollzeittätigkeit). Mit einer 20- bis 30-Stunden-Woche in der Mediation meinen Lebensunterhalt zu verdienen – das wäre für mich das Paradies auf Erden. Den Rest der Zeit wüsste ich schon zu füllen, auch ohne Kind. Und ich glaube, vielen anderen geht es genauso. Dennoch hält sich der Mythos vom erstrebenswerten Vollzeitjob hartnäckig. 80% oder 75%, das ist das Höchste der Gefühle. Und auch das wird schon skeptisch betrachtet. Aber 50%? Das ist, ohne Mutterschaft, in den Augen vieler eine eindeutige Defizitexistenz.
Ich wehre mich dagegen, weiterhin. Und erträume mir einen Zustand, in dem ich - in Teilzeit! - von meinem Beruf leben kann.
Daja Stern
Montag, 25. Juli 2016
Das gute Leben
Wie geht es bloß, das gute Leben? Ist man die unterdrückenden Strukturen von Familie und Religion erst mal los, könnte es damit losgehen für das freie Individuum. Doch leider hatten wir vergessen, dass Individualität inzwischen definiert wurde über Lohnarbeit, ob es diese nun gibt oder nicht. Die Sozialdemokraten haben aus den Ideen eines Peter Hartz ein Menschenbild gebastelt, gegen das der Fordismus sich wie kuscheliges Biedermeier ausnimmt. Wem es gelingt, sich auf dem Markt der Arbeitskräfte zu behaupten, hat zumeist weder Zeit noch Energie übrig für ein sinnvolles Leben, das ohnehin auf einem Niveau mit Teppichknüpfen und Modelleisenbahnen in die Randnotiz „Freizeitgestaltung“ hineingefaltet wurde.
Doch da sind all diese Bedürfnisse nach Liebe und Anerkennung, in einem irgendwie gelingenden Privatleben. Dafür gibt es zum Glück ein paar lang erprobte Formen. Da weiß man, wie es geht, man wird ohne weiteres verstanden und anerkannt. Mal ausruhen und nicht immer nur machen müssen? Da ist die Couch, der Fernseher, Netflix. Sich mal richtig gut fühlen? Geh dir was Schönes kaufen, hast ja Kreditkarten. Leben auf die Reihe kriegen? Zeit zum Heiraten. Dann Zeit zum Kinderkriegen. Und was kommt als Nächstes? Haus bauen oder Wohnung kaufen. Ist das nun soweit arrangiert, die Stufen des bürgerlichen Lebens erreicht, das Gehalt zusammengeworfen und die Steuer entlastet: dann werden auch Zeittaschen geschaffen für Yoga und Skiurlaub, Chorgesang und Theaterproben. Auf diesem Weg kommen so manche Menschen nach und nach zu einem ausgefüllten und angenehmen, privilegierten Leben.
Warum sind sie privilegiert? Nun, natürlich, weil sie Geld haben. Aber auch, weil sie die Formen leben, die allgemein anerkannt sind. Weil sie nicht weiter darüber nachdenken müssen. Sie können es sich leisten, nachzudenken, wenn sie die Zeit dafür finden. Aber das quälende Nachdenken, das existenzielle, wer davon frei ist, ist privilegiert. Denn man muss dieses Leben auch wollen können.
Mit dem Prinzip Individualität kann nur erreicht werden, was das Individuum will. Anders ist ihm nur mit direktem Zwang, dh Sanktionen beizukommen. Kein Zufall, dass die Ideen von Peter Hartz in eine Werbesprache gefasst waren, die einem Konsumgut angemessener wäre. Gib ihnen ein Schema, das sie wollen können, und halte den Zwang zurück als letztes Mittel.
Was aber passiert, wenn das Individuum nicht will und nicht kann? Studium abgebrochen, nie eine feste Beziehung aufrecht erhalten, es nie in einem ordentlich bezahlten Job ausgehalten? Du hast es eben nicht richtig gewollt, sagen andere und haben recht.
Wir könnten aber auch fragen, ob sich nicht ebenso gut etwas anderes wollen lässt. Nur was? Um etwas wollen zu können, muss es irgendwie bestimmt werden. Es muss konkret sein, und irgendwie, irgendwo sozial anerkannt.
Die Suche nach „Alternativen“ ist eine alte Geschichte. Das Wort „Alternative“ war mal subversiv: als Gegenentwurf zum Etablierten. Wie alle subversiven Entwürfe, die sich verwerten lassen, wurde es vom Mainstream aufgenommen. Denn es passt so schön zum Prinzip Individualität. Jeder kann für sich entscheiden, auswählen, konsumieren. Dabei bleiben die sozial anerkannten Formen immer gleich, weil politisch bevorzugt: so viel Zeit wie möglich für Lohnarbeit (damit sich für den Arbeitgeber die Sozialabgaben lohnen), Modell Kleinfamilie (damit Pflege- und Sorgearbeit unentgeltlich bleibt), und die Illusion individualistischer Entfaltung (unterm Strich zähl ich, sagt die Postbank). Hier tauchen die „Alternativen“ wieder auf: in der Indie-Musik bei Spotify und dem crazy Klamottendesign, natürlich fairtrade. Jetzt bedeutet „alternativ“ einfach: ein bisschen anders, besonders, speziell, und schick.
Ansonsten haben wir eine „alternativlose“ Politik, was bedeutet: „es geht nicht anders, wir müssen alle (erschießen / verhungern lassen / ausgrenzen / verkaufen / einsparen)“. Daneben wabern irgendwo die „alternativen Medien“, die einen eigenen, speziellen, besonderen Weg zum Heil versprechen: zur unverstellten Wahrheit der Verschwörungen, die das Übel der Welt verursachen und nur erkannt werden müssten. Und als besonderes Sahnehäubchen haben wir die Partei „Alternative für Deutschland“. Die einzige Möglichkeit, alles anders zu machen? Die Alternative zur gescheiterten, selbsterklärt „alternativlosen“ Norm? Das, so die AfD, seien sie: die Rechten. Was mal subversiv war, ist jetzt ganz einfach rechts.
Das Problem ist eben die Unterscheidung: Normalität-Alternative. Einer realen Alternativlosigkeit sind immer Entscheidungen vorhergegangen. Der Weg, der als „normal“ etabliert ist, war immer nur eine Alternative unter mehreren. Alle Wege sind Alternativen. Die Ehe ist eine Alternative zu anderen Lebensformen. Alle Lebensstile sind alternativ.
Was das „Normale“ den anderen Alternativen voraus hat: Es ist genau bestimmt, alles andere ist nur Negation. Das Normale hat eine Form, die sich wiederholt. Nur die Ausführungen variieren, wie das Sofadesign bei IKEA. Ob in der Metalkutte heiraten oder im fließenden Hippiedress auf Bali, das ist dann egal. Heiraten ist genau bestimmt. Nicht zu heiraten ist nur eine Negation. Lohnarbeit ist genau bestimmt, jeder andere Zustand nur eine Negation. Das Bemühen um andere Lebensformen ist für die verwirrten und erschöpften Geister oft nicht mehr als das: ein Bemühen. Und bemühen kann sich keiner ewig, wenn sich kein Ergebnis zeigt.
Wie geht das also, zu wissen, was man will, wenn man es sich selber ausdenken muss? Wenn man bisher nur weiß, was man nicht will, oder nicht kann, oder nicht wollen kann?
Mehr dazu in den nächsten Tagen hier auf diesem Blog.
Alissa Wyrdguth
Doch da sind all diese Bedürfnisse nach Liebe und Anerkennung, in einem irgendwie gelingenden Privatleben. Dafür gibt es zum Glück ein paar lang erprobte Formen. Da weiß man, wie es geht, man wird ohne weiteres verstanden und anerkannt. Mal ausruhen und nicht immer nur machen müssen? Da ist die Couch, der Fernseher, Netflix. Sich mal richtig gut fühlen? Geh dir was Schönes kaufen, hast ja Kreditkarten. Leben auf die Reihe kriegen? Zeit zum Heiraten. Dann Zeit zum Kinderkriegen. Und was kommt als Nächstes? Haus bauen oder Wohnung kaufen. Ist das nun soweit arrangiert, die Stufen des bürgerlichen Lebens erreicht, das Gehalt zusammengeworfen und die Steuer entlastet: dann werden auch Zeittaschen geschaffen für Yoga und Skiurlaub, Chorgesang und Theaterproben. Auf diesem Weg kommen so manche Menschen nach und nach zu einem ausgefüllten und angenehmen, privilegierten Leben.
Warum sind sie privilegiert? Nun, natürlich, weil sie Geld haben. Aber auch, weil sie die Formen leben, die allgemein anerkannt sind. Weil sie nicht weiter darüber nachdenken müssen. Sie können es sich leisten, nachzudenken, wenn sie die Zeit dafür finden. Aber das quälende Nachdenken, das existenzielle, wer davon frei ist, ist privilegiert. Denn man muss dieses Leben auch wollen können.
Mit dem Prinzip Individualität kann nur erreicht werden, was das Individuum will. Anders ist ihm nur mit direktem Zwang, dh Sanktionen beizukommen. Kein Zufall, dass die Ideen von Peter Hartz in eine Werbesprache gefasst waren, die einem Konsumgut angemessener wäre. Gib ihnen ein Schema, das sie wollen können, und halte den Zwang zurück als letztes Mittel.
Was aber passiert, wenn das Individuum nicht will und nicht kann? Studium abgebrochen, nie eine feste Beziehung aufrecht erhalten, es nie in einem ordentlich bezahlten Job ausgehalten? Du hast es eben nicht richtig gewollt, sagen andere und haben recht.
Wir könnten aber auch fragen, ob sich nicht ebenso gut etwas anderes wollen lässt. Nur was? Um etwas wollen zu können, muss es irgendwie bestimmt werden. Es muss konkret sein, und irgendwie, irgendwo sozial anerkannt.
Die Suche nach „Alternativen“ ist eine alte Geschichte. Das Wort „Alternative“ war mal subversiv: als Gegenentwurf zum Etablierten. Wie alle subversiven Entwürfe, die sich verwerten lassen, wurde es vom Mainstream aufgenommen. Denn es passt so schön zum Prinzip Individualität. Jeder kann für sich entscheiden, auswählen, konsumieren. Dabei bleiben die sozial anerkannten Formen immer gleich, weil politisch bevorzugt: so viel Zeit wie möglich für Lohnarbeit (damit sich für den Arbeitgeber die Sozialabgaben lohnen), Modell Kleinfamilie (damit Pflege- und Sorgearbeit unentgeltlich bleibt), und die Illusion individualistischer Entfaltung (unterm Strich zähl ich, sagt die Postbank). Hier tauchen die „Alternativen“ wieder auf: in der Indie-Musik bei Spotify und dem crazy Klamottendesign, natürlich fairtrade. Jetzt bedeutet „alternativ“ einfach: ein bisschen anders, besonders, speziell, und schick.
Ansonsten haben wir eine „alternativlose“ Politik, was bedeutet: „es geht nicht anders, wir müssen alle (erschießen / verhungern lassen / ausgrenzen / verkaufen / einsparen)“. Daneben wabern irgendwo die „alternativen Medien“, die einen eigenen, speziellen, besonderen Weg zum Heil versprechen: zur unverstellten Wahrheit der Verschwörungen, die das Übel der Welt verursachen und nur erkannt werden müssten. Und als besonderes Sahnehäubchen haben wir die Partei „Alternative für Deutschland“. Die einzige Möglichkeit, alles anders zu machen? Die Alternative zur gescheiterten, selbsterklärt „alternativlosen“ Norm? Das, so die AfD, seien sie: die Rechten. Was mal subversiv war, ist jetzt ganz einfach rechts.
Das Problem ist eben die Unterscheidung: Normalität-Alternative. Einer realen Alternativlosigkeit sind immer Entscheidungen vorhergegangen. Der Weg, der als „normal“ etabliert ist, war immer nur eine Alternative unter mehreren. Alle Wege sind Alternativen. Die Ehe ist eine Alternative zu anderen Lebensformen. Alle Lebensstile sind alternativ.
Was das „Normale“ den anderen Alternativen voraus hat: Es ist genau bestimmt, alles andere ist nur Negation. Das Normale hat eine Form, die sich wiederholt. Nur die Ausführungen variieren, wie das Sofadesign bei IKEA. Ob in der Metalkutte heiraten oder im fließenden Hippiedress auf Bali, das ist dann egal. Heiraten ist genau bestimmt. Nicht zu heiraten ist nur eine Negation. Lohnarbeit ist genau bestimmt, jeder andere Zustand nur eine Negation. Das Bemühen um andere Lebensformen ist für die verwirrten und erschöpften Geister oft nicht mehr als das: ein Bemühen. Und bemühen kann sich keiner ewig, wenn sich kein Ergebnis zeigt.
Wie geht das also, zu wissen, was man will, wenn man es sich selber ausdenken muss? Wenn man bisher nur weiß, was man nicht will, oder nicht kann, oder nicht wollen kann?
Mehr dazu in den nächsten Tagen hier auf diesem Blog.
Alissa Wyrdguth
Donnerstag, 21. Juli 2016
Kinder der Avantgarde
THE SHAGGS waren so eine Band. YOUTH BRIGADE auch. DEATH, diese schwarzen Protopunks auch und die MmmmBop-Teenies von HANSON ebenso. Alles Bands, die man rein formal ins Genre der Drei-Geschwister-Bands stecken könnte. Falls einem beim Plattensortieren so gar nichts einfällt.
So ist's auch bei JACK OF NONE, jene Band, deren CD "who's listening to van gogh's ear?" hier vor einigen Wochen ankam. Dahinter stecken A.G., Maxine und Julian Syjuco. Alle drei Kinder des avantgardistischen Künstlerehepaars Cesare und Jean-Marie Syjuco,die ihrerseits beide im Kunstbetrieb auf den Philippinen richtig große Nummern. Und das seit Jahren.
Nun beschäftige ich mich im Alltag eher selten mit philippinischen Avantgardekünstlern und deren Kindern, muss aber sagen, dass JACK OF NONE mich mit ihrer Platte sofort gepackt haben. Und das lag nicht an der Drei-Geschwister-Konstellation. Oder an einem möglichen Exotenbonus.
Denn den gibt es nicht mehr. Hey, es ist 2016 und einer der Effekte der Globalisierung mag doch sein, dass Pop (inklusive aller Subkulturen) wirklich auch im hintersten Winkel der Welt (ok, super eurozentristischer Ansatz, sorry) empfangen und rezipiert und interpretiert wird. Wer sich immer noch erstaunt fragt, wie es etwa um die Punkszene der Philippinen bestellt ist, schaut sich a) ganz fix im Netz um (und findet da unter Pinoy Punk eine Menge Links), oder fragt b) mal den Kollegen Mika vom Alleiner Thread-Zine, denn den kann man getrost als Experten für Philippinopunk bezeichnen oder hört sich c) nochmal die SubCult-Sendung zum Thema an. Aber das ist nur ein Abschweif.
JACK OF NONE haben mit straight vorgetragenem Punkrock wenig zu tun. Eher kann man sie mit ihrer kühlen Ausstrahlung und Ambivalenz in der Nähe von frühen Wave- und Postpunkbands verorten. Was sie wiederum ganz interessant macht. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber Platte, die wie der Soundtrack zu einem nie gedrehten David-Lynch-Film daherkommt, war es sicher nicht.
Dabei fängt alles erstmal recht easy an: Der Opener "Hotel Carcass" startet mit einem locker lounge-artigen Basslauf, zu dem sich eine recht kryptische Spoken word-Story gesellt. Kaum tröpfelte das an einer schwitzigen Sommernacht aus den Boxen, dachte ich schon, JoN wären sowas wie eine südostasiatische Version von NOUVELLE VAGUE. Nur ohne Coverversionen. Wäre ja auch ganz charmant, dachte ich und tupfte mir den Schweiß von der Stirn.
Was dann im weiteren Verlauf kommt, ist nicht ganz so eingängig, aber gerade deshalb umso spannender. Diese etwas spröden drei Philipinos experimentieren munter mit Electro, Alternative Rock und Industrial-Sounds. Legen über all das auch gern mal einen Metal-Gitarrensound, der auch einer Rammstein oder Marilyn Manson-Platte gut stehen würde.
Was noch zur Verwirrung oder besser gesagt Vielfalt beiträgt, aber auch gut ins Gesamtbild passt, ist die Stimme der Sängerin Maxine. Die wird durch allerlei Effekte so verfremdet, als würde eine androgyne Apple-Siri auf LSD ihr Albumdebut geben. Dass es der Sound engineer zuweilen etwas zu gut mit der Bearbeitung der Stimmtracks gemeint hat - geschenkt.
Dank all dieser Sounds zusammen mit den gedichthaft vorgetragenen Texten, bewegt sich "who's listening to van gogh's ear?" ziemlich locker auf der Kante zwischen Kunst, Experiment und Pop. David Lynch würde das bestimmt mögen, Andy Warhol sicher auch. Auch wenn mir nach mehrmaligem Hören immer noch das eine oder andere Fragezeichen durch den Schädel mäandert, muss ich sagen: Lieber so eine atmosphärische Platte, die ich mir gut in einer schwülen Opiumhöhle vorstellen kann, auf deren Sofas sich IAMX, PJ Harvey und Siouxsie zu den No-Wave-Performanzen von Lydia Lunch räkeln(reicht jetzt auch mal mit Verweisen, oder?), als die hundertste Punkplatte, bei der sofort alles offensichtlich und eindeutig ist.
(E) wie Exotenbonus up my ass auf der 26-stufigen Renfield-Rezensions-Bewertungs-Skala.
Gary Flanell
jackofnone.net
So ist's auch bei JACK OF NONE, jene Band, deren CD "who's listening to van gogh's ear?" hier vor einigen Wochen ankam. Dahinter stecken A.G., Maxine und Julian Syjuco. Alle drei Kinder des avantgardistischen Künstlerehepaars Cesare und Jean-Marie Syjuco,die ihrerseits beide im Kunstbetrieb auf den Philippinen richtig große Nummern. Und das seit Jahren.
Nun beschäftige ich mich im Alltag eher selten mit philippinischen Avantgardekünstlern und deren Kindern, muss aber sagen, dass JACK OF NONE mich mit ihrer Platte sofort gepackt haben. Und das lag nicht an der Drei-Geschwister-Konstellation. Oder an einem möglichen Exotenbonus.
Denn den gibt es nicht mehr. Hey, es ist 2016 und einer der Effekte der Globalisierung mag doch sein, dass Pop (inklusive aller Subkulturen) wirklich auch im hintersten Winkel der Welt (ok, super eurozentristischer Ansatz, sorry) empfangen und rezipiert und interpretiert wird. Wer sich immer noch erstaunt fragt, wie es etwa um die Punkszene der Philippinen bestellt ist, schaut sich a) ganz fix im Netz um (und findet da unter Pinoy Punk eine Menge Links), oder fragt b) mal den Kollegen Mika vom Alleiner Thread-Zine, denn den kann man getrost als Experten für Philippinopunk bezeichnen oder hört sich c) nochmal die SubCult-Sendung zum Thema an. Aber das ist nur ein Abschweif.
JACK OF NONE haben mit straight vorgetragenem Punkrock wenig zu tun. Eher kann man sie mit ihrer kühlen Ausstrahlung und Ambivalenz in der Nähe von frühen Wave- und Postpunkbands verorten. Was sie wiederum ganz interessant macht. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber Platte, die wie der Soundtrack zu einem nie gedrehten David-Lynch-Film daherkommt, war es sicher nicht.
Dabei fängt alles erstmal recht easy an: Der Opener "Hotel Carcass" startet mit einem locker lounge-artigen Basslauf, zu dem sich eine recht kryptische Spoken word-Story gesellt. Kaum tröpfelte das an einer schwitzigen Sommernacht aus den Boxen, dachte ich schon, JoN wären sowas wie eine südostasiatische Version von NOUVELLE VAGUE. Nur ohne Coverversionen. Wäre ja auch ganz charmant, dachte ich und tupfte mir den Schweiß von der Stirn.
Was dann im weiteren Verlauf kommt, ist nicht ganz so eingängig, aber gerade deshalb umso spannender. Diese etwas spröden drei Philipinos experimentieren munter mit Electro, Alternative Rock und Industrial-Sounds. Legen über all das auch gern mal einen Metal-Gitarrensound, der auch einer Rammstein oder Marilyn Manson-Platte gut stehen würde.
Was noch zur Verwirrung oder besser gesagt Vielfalt beiträgt, aber auch gut ins Gesamtbild passt, ist die Stimme der Sängerin Maxine. Die wird durch allerlei Effekte so verfremdet, als würde eine androgyne Apple-Siri auf LSD ihr Albumdebut geben. Dass es der Sound engineer zuweilen etwas zu gut mit der Bearbeitung der Stimmtracks gemeint hat - geschenkt.
Dank all dieser Sounds zusammen mit den gedichthaft vorgetragenen Texten, bewegt sich "who's listening to van gogh's ear?" ziemlich locker auf der Kante zwischen Kunst, Experiment und Pop. David Lynch würde das bestimmt mögen, Andy Warhol sicher auch. Auch wenn mir nach mehrmaligem Hören immer noch das eine oder andere Fragezeichen durch den Schädel mäandert, muss ich sagen: Lieber so eine atmosphärische Platte, die ich mir gut in einer schwülen Opiumhöhle vorstellen kann, auf deren Sofas sich IAMX, PJ Harvey und Siouxsie zu den No-Wave-Performanzen von Lydia Lunch räkeln(reicht jetzt auch mal mit Verweisen, oder?), als die hundertste Punkplatte, bei der sofort alles offensichtlich und eindeutig ist.
(E) wie Exotenbonus up my ass auf der 26-stufigen Renfield-Rezensions-Bewertungs-Skala.
Gary Flanell
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Wave,
who's listening to van gogh's ear?
Montag, 18. Juli 2016
Once there was...
" a band in my life and finally now there's this EP. Have a listen, if you may" schreibt Lorena Pernalonga jüngst auf Facebook.
Die Band um die es geht, sind THE BRUNETTEZ und Lorena war deren Sängerin und Bassistin. THE BRUNETTEZ waren eine sehr unterhaltsame Kreuzberger Punkband, bestehend aus vier Frauen, die zwar anfangs an ihren Instrumenten ganz unbedarft waren, aber unglaublich viel Lust hatten, Musik zu machen. Eigentlich genau das, was eine Punkband ausmachen sollte. Viel Energie und viel Spaß, miteinander rumzuhängen und Lärm zu machen. Dass bei den Brunettez ausschließlich Frauen spielten, war kein Marketinggag, sondern hat sich eben so ergeben. Und wurde auch nie als verkaufsfördernder Fact in den Vordergrund gestellt. Weshalb sich die Band auch eher schlecht als Beispiel für gut gemeinten "Tokenism" eignete.
Davon ab waren Brunettezkonzerte in den Kellern Kreuzbergs immer sehr unterhaltsame Abende, auch weil ein gewisser Dilettantismus nie vertuscht wurde. So wusste man nie was genau passieren würde und das war eben spannend. Musikalisch bewegte man sich irgendwo zwischen frühem Slits-Punk. Rrriot grrrl-Einstellung und Stereo-Total-Trash.
Was dann noch fehlte, war eine Platte. Die aber irgendwie nie kam. Letztendlich ging es den Brunettez dabei dann wie unglaublich vielen anderen Bands. Potential war sicher da, aber dann kamen die üblichen kleinen Probleme: Besetzungswechsel, zwischenzeitliche Motivationshänger, der Unwillen, den sicheren Heimathafen Berlin zu verlassen und regelmäßig außerhalb zu spielen. Sowas halt. Alles nachvollziehbar und somit kein Vorwurf, dass die Brunettez irgendwann einfach implodiert sind.
Als Tondokumente sind der Nachwelt nur wenige Aufnahmen erhalten. Da gibt es das wunderbare Tape, erschienen auf Trim Tab Tapes, mit den alten Hits wie "Cola Pur", "O2 Song" oder dem "Ice cream man", ein Beitrag auf dem vierten SCREAMING FOR A BETTER FUTURE-Sampler (John Steam Records & Campary Records) und eine nicht veröffentlichte EP namens Street Cat. Vier neue Songs findet der geneigte Hörer da. Vier Songs, die dem Tape um nichts nachstehen und hätten die Brunettez weitergemacht, dann wäre da wohl sicher früher oder später eine eine gar nicht so üble LP rausgekommen.
Aber trauern hilft nix. Lieber nochmal den digitalen Player auf Repeat stellen und sich an der Energie freuen, die bei den Aufnahmen d er Brunettez, egal ob früh oder spät immer rüberkommt.
Die Street Cat-EP gibt es neuerdings auf der Bandcamp-Seite der Brunettez zum Anhören und Runterladen. Gegen Spende oder für die, die nix haben, auch als Geschenk.
Gary Flanell
Die Band um die es geht, sind THE BRUNETTEZ und Lorena war deren Sängerin und Bassistin. THE BRUNETTEZ waren eine sehr unterhaltsame Kreuzberger Punkband, bestehend aus vier Frauen, die zwar anfangs an ihren Instrumenten ganz unbedarft waren, aber unglaublich viel Lust hatten, Musik zu machen. Eigentlich genau das, was eine Punkband ausmachen sollte. Viel Energie und viel Spaß, miteinander rumzuhängen und Lärm zu machen. Dass bei den Brunettez ausschließlich Frauen spielten, war kein Marketinggag, sondern hat sich eben so ergeben. Und wurde auch nie als verkaufsfördernder Fact in den Vordergrund gestellt. Weshalb sich die Band auch eher schlecht als Beispiel für gut gemeinten "Tokenism" eignete.
Davon ab waren Brunettezkonzerte in den Kellern Kreuzbergs immer sehr unterhaltsame Abende, auch weil ein gewisser Dilettantismus nie vertuscht wurde. So wusste man nie was genau passieren würde und das war eben spannend. Musikalisch bewegte man sich irgendwo zwischen frühem Slits-Punk. Rrriot grrrl-Einstellung und Stereo-Total-Trash.
Was dann noch fehlte, war eine Platte. Die aber irgendwie nie kam. Letztendlich ging es den Brunettez dabei dann wie unglaublich vielen anderen Bands. Potential war sicher da, aber dann kamen die üblichen kleinen Probleme: Besetzungswechsel, zwischenzeitliche Motivationshänger, der Unwillen, den sicheren Heimathafen Berlin zu verlassen und regelmäßig außerhalb zu spielen. Sowas halt. Alles nachvollziehbar und somit kein Vorwurf, dass die Brunettez irgendwann einfach implodiert sind.
Als Tondokumente sind der Nachwelt nur wenige Aufnahmen erhalten. Da gibt es das wunderbare Tape, erschienen auf Trim Tab Tapes, mit den alten Hits wie "Cola Pur", "O2 Song" oder dem "Ice cream man", ein Beitrag auf dem vierten SCREAMING FOR A BETTER FUTURE-Sampler (John Steam Records & Campary Records) und eine nicht veröffentlichte EP namens Street Cat. Vier neue Songs findet der geneigte Hörer da. Vier Songs, die dem Tape um nichts nachstehen und hätten die Brunettez weitergemacht, dann wäre da wohl sicher früher oder später eine eine gar nicht so üble LP rausgekommen.
Aber trauern hilft nix. Lieber nochmal den digitalen Player auf Repeat stellen und sich an der Energie freuen, die bei den Aufnahmen d er Brunettez, egal ob früh oder spät immer rüberkommt.
Die Street Cat-EP gibt es neuerdings auf der Bandcamp-Seite der Brunettez zum Anhören und Runterladen. Gegen Spende oder für die, die nix haben, auch als Geschenk.
Gary Flanell
Sonntag, 17. Juli 2016
Die Sache mit dem Zenit
Täglich wächst die Zahl der Momente, in denen ich meinen Rechner mit fiesesten Schimpfworten aus dem Genitalbereich betitele. Warum? Wenn er zum Beispiel aus nicht nachvollziehbaren Gründen einen Text wie diesen in ein spontan aufpoppendes Lesezeichenfenster schreibt. Nervt. Aber das tun viele Dinge.
Der überschriftgebende Zenit nervt eher selten. Egal, ob es der natürliche, täglich auftretende ist oder der Zenit im Schaffen eines Künstlers, einer Band: Der ist leider so perfide, dass er oft erst zu erkennen ist, wenn er schon lange zurückliegt. Hildegard Knef hat das ganz hübsch zusammengefasst:
Weiß man aber oft erst hinterher. Aber wenn es um eben diese überschrittene Phase der Genialität geht, dann ist so ein Zenit eine sehr nützliche Sache, zumindest für den hämisch lachenden Kritiker. Der kann dann selbstsicher vom Zenitgeschwafel zu einer anderen Binsenweisheit switchen: Weniger wäre mehr gewesen.
Da waren die Binsen ganz schön schlau, als ihnen das eingefallen ist. So wär's manchmal vielleicht besser gewesen, diese eine Platte nicht zu machen, diesen einen Film nicht zu drehen oder dieses eine Buch mal Tagträumerei sein zu lassen.
Von so einem Spruch ausgehend, bin ich schnell dabei, zu sagen, dass es ja bei manchem Bands eine einzige Single auch getan hätte, statt das Gesamtwerk auf eine oder zwei oder drei Platten. Aber sich zurücknehmen, das machen bands eher selten. Eine Platte muss es meist sein. Je größer, desto besser, je mehr Songs, desto schöner. Egal, ob neben den beiden All-time Hits nur noch Füllmaterial dabei ist. Wie gesagt: Das sieht man meist eher aus der Distanz. Wenn's eh zu spät ist um all die Rohstoffe. die für die 500er Vinylauflage verprasst wurden.
Beispiele? Denke gerade an zwei Combos, die kein Mensch mehr kennt und an zwei Bands, die recht aktuell eine Splitsingle rausgebracht haben.
1. THE NOZEMS: So eine obskure holländische Garage-Punkband mit leichtem Hüsker Dü-Schlag aus den 80ern. Zwei Alben haben sie gemacht, die sind nicht schlecht, aber brauchen tut man davon eigentlich nur einen Song. Der heißt PSYCHO und ist ein Knaller von Punksong. JA! Really! Richtige Geschwindigkeit, richtige Melodie, richtiger Außenseitertext. Großartig! Gab's ja auch auf Single. Damals auf Black Box. Und was hätte daraus werden können, wenn sich LEATHERFACE dem mal angenommen hätten? Alles! Ein Hit! Zwei Hits! Drei Hits! Zehn Hits! War aber nix. Nun ja. Wie ich sagte, das hätte eigentlich schon gereicht an Output.
Liebe Internetregie, bitte mal den Videobeweis anfahren:
2. THE SCUBA DRIVERS: Das waren mal zuckersüße Pop-Punk-Jungs aus Frankreich. So ein wenig wie Mega City Four. Waren vor gefühlten Jahrhunderten auf dem "The Violence inherent the System"-Sampler drauf. War eine Spitzensampler, mit den Nomads, Noise Annoys, den Wolfmen und allerlei mehr Punk und Rock'n'Rollbands. Kriegt man mittlerweile billig hinterher geworfen, wenn man Discogs glauben mag.
Aber die Zeiten, in denen Sampler zum Kennenlernen neuer Bands wichtig waren, sind so weit weg, da kommt nicht mal ein aufrichtiger Zeitreisender mehr hin. Ähnlich lange her ist es, als die Mini-LP "Welcome to the hard times" der Scuba Drivers aus, eh, Perigeux (Wo? Was?) stammend. Eien Mini-LP ist fast so gut wie eine 7inch, aber die ist ja quasi das Konzentrat einer jeden Band. Und selbst wenn sich die Scuba Drivers schon auf eine Auswahl von 6 ihrer Hits auf "Welcome to the hard times" beschränkt haben, hätte eine Single mit "All around" auf der A-Seite und irgendeinem B-Seiten-tauglichen B-Seitenhit auf der B-Seite gereicht.
Auch hier bitte den Videobewis zu Rate ziehen:
Ist das ein Hit? Oui, c'est ca!
3. SENOR KAROSHI/AUßER ICH: Wie schon angekündigt, die beiden Bands, die sich ganz aktuell eine Single teilen. Kooperation der sympathischen Art, sowas. Deutschsprachiger Punk ist gerade nicht das, was ich derzeit oft höre, vieles klingt mir heutzutage zu gleich, zu sehr bei Pascow, Turbostaat undwiesiealleheißen abgehört. Deshalb betrachte ich solche Releases, wenn sie hier reinkommen mit etwas gekräuselter Stirn.
SENOR KAROSHI, aus Trier, ziehen mir die Skepsis aber schnell aus dem Gesicht. Der Gesang ist sehr klar, die Texte sind nicht ganz doof. Kommen ein bißchen wie eine weniger räudige Variante der KNOCHENFABRIK oder eine etwas rockigere TAGTRAUM-Version rüber.
Vor 15 Jahren hätte ich "wasted on the young" sicher aufs Mixtape für eine Angebetete gebracht. Für den asozial eingestellten Punkrocker vielleicht ein wenig zu glatt, aber warum nicht. Beste Textzeile? "Das Leben ist mal Kaffee, mal Spucke mit Ei."
AUßER ICH kommen aus Siegen. Kein Grund für eine schlechte Jugend, das ist schließlich Graf Zahl-City. Sie starten mit einem lustigen Leonard-Nimoy-Sample von den Simpsons, kommen dann etwas spröder, verzweifelter und krachiger als ihre Kollegen von der anderen Seite rüber. Mehr der Sound, den man hören möchte, wenn sich die Wände deiner Wohnung mal wieder um dich zusammenziehen. Verstärkt das Gefühl nochmal.
Insgesamt also eine Split-Platte von zwei deutschsprachigen Bands, die sehr gut zusammenpassen. Beide zusammen auf Tour, das wäre ein gutes Paket. Da gäbe es keinen Vor- und Hauptact, weil sich beide Bands - zumindest anhand des gehörten Materials, gut ergänzen. Und so doll nach den Bands aus dem Tante-Guerilla-Stall klingen sie dann doch nicht. Aber mal zurück zur Ausgangslage. Brauche ich also von SENOR KAROSHI und AUßER ICH mehr als diese Single? Nein. Aber wer sich im Jahr des Feueraffen doch noch mit interessantem Deutschpunk eindecken will, ganz sicher.
Auf Youtube sind die Songs der Splitsingle noch nicht angekommen, aber einiges anderes von beiden Bands. zugegeben, da klingen sie gar nicht so übel. Vielleicht kauf ich mir doch ne Platte von denen.
Die SENOR KAROSHI/AUßER ICH-Splitsinlge ist auf Tumbleweed Records erschienen.
Gary Flanell
senorkaroshi.bandcamp.com
Der überschriftgebende Zenit nervt eher selten. Egal, ob es der natürliche, täglich auftretende ist oder der Zenit im Schaffen eines Künstlers, einer Band: Der ist leider so perfide, dass er oft erst zu erkennen ist, wenn er schon lange zurückliegt. Hildegard Knef hat das ganz hübsch zusammengefasst:
Weiß man aber oft erst hinterher. Aber wenn es um eben diese überschrittene Phase der Genialität geht, dann ist so ein Zenit eine sehr nützliche Sache, zumindest für den hämisch lachenden Kritiker. Der kann dann selbstsicher vom Zenitgeschwafel zu einer anderen Binsenweisheit switchen: Weniger wäre mehr gewesen.
Da waren die Binsen ganz schön schlau, als ihnen das eingefallen ist. So wär's manchmal vielleicht besser gewesen, diese eine Platte nicht zu machen, diesen einen Film nicht zu drehen oder dieses eine Buch mal Tagträumerei sein zu lassen.
Von so einem Spruch ausgehend, bin ich schnell dabei, zu sagen, dass es ja bei manchem Bands eine einzige Single auch getan hätte, statt das Gesamtwerk auf eine oder zwei oder drei Platten. Aber sich zurücknehmen, das machen bands eher selten. Eine Platte muss es meist sein. Je größer, desto besser, je mehr Songs, desto schöner. Egal, ob neben den beiden All-time Hits nur noch Füllmaterial dabei ist. Wie gesagt: Das sieht man meist eher aus der Distanz. Wenn's eh zu spät ist um all die Rohstoffe. die für die 500er Vinylauflage verprasst wurden.
Beispiele? Denke gerade an zwei Combos, die kein Mensch mehr kennt und an zwei Bands, die recht aktuell eine Splitsingle rausgebracht haben.
1. THE NOZEMS: So eine obskure holländische Garage-Punkband mit leichtem Hüsker Dü-Schlag aus den 80ern. Zwei Alben haben sie gemacht, die sind nicht schlecht, aber brauchen tut man davon eigentlich nur einen Song. Der heißt PSYCHO und ist ein Knaller von Punksong. JA! Really! Richtige Geschwindigkeit, richtige Melodie, richtiger Außenseitertext. Großartig! Gab's ja auch auf Single. Damals auf Black Box. Und was hätte daraus werden können, wenn sich LEATHERFACE dem mal angenommen hätten? Alles! Ein Hit! Zwei Hits! Drei Hits! Zehn Hits! War aber nix. Nun ja. Wie ich sagte, das hätte eigentlich schon gereicht an Output.
Liebe Internetregie, bitte mal den Videobeweis anfahren:
2. THE SCUBA DRIVERS: Das waren mal zuckersüße Pop-Punk-Jungs aus Frankreich. So ein wenig wie Mega City Four. Waren vor gefühlten Jahrhunderten auf dem "The Violence inherent the System"-Sampler drauf. War eine Spitzensampler, mit den Nomads, Noise Annoys, den Wolfmen und allerlei mehr Punk und Rock'n'Rollbands. Kriegt man mittlerweile billig hinterher geworfen, wenn man Discogs glauben mag.
Aber die Zeiten, in denen Sampler zum Kennenlernen neuer Bands wichtig waren, sind so weit weg, da kommt nicht mal ein aufrichtiger Zeitreisender mehr hin. Ähnlich lange her ist es, als die Mini-LP "Welcome to the hard times" der Scuba Drivers aus, eh, Perigeux (Wo? Was?) stammend. Eien Mini-LP ist fast so gut wie eine 7inch, aber die ist ja quasi das Konzentrat einer jeden Band. Und selbst wenn sich die Scuba Drivers schon auf eine Auswahl von 6 ihrer Hits auf "Welcome to the hard times" beschränkt haben, hätte eine Single mit "All around" auf der A-Seite und irgendeinem B-Seiten-tauglichen B-Seitenhit auf der B-Seite gereicht.
Auch hier bitte den Videobewis zu Rate ziehen:
Ist das ein Hit? Oui, c'est ca!
3. SENOR KAROSHI/AUßER ICH: Wie schon angekündigt, die beiden Bands, die sich ganz aktuell eine Single teilen. Kooperation der sympathischen Art, sowas. Deutschsprachiger Punk ist gerade nicht das, was ich derzeit oft höre, vieles klingt mir heutzutage zu gleich, zu sehr bei Pascow, Turbostaat undwiesiealleheißen abgehört. Deshalb betrachte ich solche Releases, wenn sie hier reinkommen mit etwas gekräuselter Stirn.
SENOR KAROSHI, aus Trier, ziehen mir die Skepsis aber schnell aus dem Gesicht. Der Gesang ist sehr klar, die Texte sind nicht ganz doof. Kommen ein bißchen wie eine weniger räudige Variante der KNOCHENFABRIK oder eine etwas rockigere TAGTRAUM-Version rüber.
Vor 15 Jahren hätte ich "wasted on the young" sicher aufs Mixtape für eine Angebetete gebracht. Für den asozial eingestellten Punkrocker vielleicht ein wenig zu glatt, aber warum nicht. Beste Textzeile? "Das Leben ist mal Kaffee, mal Spucke mit Ei."
AUßER ICH kommen aus Siegen. Kein Grund für eine schlechte Jugend, das ist schließlich Graf Zahl-City. Sie starten mit einem lustigen Leonard-Nimoy-Sample von den Simpsons, kommen dann etwas spröder, verzweifelter und krachiger als ihre Kollegen von der anderen Seite rüber. Mehr der Sound, den man hören möchte, wenn sich die Wände deiner Wohnung mal wieder um dich zusammenziehen. Verstärkt das Gefühl nochmal.
Insgesamt also eine Split-Platte von zwei deutschsprachigen Bands, die sehr gut zusammenpassen. Beide zusammen auf Tour, das wäre ein gutes Paket. Da gäbe es keinen Vor- und Hauptact, weil sich beide Bands - zumindest anhand des gehörten Materials, gut ergänzen. Und so doll nach den Bands aus dem Tante-Guerilla-Stall klingen sie dann doch nicht. Aber mal zurück zur Ausgangslage. Brauche ich also von SENOR KAROSHI und AUßER ICH mehr als diese Single? Nein. Aber wer sich im Jahr des Feueraffen doch noch mit interessantem Deutschpunk eindecken will, ganz sicher.
Auf Youtube sind die Songs der Splitsingle noch nicht angekommen, aber einiges anderes von beiden Bands. zugegeben, da klingen sie gar nicht so übel. Vielleicht kauf ich mir doch ne Platte von denen.
Die SENOR KAROSHI/AUßER ICH-Splitsinlge ist auf Tumbleweed Records erschienen.
Gary Flanell
senorkaroshi.bandcamp.com
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