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Samstag, 21. Oktober 2023

Schön, wenn tote Brüder Musik machen


Vintage oder retro?
Der Unterschied ist den Kenner*innen bekannt. Alle anderen schmeißen alles in einen Topf. Es hat auf alle Fälle was mit Nostalgie zu tun. Mit Konstruktion von Erinnerungen, an Zeiten, die man selber gar nicht miterlebt hat. 20ties Revival und so. Berlin Babylon hast du geguckt und fandest es super. So eine Art von Nostalgie und Retro-Liebe. Alles zusammengebastelt aus allerlei Versatzstücken und Assoziationen.

Yah, Nostalgie. Hasse ich eigentlich. Höre ich diese Platte, werde ich dennoch nostalgisch, denn schon beim ersten Hören der neuen Platte von Pierre Omer's Swing Revue "Tropical breakdown" denke ich an zwei Läden in Berlin, wo sie ihm sicher ungehört die Tür für einen Gig aufgemacht hätten. Hätten.
Denn beide Läden, das BASSY und das WHITE TRASH, gibt's seit Jahren nicht mehr. Da hätte Pierre mit seinem Revue-Sound super hingepasst. Hier etwas Swing, da etwas Variété-Stimmung, etwas Bar-Jazz (das sanft gestrichene Schlagzeug!) fluffige Bassläufe, eine Voodoo-Hafte Quietsche-Posaune, eine Nick-Cave-artige Dunkelheit in Omars Stimme. Nick Cave aber nur, wenn der sich mal an einer Swing-Platte versucht hätte (Hat er? Die Renfield-Recherche-Abteilung hat leider gerade Urlaub.).


Alles, wie man es sich in so Läden mit schummrigen Licht, riesigen Tresen und Barschränken voller seltsamer Spiritousen, sowie allerlei schräger Trash-Deko vorstellen kann. Jetzt und heute wäre in dieser Stadt nur noch das Roadrunner's Paradise, das eine ähnliche Atmosphäre vermittelt.

Die Geister, die Clubgeister, sie halten sich immer noch in dieser mutierten Stadt.
Die Erinnerung an Clubs, die ihre Zeit hatten und nun verschwunden sind. Die Faszination des Verschwundenen hält sich über die Halloween-Saison hinaus in den Kiezen, also eigentlich immer. Der Swing-Revue von Pierre Omer hängt auch etwas Geisterhaftes an, weil die Instrument meist so getragen bedient werden, als hätten sie gerade einen Gig bei einer Bestattung (liegt wohl auch an der eleganten Bekleidung der Musker*innen) und dir zuweilen im Hintergrund Prophezeiungen zuflüstern wie Botschaften unruhiger Geister, die du nicht verstehst. Old-School-Horrormovie-Charme? Sumpfige Gothic-Atmo ohne Kunstleder-Vampir-Kitsch? Ein bißchen von beidem. Melancholie? Eine Menge.

"Give me the groove" wäre ein Prachtbeispiel für das Gefühl der Verlorenheit, die sich durch das Album zieht, textlich und musikalisch. Auch tröstlich, all das. Stelle mir vor, am Tresen zu sitzen, den Kopf vornüber auf dem eichenbraunen Holz abgelegt, im Schnapsglas irgendwas klares, das mit langsamen Schlucken den Weg in deine froschbeladene Kehle antritt. Dazu diese hübschen fatalistischen Songs.



We all gonna go, if there's a hell below, schießt es mir beim Hören durch den Kopf. Das ist von von wem anderen, musikalisch auch komplett andere Baustelle, aber die Grundstimmung ist dieselbe.

Nun ist nicht alles komplett hoffnungslos auf dieser Platte. Die Songs schlirren melancholisch daher, aber gerade das ist das Seelenpflaster für alle verwirrten Zuhörer, die nicht mehr doomscrollen wollen.

Ab und zu wird's auch mal recht flott, im Titeltrack oder bei "Leslie Kong", dem Hit am Ende, zum Beispiel. Ansonsten hät man sich tempomäßig meist zurück, die erwähnte Friedhofsgetragenheit steht den Songs sehr gut. Das trägt einiges zur Stimmng bei, besonders fällt das beim einzgen deutschsprachigen Song, "Lanen" auf. Aber auch sonst so: All diese 12 Songs sind wunderbar atmosphärisch arrangiert und in sich sehr hübsch angeordnet.
Stell dir vor, das hier wäre der Soundtrack zur 5. Staffel von Preacher, dann weißt du wohin die Reise geht. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass diese Platte kurz vor Halloween rauskommt, denn auch dort könnnte das gut als Soundtrack taugen. Wobei das hier eine Tiefe vermittelt, die über den kurzen Grusel-Party-Spaß hinausgeht und dich auch im Sommer dazu bewegen könnte, das Haus nicht zu verlassen.



Zur Überschrift: Das mit den toten Brüdern kommt nicht von ungefähr, denn Pierre Omer ist einer der Gründer der DEAD BROTHERS und die sind ja mittlerweile wirklich dead, so als Band. Wer deren dräuende Befürchtungen mochte, kann auch mit dem zweiten Album der Swing Revue was anfangen. Wobei hier weniger auf Folklore zurückgegriffen wird.

Der Titel: Tropical breakdown? Ach komm, lass uns nicht über Anspielungen auf den Klimwandel spekulieren. Die Welt brennt an allen Ecken des Tischtuchs und nun gibt es auch noch passende Musik dazu. Love it.

Also: Alles ist verloren, Hoffnung gibt's keine mehr, aber wenn der Unterang von diesem Album begleitet wird, dann wird es ein schönes Sterben.

C auf der 26-teiligen Renfield-Tonträger-Bewertungs-Skala

Pierre Omer's Swing Revue "Tropical Breakdown" ist am 20. Oktober 2023 auf Voodooo Rhythm Records erschienen - wo auch sonst? Diese Rezension ist nach der Methode des "Free Writings" entstanden.

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