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Donnerstag, 31. März 2016

Es war einmal … ein Interview mit Safi

Endlich wieder Berliner? Keine Ahnung, ich habe SAFI und Safi zunächst im städtischen Hexenhaus vom niederrheinischen Viersen erlebt. Wo auch immer sie und ihre unwirkliche Musik herkamen – dass aus einer Märchenwelt, schien noch am wahrscheinlichsten. 2015 nun „Janus“, und nichts wird realer.
Flüsternd und schreiend durch die Wälder, an Haaren die Wände hinauf, auf Flügeln wieder hinab und mit einem mächtigen Sprung ins sirenen- und buttbewachte Schwarz. Ein Lied dann. Donner?
Ist Safi ist SAFI ist Safi.

Philip: Es war einmal … Ja, was denn eigentlich? Heute schon irgendwelchen Hexen, Zwergen oder Prinzen begegnet?

Safi: Heute, Montag Morgen, in der U-Bahn sind zwei Riesen aufgetaucht. Die wollten meine Fahrkarte sehen – sie kamen quasi aus dem Nichts …

P.: Neue Platte am Start, und es soll hier um Märchen gehen.
S.: Ein schönes Thema! Die Welt ist ein Märchen, ständig passieren unglaublich gruselige und brutale Dinge. Aber auch Wunderbares, Erhebendes. Jeder Mensch entscheidet nach seiner Herkunft und Bildung, was Gut und was Böse ist. Und muss als einsamer Held bestehen, gegebenenfalls mit Unterstützung von Lebensphilosophien, Vorstellungen, starken Wünschen, kleinen Freuden oder Freunden, die ihm übermenschliche Kräfte verleihen.
Der Janus-Titel des Albums symbolisiert den Blick in die Welt, der in alle Richtungen gleichzeitig schaut und alles ungefiltert und ohne zu werten oder einzuschränken wiedergibt, was er wahrnimmt.
Janus kann aber auch der kleine Held sein, der in uns wohnt und uns erinnert, die Dinge aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten, um klüger, vielleicht zum Besten des Umfeldes, handeln zu können. In diesem Moment tritt der Held in den Schatten, er tritt zurück während er seinem Umfeld etwas gibt.

P.: Spielten Märchen früher bei dir eine Rolle? Wer hat wem erzählt, vorgelesen, von Kassette, Platte, Festplatte vorgespielt?
S.: Meine Ma musste mir, ganz wichtig, jeden Abend Märchen vorlesen. Ich habe völlig in der Märchenwelt gelebt und war sämtliche Prinzessinnen und Feen. Das war sehr prägend für mich. Ich habe jeden einzelnen Satz wiederholt, den sie mir vorgelesen hat. Ich konnte alle Märchen bereits auswendig und habe sofort jeden Fehler bemerkt, der sich beim Lesen eingeschlichen hat. Sie hat mir neulich erzählt, als sie mir ein Versprechen abnehmen musste, etwas Bestimmtes nie wieder zu tun, versprach ich ihr mein erstes Kind, wenn ich Königin werde.

P.: Favorisierte Story oder Figur? Und wer oder was war Garant für Grusel und schlechte Gefühle?
Safi: Favoriten waren unwirkliche Gestalten wie Feen, die zaubern und fliegen konnten und so eine Art Lichtwesen waren. Andersrum aber auch die Räubertochter im Wald, die mit Messern spielt und die kleine Gerda beschützt, die auf Suche nach dem verschollenen Kay ist.
Sie schenkt Gerda dann ihr liebstes Rentier und so kann es Gerda bis an den Nordpol zum Palast der Schneekönigin schaffen, wo sie Kay findet, der damit beschäftigt ist, das Wort „Ewigkeit“ zusammenzusetzen.
Und da ist auch der Grusel – das Ungreifbare, Unterschwellige, Unausweichliche, etwas, was immer vorhanden ist, eine Bedrohung, aber auch kalte Abwesenheit von Liebe, unbestimmte dunkle Kraftfelder, denen man sich nicht ohne Weiteres entziehen kann. Und genauso beängstigend fand und finde ich in Märchen wie im echten Leben körperliche Gewalt und Mord. Nicht aber den Tod selber.

P.: Zumeist ist die Märchenzielgruppe arg minderjährig und sehr empfänglich für die Bilderwelten und Spinnereien. Hexen, Drachen, brrrrr. Zauberer, Einhörner, oooooh. Mord und Totschlag, Sex and Crime, Missgestaltete und Besessene. Alles eigentlich Fälle für die Bundesprüfstelle?
S.: Nicht gut, auf diese Weise kleine Menschen zu beeindrucken, damit sie später besser spuren. Interessant, dass gleich damit in den kleinen Köpfen jeweilige Moral- und Wertevorstellungen eingraviert werden. Mich würde mal interessieren, wie verbreitet die klassischen Märchen heute noch sind. Inwieweit mündliche Überlieferung aus der Vergangenheit in die Zukunft heute noch anhält. Inzwischen explodieren ja die Möglichkeiten der Verbreitung von Inhalten.
Die märchenhafte Darstellung von Vorgängen durch übersteigerte Charaktere, die ganz klar nicht menschlich sind, finde ich aber längst nicht so schlimm wie unkontrollierter Genuss aller gängigen Medien, denen Kinder überall ausgesetzt sind, wo flache Ablenkung angereichert mit Gewalt, ungefiltert und ohne sinnvollen Input dargeboten werden.

P.: Ist die Zeit der Märchen am Ende vorbei? Niemand berichtet wem anders noch bei Kerzenschein, alles ist bis ins Letzte erklärt und verplausibilisiert, und bevor es einem gewesen sein könnte, ists schon überholt und vorbeigeupdatet.
S.: Ich denke, die Offenheit für Märchen ist immer da. Leider ist sie ja auch da für all den Quatsch, der den großen und kleinen Leuten um die Ohren geschleudert wird. Bedürfnis nach Sinn, Übersinn, Sehnsucht nach einem Etwas, was alle Probleme beseitigt, der Wunsch nach Geborgenheit und Gerechtigkeit werden immer da sein, und so könnten Märchen immer wieder Comebacks erleben, auch wenn sie neue Formen annehmen. Hallo Superhelden?

P.: Pazonk! Eine Welt aufgeteilt in Unverkennbar-Gut und Unverkennbar-Böse, und der Ausgang ist immer derselbe Beruhigende – das täte so kissengut! Endlich mal kein Dauerausloten von Schattierungen und Interpretieren von Zwischentönen, plötzlich alles so einfach …
S.: Natürlich langweilig. Aber in der Vorstellung wichtig! Der Mensch braucht seine Probleme. Und die Hoffnung, Probleme und Aufgaben zu lösen, um zu wachsen und innere Grenzen zu durchbrechen. Aber sollte sich die Welt irgendwann sehr friedlich entwickeln und alles im Einklang sein, so kann es sein, dass es den Menschen so nicht mehr gibt, weil er sich selbst abgeschafft hat...

P.: Märchen geht mit Bild geht mit Schauspiel geht auch mit Musik. Geht mit SAFI?
S.: Klar. Weil wir beim Hervorrufen von Klängen in dem Moment eine Welt erschaffen, so wie wir auch beim Hören von Klanggebilden eine Welt empfinden. Deshalb ist Musik wie Theater, Tanz, wie Malerei oder Literatur oder Märchen. Nur eben konzentriert auf akustischer Ebene mit mehr oder weniger Optik.
Ich moralisiere zwar nicht, aber nehme eine Art Schwebeposition ein und gebe assoziativ wieder, was ich beobachte. Dabei entstehen oft Wort- und Satzkombinationen, die vielleicht logisch nicht zusammen passen, aber beim Empfänger doch etwas auslösen.
Mit Hilfe einer Art Collagetechnik erschaffe ich emotionale Bilder, die beim Hörer eher übers Empfinden als über den Verstand aufgenommen werden. Märchen bestehen ebenso aus emotional aufgeladenen Bildern, denen aber jeweils eine logische Erzählstruktur zugrunde liegt. Die Gemeinsamkeit besteht darin, Inhalte an einen Empfänger zu übermitteln und das mit Hilfe von Sinnbildern.



P.: Safi schreibt selbst ein Märchen. Bitteschön:
S.: Es war einmal ein Land. Mit Feldern, Wiesen und Kühen darauf und und mit Dörfern und Städten und Menschen. Alle waren fleißig und jeder auf seine eigene Weise unzufrieden. Eines Tages verdunkelte sich der Himmel und am Horizont stieg ein gewaltiger Riese empor.
Sein Blick war furchtbar und entschlossen. Kein Einzelner konnte sich seiner Macht entgegenstellen.
Jeder Unglückliche, der das versuchte, musste sterben. So schlossen sich die Menschen des Landes fest zusammen und ersonnen einen Plan, wie sie des Monsters Herr werden könnten.
Sie bildeten ein Heer und stürmten wie Ameisen auf den Riesen zu, kletterten an seiner zerklüfteten Haut empor, drangen in seine Poren ein, besetzten jede Zelle seines Körpers, verschmolzen mit seinem Körper.
Der Riese wankte, fiel beinahe, aber die Menschen hatten ihn fest in ihrer Gewalt, denn sie WAREN jetzt der Körper.
Das gefiel den Menschen so gut, dass sie nichts anderes mehr wollten, als den Riesen zu steuern. Sie vergaßen ihre kleinen Sorgen und Wünsche und ergötzten sich an ihrer neuen gemeinsamen Übermacht.
Und gerade so als ob der Riese, der hinter dem Horizont hervor gestiegen war, keine merkliche Veränderung erfahren hatte und auch nicht für einen Moment zum stehen gekommen war, bewegte er sich immer weiter in Richtung des nächsten Horizontes.
Dahinter lag ein Land. Mit Feldern, Wiesen und Kühen darauf und und mit Dörfern und Städten und Menschen. Alle waren fleißig und jeder auf seine eigene Weise unzufrieden...

P.: Unbenommen dessen, dass alle noch heute leben, wenn sie nicht gestorben sind – letzte Worte?
S.: Aufeinander aufpassen und Verantwortung übernehmen, im Zweifel nachdenken statt mitlaufen.


Ist SAFI ist Safi ist SAFI.
Und es ist Donner, übertönt von Liedern, auseinander berstend und sich zusammenrollend, ein Streicheln, ein Schlag, dann Stille. Alsbald in deinen Ohren, dann und wann auch vor deinen Augen auf einer Bühne um eine Ecke.



safimusic.com


Text: Philip Nussbaum
Fotos: Stephanie von Becker, Steve Viezens, Robert Soujon

Dienstag, 22. März 2016

Der Sound des Troglodyten

Alles im Dienste der Informationspflicht...

Die erste Split-Single auf Troglodyt Records klingt so (Man beachte das Ein-Akkord-Schema).



und die Seite von den Cockbirds so:

Plattenbosse sind unter uns!

Troglodyten. Klingt wie etwas unangenehmes, das dir in den Nebenhöhlen wächst und alle paar Jahre vom HNO-Arzt per Laser weggeschnitten werden muss. Ach, nee, das waren ja Polypen. Nur mit viel Mühe kann ich mich davon abhalten, nun darüber zu philosophieren, warum der Begriff "Polyp" für Polizisten ein wenig aus der Mode gekommen ist.

Konzentriere ich mich also auf die Troglodyten. Die haben auch was mit Höhlen zu tun. Meine Annahme, dass es sich dabei um kleine Höhlentierchen handelt, die ebenso blass wie penisförmig wie hässlich sind, wurde verworfen. Musste also Tante Wiki um Rat fragen. Troglodyten sind entweder lustige Tierchen oder sagenhafte Höhlenbewohner der Antike. Tauchen in Platons Höhlengleichnis auf. Wenn ich also alles zusammennehme - Affen, putzige Vögel, Höhlenbewohner passt das Wort Troglodyt sehr gut, um damit eine Firma im Musikgeschäft aufzumachen.

Und Teufel noch eins, das hat sogar jemand gemacht. Troglodyt Records ist ein kleines One-man-Wunderwerk mit Sitz in Prenzlauer Berg. Die Kollegen von Staatsakt haben den Labelbetreiber quasi als Praktikant eingestellt (ist im Jahr 2016 mit fertigem Psychologiestudium in der Tasche und Erfahrung als Clubbetreiber gesellschaftlich komplett akzeptiert) und ihn unter ihre wärmenden Fittiche genommmen. Cool.

Die erste Troglodyt-Veröffentlichung kam mir unter, als vor einiger Zeit, Hercules Rockefeller, der Ex-Sänger der COCKBIRDS in der SubCult-Radioshow zu Gast hatte. Thema der Show war eigentlich die neue Band von The Herc, THE PROBLEMS. Davon haben wir natürlich auch fleißig was gespielt. Aber irgendwann bekam Hercules diesen etwas verträumten Blick in den Augen. Er sagte dann einen Moment lang gar nichts und zog etwas aus der Tasche. Eine 7inch. Mit einem Cover wie aus dem Linoleum-Musterkatalog eines westfälischen Teppichhauses der 70er-Jahre.

Diese kleine Platte war in zweierlei Weise gleich interessant. Zum einen war es die allererste Veröffentlichung auf Troglodyt Records. Patrick Catani, das Hirn hinter diesem aufgehenden Stern am Labelhimmel, hat in seiner grenzenlosen Businessplan-Weitsicht nicht irgendeiner schlecht gekleideten Newcomerband den Platz auf der Platte eingeräumt. Stattdessen wurde noch einmal der größte Hit der COCKBIRDS ausgegraben. "Suche Kontakt" war nur eine von vielen Perlen der C-Birds (Vögel. Schon wieder). Wenn ich diese Zeilen schreibe ist es 10 Jahre her, seit der Veröffentlichung ihrer "Superdanke"-LP. Vielleicht waren die Cockbirds die beste, weil unkonventionellste Punkband Berlins zu beginn des neuen Jahrtausends.

Eine, die eher im Umfeld von den TÜREN auftauchte und somit eher aus einem Punkrock-fernen Umfeld kam. Und eben deshalb nicht die übliche Punkrock-Sauce zum 1000mal aufkochte. So entstehen dann aber die besten Platten. Wie eben die Cockbirds-LP. HAMMERHEAD trifft auf TURBONEGRO trifft auf ABBA, um den schnellen Checkern von heute mal eine Idee zu geben, was sie unter dem Namen bei Spotify finden werden.

Das besondere an "Suche Kontakt" war zum einen der irre dufte Discopart mitten im Song, inklusive der schmierig-geilen Keyboardmelodie, die sich über den Gröhlrefrain legt. Und zum anderen das hübsche Video. Fünf Herren in Jogginganzügen beim Singledating mit jungen Asiatinnen in einer Karaokebar. Großes Kino in kleinem Format, Baby. Gedreht von niemand geringerem als Jörg Buttgereit, der dem Clip die nötige Absurdität verpasst und die C-Birds damit endgültig ins immaterielle Gedächtnis der Popkultur gehievt hat.

Soviel zur einen Seite der ersten Troglodyt-Single. Die Band auf der anderen war mir bisher unbekannt, ROCKET FREUDENTHAL mussten mir erst nahe gebracht werden. Kommen irgendwoher aus dem Südwesten. Macht aber nix. Ich hätte jetzt gern einen von den Plattenspielern, die Platten von oben und unten abspielen können. Dann müsste ich nicht immer umdrehen. Denn "Ich bau Scheiße" ist so ein simpler wie geiler Song, der mit genau einem Akkord auskommt. Das hat nicht mal Hank Williams geschafft. Drei Töne, ein Hit, wunderbar. So ganz viel passiert also musikalisch gar nicht, aber das ist ja bei AC/DC nicht anders. Und deswegen kann ich mich bei den Rockets ganz auf den Text konzentrieren. Scheiße auf Stapelweise zu reimen, traut sich auch nicht jeder. Vielleicht der Herr SEDLMEIR, dazu würden sie auch gut passen. Oder eben die Cockbirds.

Die Cockbirds/Rocket-Freudenthal-Single war aber nur der Anfang, vom Treiben der Troglodyten. Nachschub für die Split-Abteilung der Jukebox gab es dann in Form des Gemeinschaftswerks von DOC SCHOKO und SCHNUFFEL, DAS TOTAL SÜSSE EICHHÖRNCHEN (Bei solchen Namen weiß man, das hier nur echte Profis am Werk sind. Alles gut in dieser Hinsicht.). Und im April, da darf man jetzt schon mal die Groschen ins Sparschwein werfen, kommt der nächste heiße Scheiß: Die Split-Single von ILL TILL & The Xberg Dhirty6 Crew mit einem hübschen Nix-Kohle-Hip-Hop-Track und dem französischen Electro-Punk-Wundertierchen ELECTRONICAT.

Also, fragt der Musikinteressierte, wie lässt sich denn stilistisch beschreiben, was auf Troglodyt rauskommt? Punk, HipHop, Electro, NDW-Trash und einen guten Löffel Hedonismus. Menschen, die sich tendenziell nur an einem Genre erfreuen, dürfte das verwirren. Vielleicht gibt es musikalisch keinen gemeinsamen Nenner, sondern eher einen der Haltung. Laut und grell muss es sein. Und immer eine Platte für zwei bands. Split it, baby.

Billo, Asso et Provo könnte man als Idiotenlatein schön als Motto auf eine wie auch immer geartetes Label-Wappen sticken lassen. Dazu soll der Art Director bitte noch ein paar Ritterhelme, Drachen und Pimmelmöhren einpflegen.

Da ist es dann egal, ob da kernig-analog gerockt wird oder Beats und Gefiepe aus dem Rechner kommen. Passt alles. Und davon ab ist eine stilistische Offenheit in Zeiten, in denen überall innerliche und äußerlich immer mehr Zäune hochgezogen werden, ja nicht schlecht.

Noch was vergessen?
Ja! Das dritte Troglo-Baby wird natürlich auch ordentlich gefeiert. Und zwar am 08.04. im Urban Spree.
Da gibt's dann ILL TILL & ELECTRONICAT live - und natürlich die Möglichkeit für alle Plattengierer, ihre Troglodyt-Record-Sammlung zu komplettieren. Möglicherweise sehen wir uns da - unter Höhlenmenschen.

Gary Flanell

Dienstag, 15. März 2016

Wüste Vielfalt

Die größte Wüste Deutschlands liegt 95 Kilometer südöstlich von Berlin bei Lieberose. Sie ist gerade mal fünf Quadratkilometer groß. Somit gar kein Vergleich, was man an Wüste in der Sahara, der Mongolei oder Nordamerika zu sehen bekommt. Man lebt hierzulande also eher selten in der Wüste. Trotzdem gibt es auch hierzulande jede Menge Bands, die sich ohne weiteres dem Genre Desert-Rock zuordnen würden.

Um ein bestimmtes Konzept von dieser Landschaftsform zu haben, muss man also nicht zwangsweise in einer Wüste leben. Vielmehr scheint der Begriff der Wüste eine Dimension zu haben, deren Eigenschaften oft genug in Filmen und Songs vermittelt wird. Hitze bei Tag, Kälte bei Nacht, Dürre, wenig Vegetation, Fata Morgana, insgesamt eher lebensfeindliche Bedingungen, die sich schnell mal auf Bewusstsein und Wahrnehmung auswirken können. Und natürlich das Bild des schweigsamen Desperados, der auf seinem klapprigen Gaul durch diese unwirtliche Landschaft trottet. Um das Bild in den Kopf zu bekommen, braucht es keine Wüste vor der eigenen Haustür.
Aber wie machen Menschen Musik, wenn sie dauerhaft in solcher Umgebung leben? Klingt das doch anders, vielleicht sogar authentischer? XIXA stammen aus Tucson, Arizona und da ist man täglich garantiert mit mehr Wüste konfrontiert als hierzulande. Weshalb es kein großes Wunder ist, dass die aride Atmosphäre ihrer Heimatstadt auch eine große Rolle im Konzept ihrer erste Platte „Bloodline“ spielt. Diese Atmosphäre lässt sich allerdings oft nur recht unscharf nachzeichnen. Viel konkreter ist dagegen als Einfluss die räumliche Nähe zur Mexiko (Tucson ist gerade mal 40 Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt) sowie die Herkunft der Bandmitglieder zu benennen.

Als Musiker mit mexikanischen Wurzeln, die in der 2. und 3. Generation auf der US-amerikanischen Seite der Grenze leben, kennen XIXA vieles, was auf sich auf beiden Seiten der Grenze abspielt. Da treffen Psychedelic und Indierock auf das, was mexikanische Einwanderer schon seit Generationen als musikalischen Background mit hinüber in den Norden transportiert haben: Cumbia, das dazugehörige Subgenre Chicha, Latino-Sounds, Mariachi und Tex-Mex. Für einen aggressiven Clash der Kulturen ist es wahrscheinlich viel zu heiß, also erfolgt der Austausch auf subtilere Art.

Im Falle von Bloodline ist dabei keine kitschig-trashige Tex-Mex-Platte im Sinne von Freddy Fender rausgekommen, sondern eins, dass in seiner Art eher an Calexico erinnert. An Calexico, die sich im Peyoterausch ein paar Rocky-Ericsson-Platten anhören und dabei alles mögliche ausprobieren. Mal verfällt die Band in einen Cumbiarhythmus, der mit einer gewissen Indie-Slackerhaftigkeit verkleidet wird (Golden Apparition, Nena Linda). Mal zieht das Tempo so an, dass man sich vergewissern muss, ob man nicht eine Platte von Tito&Tarantula eingelegt hat (Pressures of Mankind). Auch als Soundtrack zu einem Jim-Jarmusch-Film oder dem etwas vergessenen Drogenwestern Blueberry und der Fluch der Dämonen, der auch mit allerlei grenzüberschreitenden Sinneserfahrungen hantiert, würde sich ein Song wie Living on the Line gut machen.

In all diesen Puzzlestücken steckt diese soundtrackhafte und unheimliche Atmosphäre, wie sie auch Käuze wie Nick Cave oder Hugo Race besonders gut hinbekommen. Und wo kommen diese beiden her? Aus Australien. Was gibt es da en masse? Wüste. Vielleicht ist es Zufall, andererseits auch schon interessant, dass sich die Atmosphären doch ähneln.
Ganz gezielt haben die Band der Giant-Sand-Mitglieder Brian Lopez und Gabriel Sullivan die Kooperation mit einem Musiker gesucht, dessen Musik ebenso vom Leben in der Wüste geprägt ist – nur in ganz anderen Breiten Als Bruder im Geiste steuert Sadam Iyad Imarham von der Tuareg-Band Tinariwen die Lyrics zu der musikalisch etwas schächelnden Ethnoballade „World goes away“ bei. Das passt aber immer noch so gut ins Gesamtbild, dass es scheint, als wäre die Wüstenmentalität über Kontinente hinweg kompatibel.

Angesichts der gegenwärtigen Lage hierzulande, könnte man mal ein Gedankenspiel starten und dabei vergleichen, was in zwei bis drei Generationen an Musik rauskommt, wenn die Kinder der jetzt in Deutschland ankommenden Flüchtlinge ihre eigene musikalische Identität entwickeln: Zwischen der Musik, die ihre Eltern aus dem Nahen Osten mitgebracht haben und dem was ihnen hier musikalisch und kulturell begegnet. Ganz neu ist diese Idee natürlich nicht, schaut man auf die Nachfolgegenerationen der Migranten, die seit den 60er-Jahren hier hergekommen sind und seitdem auf ihre Weise alle möglichen kulturellen Einflüsse rezipieren.

Auch lässt sich argumentieren, dass dank Internet und diverser weltumspannender Videokanäle eh alles nur noch ein Brei ist und sich somit jeder dank der immer gegebenen Verfügbarkeit alle möglichen Einflüsse ultra-authentisch draufschaffen kann. Wenn es aber den, in den letzten Jahren hier Angekommenen gelingen sollte, ihre musikalischen Wurzeln mit den Einflüssen der Umgebung zu sein, in der sie jetzt nun einmal leben, dann könnte es vielleicht in ein paar Jahren auch hierzulande ähnlich vielfältige Gruppen wie XIXA geben. Und das kann eigentlich nur spannend werden.

(D - auf der alphabetisierten Plattenbewertungs-Skala des Renfield-Zines)

„Bloodline“ von XIXA ist auf Glitterhouse Records erschienen.

Gary Flanell

xixamusic.com glitterhouse.com

Dienstag, 8. März 2016

Tortuga!

Hamburg

Heimspiel für Abel Gebhardt. Auf der Hinfahrt bekommen wir noch eine private Rundfahrt über die Elbbrücken samt phänomenalem Ausblick auf den Hamburger Hafen spendiert. „Container love“ von Philipp Boa geht mir durch den Kopf, aber nur kurz. Das Navi führt uns zum gesperrten Elbtunnel und weiß nicht, dass der gesperrt ist. Erst nachdem wir einen kilometerlangen Umweg gefahren sind, gibt es auf und weist uns den richtigen Weg. Hätten wir auf das Ding gehört, wären wir zehnmal bis zu dem Tunnel gefahren, immer und immer wieder.

Dann St. Pauli. Ist wohl 10 Jahre her, dass ich mal hier war und als wir jetzt so durch den Kiez cruisen, bin ich doch ziemlich aufgeregt. Tagsüber sieht das alles noch ganz nett und entspannt aus, aber nachts ist die Ecke um die Reeperbahn sowas wie Ballermann und Allerheiligenkirmes in einem. So ganz war mir nicht klar, dass das jedes Wochenende so läuft. Könnte anstrengend sein, so als Anwohner. Anstrengender als auf der Oranien- oder Skalitzer Straße zu wohnen.

Wer hier wohnt und sich das leisten kann, zieht sich gern ein wenig vom wöchentlichen Feier-Sex-Saufirrsinn zurück. Wie das geht, erfahren wir direkt bei einem guten Freund, der uns netterweise das nur als Messietraum zu bezeichnenden Zimmer seines Mitbewohners überlässt.
Unser Schlafplatz ist zwar direkt im Kiez, aber in einem Innenhof, der durch Tore, Zäune und Zahlenkombinationen vom wilden St.Pauli geschützt wird. Eine kleine gated Community, mitten im Kiez. Wer rein will, muss die Nummern kennen, muss bescheid wissen und ist somit privilegiert, mitten auf St. Pauli in einer echten Hinterhofruhe-Oase leben zu dürfen. Was diese Ruhe mitten im Feierkiez kostet, habe ich nicht gefragt. Ich bin mir aber sicher, dass sie für das sogenannte Prekariat nicht zu bezahlen wäre.

Bis es Zeit ist, in die Tortugabar einzufallen, flanieren HC und ich am Hafen rum und besuchen das Ubootmuseum, welches sich – quelle surprise – in einem richtigen U-Boot befindet. Eine Erkenntnis des Besuchs: Sollte ich jemals mit dem Gedanken gespielt haben, Ubootmatrose zu werden, ist die Idee jetzt vom Tisch. Tage- oder wochenlang in einer engen und zugestopften Röhre unter Wasser rum zu fahren lässt meine Klaustrophobie nur sprießen. Andererseits träume ich danach, mal eine Urlaubstour durch alle U-Boot-Museen Deutschlands zu machen. Kann man da Lesungen machen? Ich wäre am Start. Eine monothematische Renfield-Nummer zum Thema U-Boote klingt auch sehr verlockend.

Als die Nacht sich über St. Pauli senkt, ist deutlich mehr los auf den Straßen. Die Zahl der Nutten (immer erkennbar an den scheinbar als Berufsbekleidung vorgeschriebenen Moonboots) hat sich von einem Moment auf den anderen vervielfacht. Um durch das Gedränge auf den Straßen durchzukommen, ohne angequatscht oder angefasst zu werden, muss man einen beharrlichen Tunnelblick aufsetzen. Kriegen wir bis zur Tortugabar ganz gut hin.

Tortugabar – das klingt schon nach Piratennest und es ist auch eins. Dekoriert wird mit allem, was piratentechnisch zu einer Hamburger Kiezkneipe und Piratenatmo passt. Da hängen dann auch mal die Haifische aus Plastik von der Decke. Dass Abel hier ein und ausgeht, ist für unsere Lesung ein Glücksfall, denn der Laden ist rappelvoll und die Leute wollen wirklich was vorgelesen bekommen. HC ist jetzt gut in Fahrt, vielleicht musste Bremen einfach das Warm-Up sein, Abel kennen und lieben hier eh alle und weil hier alles so schön nach Seemannsgarn aussieht, gebe ich den Seehund zum besten.

Ein optimaler Abschluß für so eine kleine Lesereise, auch wenn ich hinterher, als wir noch durch Läden wie Cobra, Komet und Koralle ziehen, feststelle, dass mir St. Pauli in einer Samstagnacht doch recht anstrengend vorkommt. Vielleicht werde ich einfach alt. Zumindest älter. reden wir nicht mehr davon.
Zumindest war Zeit und Gelegenheit für eine strukturelle Beobachtung im Vergleich der Clubszenerie von Berlin und Hamburg. In der Nachbetrachtung fällt auf, dass es da schon einen signifikanten Unterschied gibt. In Berlin gibt es entweder reine Kneipen jeglicher Couleur oder "echte" Clubs, in denen nur getanzt oder Livekonzerte laufen. In Hamburg scheint die Unterscheidung nicht ganz so strikt zu sein. Es gibt Läden, die nicht größer als eine Kneipe sind, und auch so eine Atmosphäre haben, in denen aber trotzdem irgendwie eine Tanzfläche am Start ist und ein DJ mit dem ganz klaren Ziel auflegt, diese zu füllen.

In Berlin gehst du entweder raus zum Feiern bzw. um eine Band live zu sehen oder eben in eine Kneipe deines Vertrauens, um dort am Tresen abzuhängen. Eine Mischung von beidem gibt es eher selten. Warum das in Hamburg so funktioniert und hier eben nicht, wäre noch zu rauszufinden. Vielleicht liegt es an irgendwelchen Regelungen vom lokalen Ordnungsamt, was die Größe oder die Art eines Unterhaltungsbetriebes angeht oder an der historisch gewachsenen Partykultur. Aber das sind nur Mutmaßungen. Mutmaßungen, wie sie an einem Tresen an Spree oder elbe gleichermaßen weiter gesponnen werden können. Vielleicht bei der nächsten Lesung in Hamburg.

Gary Flanell

Montag, 7. März 2016

Auszeit! Tortuga!

Bremen

Relativ unspektakulär verläuft die Fahrt durch Norddeutschland. Ist mir ganz recht so, denn der alkoholbedingte Elektrolytmangel hat mich immer noch gut im Griff. Abel beweist mit den Skatalites und Element of Crime eine gute Wahl für den Soundtrack auf der Autobahn. Irgendwelches Punk-Geballer hätte mir wahrscheinlich die Birne zerrissen. So schunkeln wir gemächlich übers Land. Frage mich mit meinem Körnerbrötchen in der Hand, ob ich der einzige bin, der findet, dass Sven Regeners Stimme wie die von Hildegard Knef klingt.

In Bremen lädt mich Abel direkt am Hostel ab. Er selber hat sich durch geschicktes Netzwerken ein Zimmer in einem Edelhotel klargemacht. Sei ihm zu gönnen, aber auch die Low-Budget-Variante im Ostertorsteinviertel ist nicht schlecht. Gibt zwar keine Sauna, keinen Roomservice (der nachts um halb vier noch ein Gläschen Wein hochbringt) und keinen Entspannungsraum, aber ein bequemes Doppelstockbett im Vierbettzimmer. Wer das andere Stockbett belegt hat, weiß ich zum Zeitpunkt meiner Ankunft noch nicht. Eine dieser Personen hat jedoch ein Bukowskibuch auf der Bettdecke liegen. Wer immer es ist, er/sie hat zumindest keinen ganz blöden literarischen Geschmack. So beruhigt verbringe ich die nächsten Stunden in der Koje, bis HC Roth für die nächsten beiden Lesungen stößt.

Abends laufen wir gemütlich zum Auszeit Rock'n'Rollclub – ein Name, der gut zum Laden passt. Hat man nämlich mal eine Rast vom ständigen Rumturnen als wilder Rocker nötig, ist eine Einkehr in diese kleine Bar nicht das schlechteste. Abel ist schon seit 1-2 zwei Bierchen da, die Frau hinterm Tresen ist nett, die Getränke angenehm gekühlt und auch die Lesebühne ist vorbereitet. Was jetzt noch fehlt, wäre etwas zu essen. „Nebenan gibt’s die größte Pizza Bremens“ erfahren wir. Schon klar. besonders beeindruckt sind wir von so einer Empfehlung erstmal nicht. Sowas lässt sich schnell mal behaupten. HC und ich sind aber doch erstaunt, weil die Pizza wirklich unglaublich riesig und lustigerweise nach europäischen Ländern benannt ist. Die Belegung hat allerdings wenig mit kulinarischen Klischees der jeweiligen Länder zu tun. Pizza Deutschland ist weder mit Sauerkraut noch mit Bratwurst belegt. Schade. Auf Pizza England gibt es als Minireferenz etwas crossen Frühstücksschinken. Ohne Bohnen. Auf Pizza Österreich auch kein Wiener Schnitzel oder Kaiserschmarrn. Lustig ist allerdings, dass HC, der einzige Österreicher im Raum, tatsächlich diese Variante bestellt, weil es - warum auch immer die einzige vegetarische Pizza des Hauses.

Die Lesung im Auszeit Rock'n'Roll ist um einiges besser besucht als in Hannover. Was ein bisschen Werbung schon ausmachen kann. Wir wechseln uns munter beim Lesen ab, HC scheint noch etwas mürbe von der 12stündigen Zugfahrt, aber insgesamt ist der Abend ein Erfolg. Gegen drei streicht Abel die Segel, gerüchteweise war der Wein vom Roomservice im Hotel doch zu verlockend. HC und ich verlassen wir die Auszeit kurz später. Wir begeben uns noch auf eine mehr oder weniger sinnfreie Fototour durchs nächtliche Bremen (inklusive belämmert gucken an einer Holzstatue der bekannten Stadtmusikanten) und steuern unser Hostel im Viertel an. Im Schlepptau haben wir noch einen jungen Iropunk aus Südtirol, der gerade sein Irgendwas-mit-Medien-Praktikum in Bremen absolviert. Ein Absacker, so beschließen wir, muss aber noch sein. Der Ostersteintorweg ist Freitags nachts ähnlich belebt wie die Oranienstraße in Kreuzberg.

Der Laden, den wir schlussendlich ansteuern hat die interessante Atmo einer Absturzkneipe. Vor den Fenstern hängen riesige Jägermeisterflaggen, überm Tresen schweben Plastikskelette, die wirken, als wären sie nach der Halloweenparty 2001 einfach vergessen worden. Riesige gesichtstätowierte Typen mit Iro und Anti-Religion-Slogans auf der Lederweste tanzen mit schwarzafrikanischen Homies zu Rage against the machine und iron Maidenrum, dazu gesellen sich ein paar verlebt aussehende Tresenfliegen jeglichen Alters und Bewusstseinszustandes. Ich bin recht froh, hier nicht mittrinken zu müssen. Ansonsten wäre ich wohl nicht so leicht aus dem Gespräch mit der Frau im Karohemd neben mir raus gekommen. Sie wirkt nicht besonders anziehend auf mich, will mir aber um fast jeden Preis meine Kapuzenjacke abkaufen. Später wird sie mir noch erzählen, dass heute ihr Hund gestorben ist, wie süß sie mein Kinn findet und will wissen, warum der HC sie die ganze Zeit so komisch anschaut. Ich habe keinen Bock auf diese etwas seltsame Anmache. Am Ende knutscht sie mit unserem Kumpel aus Tirol rum. Nachdem ich mir bei der Wirtin noch zwei Songs gewünscht habe (Pennywisens „Bro hymn“ und die „Bratwurstzange“ von Rummelsnuff scheinen mir für das Ambiente und die Stimmung passend zu sein), geht es zurück ins Doppelstockbett.

Sonntag, 6. März 2016

Havanna! Auszeit! Tortuga!

Eine Lesereise durch Norddeutschland (Teil 1)
Als ich Sonntagabend meine Wohnungstür aufschloß, fühlte ich mich wie ein Seemann. Wie ein Bambuse dritten Grades, der nach langer Fahrt zurück in den Hafen, zu seinen Lieben und der heimischer Kate kommt. Hatte Vielleicht hatte es was damit zu tun, dass die Orte dieser Lesereise bei mir gewisse nautische Assoziationen weckten. Hannover, Bremen, Hamburg. Alles Nordwestdeutschland. Das Meer immer in Riech- und manchmal auch in Sichtweite. Meer haben wir zwar nie gesehen – trotzdem war das Seemanns-Abenteuergefühl in diesen drei Tagen präsent.

Hannover
Der Sprung ins kalte Wasser. Besser gesagt ins kalte Bier. Vom Busbahnhof geht’s direkt nach Linden in die Havana Bar. Dort direkt auf die Bühne. Ich bin ein bißchen stolz, weil ich, der noch nie in Hannover war, den Laden ohne GPS-Support schnell finde. Hinterm Kraftwerk rechts rein und dann links auf der Ecke.
Passt.

Die Veranstaltung ist, als ich mit Rollkoffer und Rucksack in der ganz auf niedersächsisches Südseeflair getrimmten Bar aufschlage, schon im Gange. Die Zuschauerzahl leider überschaubar. Abel sitzt gerade gemütlich beim Bier, auf der Bühne spielen zwei ältere und ein junger Herr mit Gitarre und Cajon die Moritat vom Hannoveraner Serienmörder Fritz Haarmann und ein paar Slimesongs.
Silver-Blitz nennen die sich, verrät mir Abel. Bevor ich mich näher mit dem Sinn dieses Namens auseinandersetzen kann, steht schon das erste Bier vor mir. Das wäre nicht weiter interessant, wäre da nicht die Tatsache, dass ich seit gut drei Jahren so gut wie kein Alkohol en masse trinke. In der Havanabar musste das aber mal sein.
Nach der Musikeinlage macht Abel macht nochmal den Einsteiger, für mich also nochmal zehn Minuten Zeit zur Akklimatisierung. Das, was er da aus seinen Roman „Die Reise zur Grünen Fee“ liest, gefällt mir gut und er hat auch eine unterhaltsame Art, seine Texte vorzutragen. Dann sitze ich da oben und habe einen längeren Slot.
Die ersten Abende einer Lesereise finde ich oft schwierig. Da weiß man nie, nach mehr oder minder langen Bahn- und Busfahrten und sonstigen Anreisestrapazen, wie fit man ist. Muss erstmal reinkommen in die Situation. Um die Unsicherheit hier etwas zu umschiffen, setze ich auf inhaltlich auf Sicherheit und lese ich die Hits aus dem Seemann. So viele Geschichten wie sonst selten auf einer Lesereise. Den Seehund, die kleine Spinne Pup-meets-Darth-Vader, das schönste Geräusch des Tages, die Revolverzähne.
Die fünf Anwesenden sind interessiert, die Gestalten im Raucherraum und am Geldspielautomaten weniger. Aber zumindest vom Gefühl her stimmt's. Und davon ab: Solche widrigen Umstände (kaum Publikum, schlechte Bewerbung, nervige Daddel-Geräuschkulisse) mag ich zwar nicht, ertrage es mittlerweile aber. Macht wohl die Erfahrung und die Tatsache, dass nicht die Vortragenden Schlechtes geben, sondern die Umstände suboptimal sind.

Ein paar Bier nach dem Vortrag machen die Sache noch ganz rund, besonderes weil der Havannawirt sich im Laufe des Abends eine komplette Flasche Jack Daniels alleine reinpfeift und somit von sich aus schon sehr unterhaltsam ist.
Als er das gesamte Sortiment des Flanell'schen Medienimperiums (Renfield-Zine, Stuntman-Buch, Osekre&TheLucky Bastards-7inch) aufkauft, sage ich natürlich nicht nein. Mittlerweile sind auch Aeneas und Max aufgetaucht. Das sind für heute abend unsere Gastgeber. Die wir vorher gar nicht kannten. Klingt jetzt, als hätten die beiden uns nach der Lesung total breit fürwasauchimmer abgeschleppt, aber der Deal stand schon vorher. Alte Couchsurferhasen, die wir sind, wurde das ganze vorher per Mail klar gemacht. Während Aeneas schnell wieder von der Bildfläche verschwindet, hängt Max bis zum Ende mit uns rum. Irgendwann packen wir unser Geraffel zusammen und wanken bei Nacht durch Hannover-Linden. Natürlich mit Wegbier und auch nicht, ohne nochmal in irgendeiner kleinen Kneipe einzukehren, wo ich, ganz enthusiastisch mit dem Wirt eine Lesung klar machen will.

Bei Max angekommen, sind wir erstmal beeindruckt von der partytauglichen Wohnzimmerausstattung: komplettes DJ-Deck dazu diverse Lichtspielereien und Effekte im ganzen Raum – und noch mehr Bier. Sehen heute so die durchschnittlichen Studentenbuden aus? Max kündigt an, erstmal ein wenig Techno aufzulegen. Abel und ich sind recht skeptisch, ob das jetzt so die richtige Musik für uns ist, aber glücklicherweise hat der DJ ein gutes Händchen dafür, was der Situation angemessen ist. Und so gibt es kein mörderisches Geballer, sondern ganz sanfte Beats. In Kombination mit den Lichteffekten im Wohnzimmer wirkt das ganze so entspannend auf mich, dass ich gar nicht mehr von der Couch wegkomme, sondern dort einfach einpenne.

Der nächste Morgen ist... scheiße. Ich weiß, warum ich Alkohol in rauen Mengen hasse. Mir ist schlecht und ich habe Kopfschmerzen und liege komplett in den gleichen miefigen Klamotten wie gestern auf der Couch. Techno gibt es nicht mehr, auch keine Hannoveraner Wohnzimmerlichtspiele. Mein Kater ist ein ziemlich ausgewachsener, ich hoffe inständig, dass ich jetzt nicht kotzen muss. Auftritt Abel, der sieht einigermaßen fit aus, zumindest fitter, als ich mich fühle. Auch Max wirkt, als hätte, der Exzess kaum Spuren bei ihm hinterlassen. Leider kann ich das angebotene und unglaublich gesund wirkende Brötchen nicht wirklich schätzen und mümmele unmotiviert daran rum. Wir lassen den ersten Tourabend nochmal Revue passieren, bewerten ihn trotz der mauen Zuhörerschaft als gelungen und machen uns auf zum nächsten Lesehafen.

Fortsetzung folgt.