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Dienstag, 6. Dezember 2022

THANK YOU GARY MUCH - Europa

Weiter geht's! Diese Sammlung von Anmerkungen zum TYGM-Tape sollen ja irgendwann mal fertig werden. Das hier ist ja kein Weihnachtskalender, bei dem 24 Textchen geöffnet werden dürfen. Also hier wieder ein paar Liner-Notes, in 10 Minuten nach einer Free Writing Methode aufgeschrieben und wieder mal nur sanft korrigiert.
9. Europa (Ich kann nicht mit dir sein und auch nicht allein)

Bißchen größenwahnsinnig geworden, wie? Oder hyper-pathetisch? Oder beides, olle Kitsch-Kröte? Gleich mal einen Song Europa nennen, drunter machen wir es nicht, oder? Und dann so eine komische Andeutung über Zerrissenheit, von wem eigentlich? Den Kontinentaleuropäern? Sag bloß nicht den Briten? Oder sind's bindungsunfähige Großstädter*innen, denen hier Stimme verlehen wird? Jede*r einzelnen? Geht's hier um Geographie, in diesen zwei bis vier Zeilen, oder um Feelings oder um was ganz anderes? Schon klar, immer alles schön kryptisch halten, auch unter der Gefahr, dass eh nur heiße Luft dahinter steckt. Jaja, in Wolkenbildern kann jeder was sehen. Pareidolie up my ass, baby. Also, vielleicht geht es hier ja WIRKLICH um was. Ganz. Anderes. Vielleicht ist's einfach ein Liebeslied, mit Furzbass (nennt Herr Nals so), Glockespiel. D-moll-Arpeggio, einem seltsamen Beat (gibt's bestimmt einen Begriff dafür) und Hall auf dem Gesang. Alleine singen war blöd, mit den Punkrockkumpels passte es hier nicht. Und auf deutsch, och, komm nee, das macht doch der Typ schon. Polnisch passte gut. Einfach mal bei deepl den Text übersetzen. Englisch? Ja, klar, englisch. Englisch hätte man's machen können. Wäre aber ein bisschen platt geworden, ich bin ja nicht Mariah Carey. Französisch, das hätte auch gepasst. Aber irgendwie... nee. Alles so vorhersehbar. Musste polnisch sein. Weil das eine tolle Sprache ist. So schön schwer. Wahnsinn, da brechen wir uns alle einen ab, aber wär doch geil, wenn wir alle auch die Sprache vom Nachbarn können. Jedes Mal, wenn ich auf Urlaub in Polen bin, freu ich mich wie Bolle, wenn ich einen Kaffee bestelle und auch einen bekomme. Davon ab sind diese Zeilen, gesungen von der wunderbaren Baba Jaga, so sehnsuchtsvoll und zerbrechlich geworden, wie sie es sein sollen. Gothic Dub vom besten, Genre-Fetischist, nimm dies! Schreib sofort einen Wikipedia-Eintrag dazu mit diesem Song als Soundbeispiel! So düster sollte es werden. Manchmal ist es schwierig, die Stimmung eines Songs, wie ich ihn im Kopf habe, aufzunehmen. Quasi zu dokumentieren, das erfordert viel rumexperimentieren, viele Lieder mit durchaus löblich ernstem Anliegen klingen dann, wenn Beat und Sound ausgesucht wurden, plötzlich erschreckend scheiße. Echte Quatschtracks, bekommen auf einmal eine unheimliche Ernsthaftigkeit und keiner weiß, woran das liegen könnte. Also klar, weiß schon jemand. Aber ich nicht in dem Augenblick. Weiß dann nur: Nee, war jetzt nicht so geil. Aber hier passt vieles. So wie hier sollte es werden. So war es im Kopf und so ist es nun auf Band und in 1 und 0 gepresst, frisch vom Erzeuger. Voll bio aus mein Hirn, also sowas von Gary-Score A. ich glaub sogar den Beat war so ansatzweise so im Kopf. So ein bisschen vaporwavee-mäßig-i-wanna-be-sedated-like, schon schön so. Leicht kunstnebelig tröpfelt hier alles dahin, als würde man baren Fußes durch Dunst und Kondensat balancieren und das einzige, auf das zu achten wäre, ist die Balance auf dem glitschigen aber unsichtbaren Untergrund. Auf dem Barfußpfad des Unbewussten. Es muss was wunderbares sei, auf Valium mit der oder dem Liebsten auf dem Friedhof im Novembernebel verstecken zu spielen. Wenn man sich dann findet und knutscht und merkt, dass man eigentlich nur nach hause unter die Decke will, weil die Nässe in den Schlüppi kriecht. Aber echt zu zweit? Naja, weiß nicht. Vielleicht nächstes Mal. Jetzt erstmal solitär Lieblingsserie gucken. Oder doch zu zweit, aufeinander liegend, aber ohne ficken, nur so gemeinsam eingehüllt? So genau weiß man ja auch nicht, was man so will. Aber genau dann, im Vorgang des fiebrigen Herantastens, auf der konsensual durchtränkten Leinwand des von Vertrauen überschwemmten Erlebnisraumes, im gemeinsam erlebten Pulverschmauch der Unentschlossenheit, wenn kollektive Hitzefeuchtigkeit in der Kälte der Nacht zu einer schwül-begehrlichen Gefühlswolke kondensiert, dann könnte, sollte, müsste dieses Lied gesummt werden.

Sonntag, 4. Dezember 2022

THANK YOU GARY MUCH - Die Ideen gehen aus


Zweite Seite, zweiter Song - und nach ein paar Tagen anderweitiger Beschäftigung hier wieder ein paar Liner-Notes, in 10 Minuten nach einer Free Writing Methode aufgeschrieben und wieder mal nur sanft korrigiert.

8. Die Ideen gehen aus

Um fünf Uhr ist es schon tiefste Nacht und nicht nur das, sondern auch der Nebel, der sich mit der Dämmerung über die Kleinstadt legt, drückt aufs Gemüt. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, in Orten unterwegs zu sein, in denen am Sonntagnachmittag wirklich niemand auf der Straße ist. Songs zu der sonntäglichen Ödnis gibt es genug, als erstes fällt mir ein Oldie von ...But Alive ein: „Es sei denn du bist Snake Plisken“. Es wird gesagt, dass solch dröges Umfeld die Kreativität geradezu herauszwingt, einfach weil man andernfalls depressiv wird, mit der Folge eines Suizides ob der dräuenden Perspektivlosigkeit. Aber wer weiß, ob das so noch stimmt. Denn die Möglichkeiten sich abzulenken per remote control und social media und einen Sonntagabend OHNE hirntötendes Fernsehprogramm zu überleben, waren noch nie so gut. Aber auch dann konsumiert man, lässt Dinge auf sich einwirken, wird das Hirn klamm wie durch die feine Feuchtigkeit eines Nebels über dem Feld, lässt sich in angenehme Mürbidität fallen, anstatt selber zur Tat zu schreiten. Wo bleiben dann die Ideen? Vielleicht laufen sie wirklich durch trostlose Fußgängerzonen westdeutscher Bauart (überall die gleichen drögen rotbraunen Pflastersteine, die müssten doch bald mal aufgebraucht sein.), sehen den Einkaufszentren beim Verfall zu oder ergötzen sich an den leerstehenden Ladenflächen, wo vor 10 bis 20 Jahren noch tapfere Einzelhändler*innen ihre Existenz behaupteten. Lange her. Jetzt wird übers Netz bestellt und Kommando Einzelhandel geht in den Guerrillakampf, um den Kampf gegen den Internetgroßhändler No.1 nicht zu gewinnen, sondern zu bestehen. In all den Jahren in der großen Stadt mit all ihren Ablenkungsmöglichkeiten am Sam-, Sonn- und Feiertag habe ich komplett vergessen, dass der wochenendliche Rausch besonders einen Zweck hat: Am Sonntag so verkatert und erschöpft zu sein, das man den ganzen Tag verschläft. Aber man verpasst ja auch nichts. Jedenfalls nicht in Städten einer gewissen Größen/Nicht-Größenordnung. Was man verpasst, ist folgendes: Dunkelheit. Nebel. Leere Straßen. Dröge Weihnachtsmärkte. Geschlossene Restaurants. Verwaiste Bushaltestellen. Eilig um die Ecken huschende Fast-Food-Lieferanten. Dunkel-nasse Waldwege. Eine matschige Ausweglosigkeit, die Angst macht. In genau so einer Kulisse gehen Ideen aus, und es sei ihnen gegönnt. Sie gehen aus, sie wandern in die große Stadt und machen jenen Mist, den sie nur in der Großstadt machen können. Alles zocken, was es dort gibt. Vegane Currywurst, Fahrradhelm, EC-Automat. Und wenn sie zurück kommen, in die heimische Küche, wo die anderen Depressiven miteinander Spaghetti schlürfen, dann ist zumindest für ein Wochenende die Tristesse im November /Dezember überwunden.