Dieses Blog durchsuchen

Mittwoch, 26. Dezember 2018

Death of a genre - die Plattenrezension

Kein Mensch braucht mehr Plattenrezensionen. Gut und schlecht geschriebene Kritiken sind mittlerweile total unbrauchbar für die Beschreibung von Musik geworden. Warum?

Die schlecht geschriebenen sind unnötig geworden, weil sie eigentlich nur Umformulierungen dessen sind, was die Labels mit dem Stream oder der Promo-CD schicken und den Redakteuren diverser Musikmedien auf den Zettel schreiben. Formale Informationen sind das. Infos, wer mit wem und wann mal ins Studio gegangen ist, wen man sich als Backgroundsänger für Track Null, acht und 15 dazugeholt hat, welche Techniken und Instrumente diesmal - total verrückt - zum Einsatz gekommen sind und ja außerdem, was noch total wichtig ist, wäre.... PFFFFT! Langweilig! Uninteressant!

Wenn man eh nur das, was auf dem Waschzettel zu Platte X steht, wiederholt, dann kann man es gleich sein lassen. Das passiert leider häufig genug bei schlechten Plattenrezensionen. Die oben genannten Infos kann sich jeder, der im 21. Jahrhundert einigermaßen medienkompetent ist, schnell selber aus dem Netz ziehen, mit freundlicher Unterstützung der Informationshausmeister Google und Discogs.
Ein netter Trick, der allerdings die eigene komplette Hilflosigkeit und Desinteresse gegenüber einer Veröffentlichung darzustellen, ist das Zitat einer älteren Rezension zum gleichen Künstler. Wenn mir nichts mehr einfällt, der Text aber doch noch viel zu kurz ist, dann schreib ich doch mal beim Banknachbarn ab: "Wie ich schon beim Debut schrieb..." oder "Wie XYX schon in seiner Rezension in Heft No. WRXL so treffend bemerkte..."
Auch das: PFFFFT! Langweilig! Uninteressant!

Diese schlechten Rezensionen sind ein Ärgernis, das Problem liegt allerdings woanders: Im Zeitdruck. Dank digitaler Verschiffung passiert alles im popkulturellen Kontext mittlerweile rasend schnell. Platte kommt raus, Info wird verschickt, in zwei Minuten hast du sie auf dem Rechner, kannst alles anhören und anschauen und dann.... muss was passieren. Dann musst du am besten sofort schon was Prägnantes schreiben. Denn die anderen sind genauso schnell und vielleicht sogar schneller. Wie auch immer die das hinbekommen. Aber unter Zeitdruck kommt selten etwas gut geschriebenes raus. War ja schon bei Klassenarbeiten so. Wenn du nach 30 Minuten noch vor dem leeren Blatt sitzt, dann hilft es eben nur beim Banknachbarn abzuschreiben (s.o.), oder den kompletten vorgegebenen Text aus dem Geschichtsbuch zu kopieren. Beides ist am Ende... PFFFFT! Langweilig! Uninteressant!
Genau so ist es mit den schlechten Plattenrezensionen. Und weil das Wiederkäuen der eh schon verfügbaren Information nichts bringt - nicht mal Geld, sind wir mal so ehrlich - können wir es auch einfach lassen und uns den schönen, entspannteren Textformen zuwenden.

Die gut geschriebenen Plattenrezensionen sind aber auch überflüssig. Und so selten geworden wie Einhörner im Hambacher Forst. Um eine gute Plattenkritik zu schreiben braucht es ausreichend Zeit. Und ausreichend Raum. Raum, in dem die Zeichen, Buchstaben und Gedanken so munter galoppieren können wie Wildpferde über eine baumlose Prärie (Nicht Einhörner. Die leben im Wald). Raum auf einem Blog, auf einer Homepage, in einem Magazin. An diesen Aspekten scheitert es. Zeit und Raum und Aufmerksamkeit - gibt's alles nicht mehr.

Vor wenigen Monaten konnte man mit Grausen erleben, wie die Spex untergangen ist (Die Spex! The unsinkable majesty of Diskurs-Bingo! Bitte fügen Sie hier wahlweise eine TITANIC- oder DINOSAURIER-Metapher ein), eben weil sich das Printgeschäft für Musikmagazine
einfach nicht mehr lohnt. Das Interesse an gut gemachten Artikeln und Rezensionen über Alben und Songs ist sicher da, aber es fehlt die Zeit, um sie anständig zu schreiben.
Auch die Aufmerksamkeitsspanne, um etwas konzentriert zu Ende zu lesen ist oft nicht mehr gegeben. Selbst dieser Text wird wahrscheinlich von 3/4 der Anklickenden nicht bis zum Ende gelesen. Das Problem ist das gleiche wie bei schlecht geschriebenen Kritiken: Alles muss sehr schnell gehen. Gerade gehört und während du bei Track 3 bist, am besten schon 4500 Zeichen in Typo3 reingehackt. Schön ist sowas nicht. Aber schnell und gut geschrieben, das schließt sich eigentlich aus.

Wie sähe aber eine gut geschriebene Plattenrezension aus? Wie stelle ich mir das vor?
Vielleicht so: Erstmal in Ruhe einmal die Platte hören. Eine Platte, an der ich wirklich Interesse habe. Nicht irgendwas, das mir der gestresste Redakteur hinknallt, weil es ins Heft muss (weil Plattenfirma Anzeige bezahlt) und für das ich dann eine Rechnung über 30 Euro ausstellen kann. Also anhören. Von vorn bis hinten. Nicht skippen müssen. Am besten zuhause, dann nochmal im Büro. Beim ersten Mal nicht über Kopfhörer, sondern im freien Raum. Später dann nochmal in verschiedenen Situationen: Unterwegs, zuhause, abends, morgens, allein, mit der/dem Freund*in, mit Kolleg*innen. Vielleicht bringst du die Leute in deiner Lieblingsbar dazu, sie mal aufzulegen. Eine Woche Zeit dafür haben. Nur zum Hören. Vielleicht schon mal ein bißchen Recherche betreiben.
Cover anschauen, Texte studieren, Info vom Waschzettel in Ruhe lesen. Dann noch eine Woche Zeit nehmen. Das ganze sacken lassen. Auf kleiner Bewusstseinsflamme köcheln. Dann noch eine Woche, wenn möglich zwei, zum Schreiben. Dann die Deadline reißen. Mit Absicht und Gelassenheit. Noch eine Woche später einen wirklich guten Text abgeben. Über Zeichenzahl können wir reden. Meinetwegen den etwas fahrig wirkenden Redakteur alles zerrupfen lassen. Aber das gute Gefühl haben, eine Platte mit Zeit und Muße einer Begutachtung unterzogen zu haben, die sie und auch der Schreibende verdient. Was der Redakteur mit den Augenringen damit nach der Abgabe macht, ist egal. Mein Baby bleibt bei mir, so wie ich es schuf.

Und jetzt die traurige Wahrheit: Für all das ist keine Zeit mehr. Deshalb sind Plattenkritiken, so wie es sie gibt und wie wir wie seit Jahrzehnten kennen, extrem unnötig geworden. Die eine Variante ist belanglos und die andere heutzutage nicht mehr realisierbar. Vielleicht müsste man sich neue Wege und Techniken zum Schreiben von Rezensionen überlegen. Die die Aspekte zeit und inhaltliche Tiefe gleichermaßen berücksichtigen. Denn die Information über neue Musik zu verbreiten, Künstler und Alben bekannter zu machen, das ist immer noch wichtig. Dazu reichen aber drei Zeilen und ein Link.

2 Kommentare:

  1. Da gäbe es doch einen einfachen Trick: reduzieren. Mindestens 90% aller Neuerscheinungen sind doch eh nur mittelmäßige Lückenfüller, also Zeitverschwendung. Die brauchen kein Review. Schreib Reviews von den guten Platten. Lass Dir beliebig viel Zeit dafür. Du bist Fanziner, Dir sitzt niemand im Nacken. Du musst nicht mit dem Ox konkurieren (nee, das seh ich nicht mehr als Fanzine, das ist ein "Musikmagazin").
    Ich lese sehr gerne, gute Reviews. Ich brauche auch Reviews. Auch wenn ich ab und zu mal selbst bei bandcamp auf die Suche gehe, das meiste wurde von einem Review initiiert.
    Ich kenn das Renfield garnicht. Wie komme ich dran?

    AntwortenLöschen
  2. Ich habe beide Texte zum Thema gelesen und als alter , ehemaliger Fanzine-Schreiber habe ich schon ähnliche Gedankn gehabt was letztlich zur Einstellung des Klischee-Fanzines führte.Heute schreibe ich nur noch über Platten, Konzerte oder über Leute wenn mich das Thema wirklich intressiert .So wie das Interview mit Annette Benjamin welches ich fürs OX geführt hab ,einfach weil ich sie als Person total spannend finde.Deshalb könnte ich nie als professioneller Musikjournalist arbeiten weil ich über lauter Dinge schreiben müsste auf die ich keine Lust habe.

    AntwortenLöschen