Donnerstag, 29. August 2024
Schön, wenn Finnen Musik machen Pt. YXI
GOBLIN SHARK - RAT BONE
Menschen, die massenweise Videos über die seltsamsten Tiere des Planeten schauen, wissen natürlich, dass es den Koboldhai, auf englisch Goblin shark, wirklich gibt. Allerdings nicht in finnischen Gewässern. Die Referenz zu Mitsukurina owstoni passt bei den drei lustig schaurigen Finnen aber trotzdem, denn wenn es um kauzig-schrullige Rock'n'Roll-Versionen geht, hat Finnland nunja, die Nase vorn. Was wieder zur Nase des Goblin Shark passt.
Also: Der Nasenhai sieht lustig, aber auch ein ein wenig unheimlich aus. Wenn man ihn sieht, weiß man, dass er sicher gefährlich ist, aber so ganz abnehmen kann man ihm das nicht. So in etwa läuft's auch bei diesem Trio. Um das Obskure, das etwas drollig-Schaurige, versetzt mit schroffem Humor und dem Grusel mit Augenzwinkern geht es auch bei den drei lustigen Rock'nRoll-Predigern. Das Bild von drei Typen, die tief im Sumpf in einer Hütte seltsamen Dingen und Rock'n'Roll-Ritualen nachgehen, läuft mir durch den Kopf, während RAT BONE im CD-Player seine Kreise zieht. Um sich in den Bann von Trash-Voodoo ziehen zu lassen, musst du nicht bis nach New Orleans fliegen, ein Ticket mit dem Billigflieger nach Tampere dürfte auch reichen.
Screamin'Jay Hawins hatte diesen augenzwinkernden Rock'n'Roll-HokusPokus genauso gut drauf wie Dr. John oder Tito & Tarantula und davon haben sich die drei finnischen Jünger wahrscheinlich viel ins Ohr geträufelt. Manchmal gesellen sich beim Hören auch gewisse Psychobilly-Assoziationen dazu, nicht dieses schnelle hektische Zeug, eher der brütende, fiebrige Stoff, den THE CRAMPS oder DEADBOLT so gut beherrschten. Das ganze Album könnte gut den Soundtrack zu einem Tim-Burton-Film liefern. Zu irgendwelchen Horror-B-Movies sowieso.
Wenn diese Musik nun ein Topf voll mit heißem Gumbo ist, in dem allerlei Getier verkocht wird, dann sind Pharao Pirttinkangas (auch so ein Name, den du nur einmal in einer Rezension schreiben willst), Taskinen und Neuvonen die Hexenmeister, die tief in den Wäldern eine große Portion Boogie, Garagerock, Gruseltrash, Voodoo Blues und ureigenen finnischen Humor mit einem guten Schluck Swamprock zusammenbrauen.
Das klingt wie ein typischer Halloween-Cocktail. Kann sein, dass manche Menschen nur zu Allerheiligen darauf Bock haben, aber eigentlich ist die Jahreszeit egal, in der man sich diese Platte gönen kann. Denn Spaß machen diese angenehm durchgeknallten Typen immer. Würde ich gern live sehen, aber das kann bestimmt dauern, bis diese Hexenmeister mal auf dem Besen nach Berlin kommen. Wäre jedenfalls dabei.
Anspieltipps: 1. Genghis Khan 2. Serial Eater 3. Root Canal Surgery (Denn wieviele Songs gibt es, die eine Zahnwurzelbehandlung metaphorisch aufgreifen? I love it!)
Gary Flanell
GOBLIN SHARK - RAT BONE ist auf VOODOO RHYTHM Records erschienen.
Donnerstag, 22. August 2024
Schön, wenn Rüttenscheid Musik macht Pt. I
INTERNATIONAL MUSIC - ENDLESS RÜTTENSCHEID
International Music ist so international wie ein Amboss im freien Fall flexibel ist, oder Hamburg eine Metropole.
Im Spiel mit ironischer Provinzialität bewegt sich die Indie Konsensband des Prenzlauer Berges und allen anderen sein-wollen-wie-Stadtvierteln dieser Republik souverän zwischen schön und schaurig.
Angesagte Musik zum wohlfühlen, ausprobieren und abgehen.
Nach ihren ersten beiden Alben auf dem Berliner STAATSAKT Label, erscheint Endless Rüttenscheid nun auf dem bandeigenen Label TIMELESS MELANCHOLIC MUSIC als Katalognummer eins.
Inhaltlich bleibt es zumeist im privaten, ohne Übergriffigkeiten oder Erwartungen – warm und kuschelig wie ein Frühlingssonnenstrahl. Es treten auf :
Kirmesschenkelklopfer (International heat), Marius Müller Westernhagen Anleihen (Kraut), einnehmende Melancholie (Endless Rüttenscheid, Mont St. Michel, Im Sommer bin ich dein König) und vieles, was schön anfängt [ESSEN – der Harmoniegesang sitzt..], bevor sich International Music etwas zu oft in den Rock mit großem R verabschieden, um sich dort zu verlieren.
Kommt auf Festivals wahrscheinlich gut, ist aber halt auch nur eine Option...
Einfach mal öfter im zweiten Gang nach Hause fahren....
[und jetzt einen kleinen Cappuccino mit Hafermilch und Schuss].
Hörrissey
Essen Rüttenscheid – Angesagter Stadtteil zum Wohnen, Arbeiten und Ausgehen [Eigenwerbung]
International Music ist so international wie ein Amboss im freien Fall flexibel ist, oder Hamburg eine Metropole.
Im Spiel mit ironischer Provinzialität bewegt sich die Indie Konsensband des Prenzlauer Berges und allen anderen sein-wollen-wie-Stadtvierteln dieser Republik souverän zwischen schön und schaurig.
Angesagte Musik zum wohlfühlen, ausprobieren und abgehen.
Nach ihren ersten beiden Alben auf dem Berliner STAATSAKT Label, erscheint Endless Rüttenscheid nun auf dem bandeigenen Label TIMELESS MELANCHOLIC MUSIC als Katalognummer eins.
Inhaltlich bleibt es zumeist im privaten, ohne Übergriffigkeiten oder Erwartungen – warm und kuschelig wie ein Frühlingssonnenstrahl. Es treten auf :
Kirmesschenkelklopfer (International heat), Marius Müller Westernhagen Anleihen (Kraut), einnehmende Melancholie (Endless Rüttenscheid, Mont St. Michel, Im Sommer bin ich dein König) und vieles, was schön anfängt [ESSEN – der Harmoniegesang sitzt..], bevor sich International Music etwas zu oft in den Rock mit großem R verabschieden, um sich dort zu verlieren.
Kommt auf Festivals wahrscheinlich gut, ist aber halt auch nur eine Option...
Einfach mal öfter im zweiten Gang nach Hause fahren....
[und jetzt einen kleinen Cappuccino mit Hafermilch und Schuss].
Hörrissey
Essen Rüttenscheid – Angesagter Stadtteil zum Wohnen, Arbeiten und Ausgehen [Eigenwerbung]
Geriatrie und Subkultur (Opa erzählt vom Konzert)
Vielleicht war es das Interview mit Martin Seliger von den Shitlers auf der Seite des KAPUT-Magazins, das mich darüber nachdenken ließ, eventuell mal wieder eine Printausgabe des Renfield-Zines in Angriff zu nehmen. Oder gar ein Buch? Man wird sehen.
Allrdings weiß ich nicht genau, wohin das hier führt. Das Interview handelt von der neuen Shitlers-EP und einem Song, der "Wolfgang Wendland" heißt. Darin geht es, wenig überraschend, um den Sänger der Kassierer, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum grumpy old Punk-Dude entwickelt hat. Die Kassierer werde ich hier nicht weiter vorstellen, Wikipedia hilft im Notfall. Ich fand diesen Artikel deshalb interessant, weil er mich auf ein Thema zurückführte, dass mich schon öfter in den letzten Jahren durch den Kopf gegangen ist: Das Älterwerden in subkulturellen Kontexten.
Ganz klar liegt aus meiner Perspektive das Altwerden als Punk/Punkrocker*in und angrenzenden Szenen im Fokus. Es stellt sich ja die Frage: Wie wird man da alt, ohne sich lächerlich zu machen? Wie kann man als Punk/Punkrocker*in (ob diese Unterscheidung notwendig ist, wäre auch noch zu diskutieren) altern, wenn man diese beiden Aspekte - unvermeidliche körperliche Verschleißerscheinungen und eigenes subkulturelles Selbstbild - miteinander vereinbaren will und mit sich selbst im Reinen sein möchte?
Ich selber würde mich nicht mehr als Punk bezeichnen. Dafür bin ich mittlerweile von Szeneaktivitäten zu weit weg und ich finde auch diese Beschränkung auf bestimmte Codes, Outfits, Musik und Menschen, mit denen man Zeit verbringt, eher einengend. Sympathisant aber sicher noch. Und naja, vielleicht ist es mittlerweile die Einstellung, als das Outfit.
Allerdings gibt es sicher einige Ü50er, die lange in der Szene aktiv und unterwegs sind und sich selber immer noch als Punk bezeichnen würden. Aber wie kann man die unvermeidbaren körperlichen Veränderungen mit einer doch eher auf einen jungen Metabolismus (Lange feiern, laute Konzerte, Festivals, Drogen, Fokus eher nicht so auf regelmäßigen Lohnjob, kein Gedanke an Altersvorsorge, offensive Rebellion gegen gesellschaftliche Strukturen) zugeschnittenen Lebensstil vereinbaren? Wie geht man damit um, wenn man erlebt, dass diese rebellische Bewegung, die zum eigenen Selbstverständnis gehört, eigentlich immer mehr an Relevanz verliert?
Gibt es ein Rezept, dass eine*n davor schützt, sich ab eine bestimmten Punkt nicht einzuigeln und zurückzuziehen, in Nostalgie zu verfallen und als Referenzen nur die eigene, vor 20 Jahren in ihren Grundfesten gebaute Plattensammlung zu sehen? UND sich eine Offenheit gegenüber neuen Strömungen in der Szene zu behalten? Neueinsteiger*innen nicht mit Platzhirschgehabe (das gender ich jetzt mal nicht) wegzutreten? Gibt es einen Weg auch mit Mitte 50 und Wampe im Youth-of-Today-Shirt nicht lächerlich auszusehen? Auch neue Aspekte der eigenen Persönlichkeit zuzulassen, dei eigentlich nicht zum Punkimage passen? Was machen eigentlich die 60-Jährigen Skinheadfrauen so? Die alten Metaller (wobei ich Metal eine der wenigen Szenen sehe, wo ältere Menschen recht gut integriert werden)? Und die Ü60-Gothics?
Nun ist es nicht so, dass Punk das Thema Alter beziehungsweise Älterwerden thematisch ausgespart hätte. Songs darüber gibt es einige und aus den meisten spricht die pure Angst:
"I don't wanna grow up" (RAMONES)
"Ich will nicht älter werden" (BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS, oder auch gleich die ganze Platte "Jung kaputt spart Altersheim)
"GRUPPENSEX IM ALTERSHEIM" (Alter Deutschpunksampler, bezeichnenderweise auf einem Label namens "Live slow, die old" erschienen, und eigentlich der Titel eines Songs von den 3 Besoffskis. Keine Punkband.)
"Alt sein" (PISSE)
"What will it be like, when I get old?" (DESCENDENTS)
"Live fast, die young" (CIRLE JERKS)
"Jetzt kommen die Jahre" (DIE SCHWARZEN SCHAFE)
Alles Tracks, die bekannt sind, wahrscheinlich gibt es noch mehr. Aber diese Songs sind alle entstanden, als die Bands noch voll im Saft und jung waren, und das Thema Alter eher negativ bis ironisch betrachtet wurde. Und sie sind alle schon mindestens schon 30 Jahre alt. Kam danach nie wieder was aus Punk-Hausen?
Was noch dazu kommt, irgendwann: Die Sache mit der Geriatrie. Wie willst du als Punk-Opa mal gepflegt werden, wenn's alleine nicht mehr geht? Oder als HipHop-Oma? Oder als Techno/Electro-Nerd, der sich an den sedierenden Schlagersoundtrack in der Altersresidenz nur schlecht gewöhnen kann? Was, wenn du dein Leben lang vegan gelebt hast und der Mobile Soziale Hilfsdienst bringt dir jetzt mindestens 1x die Woche Sauerbraten mit Klößen oder Tote Oma? Oder schütteln wir alle unsere über Jahrzehnte geformte Szene-Identität einfach am Eingang vom Pfegeheim ab und lassen uns widerstandslos in beigefarbene Übergangskamotten und Gesundheitsschuhe stecken?
Wahrscheinlich wird eh alles nicht so schlimm. Möglicherweise schleicht sich eine gewisse Gelassenheit und Altersmilde ein, eine gewisse Freude an anderen Dingen als Lederjackendesign, Iropflege und Abkotzen über Dinge, die man eh nicht ändern kann, Schweinesystem und so. Aber ihr merkt: Die durch Punk lange mittransportierte Angst vor dem Altern, dem damit einhergehenden körperlichen Verfall und Identitätsverlust schwingt immer noch in diesen Zeilen mit.
Können die subkulturelle Identität und damit verbundene Lebensweisen, die du dein Leben lang entwickelt hast, komplett über Bord geworfen werden, weil in den vorgesehehen Pflegestrukturen diese Gewohnheiten gar nicht eingeplant sind? Kann darauf in einer Pflegeeinrichtung Rücksicht genommen werden? Ist dort überhaupt ein Verständnis für alternative Lebensstile vorhanden? Oder, und das wäre ja vielleicht das schönste: Gibt es schon subkulturelle, selbstverwaltete Altersheime, Mehrgenerationenhäuser oder ähnliches? Früher wurden AJZs und das Leben in Hausprojekten am laufenden Band organisiert, warum sollte das nicht möglich sein, Wohnformen für Greis*innen zu entwickeln, die auf eine subkulturell geprägte Biografie Rücksicht nehmen? Ein subkulturelles Avalon oder Shangri-La, wo die Punks alt werden dürfen, wie sie möchten.
Dass die Peitsche des Alters erbarmungslos knallt, habe ich selber vor ein paar Jahren erfahren. Wie es häufig so ist, durch eine Krankheit. Gicht war die Diagnose. Gichtanfälle sind große Scheiße. Aber die Krankheit ist gut behandelbar und wenn man sich nicht zu blöd anstellt, kann man damit gut leben. Aber: Alkohol ist halt nicht mehr drin, Fleischkonsum wird ebenfalls sehr eingeschränkt.
Ehrlich gesagt, finde ich das gar nicht so schlecht. Saufen wurde mit zunehmendem Alter eh immer anstrengender und spaßloser. Mittlerweile ist es zumindest in Berlin, auch akzeptiert, dass man keinen Alkohol trinkt. Ich merke allerdings auch, dass viele Anlässe, zu denen man sich früher getroffen hat, oft über Alkohol funktioniert haben und so manche durchzechte Nacht ins Mythische erhoben wurde, obwohl eigentlich gar nichts passiert ist. Ewig lange Nächte in Punkrock-Kneipen und -Clubs von Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain sind für mich jetzt nicht mehr so spannend, deshalb hänge ich da auch eher selten herum. Ein gewisser Rückzug aus Szenetreffpunkten geht damit einher, aber ehrlich gesagt, gefällt mir das ganz gut. Und ich liebe es total, morgens wach zu werden und keinen Kater zu haben, der mich drei Tage begleitet. Vor 10-15 Jahren war das noch komplett anders.
Also: Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf. Das ist natürlich alles sehr auf Punk/Indie-wasweißich bezogen. Interessant wäre es sicher auch, das ganze nochmal in Bezug auf Männer und Frauen zu betrachten. Altern Frauen in Subkulturen anders als Männer? Werden sie anders wahrgenommen? Und was noch gar nicht so gesehen wurde: Wie geht man als Punk-Opa denn mit Altersarmut um? Denn die ist ja auch mit dem Thema Arbeit und der punkimmanenten Verweigerung derselben verbunden. Bestimmt kein uwichtiges Thema für die alten Punks, die sich im Rentenalter immer noch prekär mit dem Jobcenter rumschlagen müssen, weil die Rente eben nicht reicht.
Soviele Fragen. Ich denke, es wird Zeit für eine Publikation.
Eigene Ideen und Gedanken zu dem Thema? Bock, mitzuschreiben? Einfach eine Mail an renfield-fanzine@hotmail.de schicken.
Gary Flanell
Allrdings weiß ich nicht genau, wohin das hier führt. Das Interview handelt von der neuen Shitlers-EP und einem Song, der "Wolfgang Wendland" heißt. Darin geht es, wenig überraschend, um den Sänger der Kassierer, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum grumpy old Punk-Dude entwickelt hat. Die Kassierer werde ich hier nicht weiter vorstellen, Wikipedia hilft im Notfall. Ich fand diesen Artikel deshalb interessant, weil er mich auf ein Thema zurückführte, dass mich schon öfter in den letzten Jahren durch den Kopf gegangen ist: Das Älterwerden in subkulturellen Kontexten.
Ganz klar liegt aus meiner Perspektive das Altwerden als Punk/Punkrocker*in und angrenzenden Szenen im Fokus. Es stellt sich ja die Frage: Wie wird man da alt, ohne sich lächerlich zu machen? Wie kann man als Punk/Punkrocker*in (ob diese Unterscheidung notwendig ist, wäre auch noch zu diskutieren) altern, wenn man diese beiden Aspekte - unvermeidliche körperliche Verschleißerscheinungen und eigenes subkulturelles Selbstbild - miteinander vereinbaren will und mit sich selbst im Reinen sein möchte?
Ich selber würde mich nicht mehr als Punk bezeichnen. Dafür bin ich mittlerweile von Szeneaktivitäten zu weit weg und ich finde auch diese Beschränkung auf bestimmte Codes, Outfits, Musik und Menschen, mit denen man Zeit verbringt, eher einengend. Sympathisant aber sicher noch. Und naja, vielleicht ist es mittlerweile die Einstellung, als das Outfit.
Allerdings gibt es sicher einige Ü50er, die lange in der Szene aktiv und unterwegs sind und sich selber immer noch als Punk bezeichnen würden. Aber wie kann man die unvermeidbaren körperlichen Veränderungen mit einer doch eher auf einen jungen Metabolismus (Lange feiern, laute Konzerte, Festivals, Drogen, Fokus eher nicht so auf regelmäßigen Lohnjob, kein Gedanke an Altersvorsorge, offensive Rebellion gegen gesellschaftliche Strukturen) zugeschnittenen Lebensstil vereinbaren? Wie geht man damit um, wenn man erlebt, dass diese rebellische Bewegung, die zum eigenen Selbstverständnis gehört, eigentlich immer mehr an Relevanz verliert?
Gibt es ein Rezept, dass eine*n davor schützt, sich ab eine bestimmten Punkt nicht einzuigeln und zurückzuziehen, in Nostalgie zu verfallen und als Referenzen nur die eigene, vor 20 Jahren in ihren Grundfesten gebaute Plattensammlung zu sehen? UND sich eine Offenheit gegenüber neuen Strömungen in der Szene zu behalten? Neueinsteiger*innen nicht mit Platzhirschgehabe (das gender ich jetzt mal nicht) wegzutreten? Gibt es einen Weg auch mit Mitte 50 und Wampe im Youth-of-Today-Shirt nicht lächerlich auszusehen? Auch neue Aspekte der eigenen Persönlichkeit zuzulassen, dei eigentlich nicht zum Punkimage passen? Was machen eigentlich die 60-Jährigen Skinheadfrauen so? Die alten Metaller (wobei ich Metal eine der wenigen Szenen sehe, wo ältere Menschen recht gut integriert werden)? Und die Ü60-Gothics?
Nun ist es nicht so, dass Punk das Thema Alter beziehungsweise Älterwerden thematisch ausgespart hätte. Songs darüber gibt es einige und aus den meisten spricht die pure Angst:
"I don't wanna grow up" (RAMONES)
"Ich will nicht älter werden" (BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS, oder auch gleich die ganze Platte "Jung kaputt spart Altersheim)
"GRUPPENSEX IM ALTERSHEIM" (Alter Deutschpunksampler, bezeichnenderweise auf einem Label namens "Live slow, die old" erschienen, und eigentlich der Titel eines Songs von den 3 Besoffskis. Keine Punkband.)
"Alt sein" (PISSE)
"What will it be like, when I get old?" (DESCENDENTS)
"Live fast, die young" (CIRLE JERKS)
"Jetzt kommen die Jahre" (DIE SCHWARZEN SCHAFE)
Alles Tracks, die bekannt sind, wahrscheinlich gibt es noch mehr. Aber diese Songs sind alle entstanden, als die Bands noch voll im Saft und jung waren, und das Thema Alter eher negativ bis ironisch betrachtet wurde. Und sie sind alle schon mindestens schon 30 Jahre alt. Kam danach nie wieder was aus Punk-Hausen?
Was noch dazu kommt, irgendwann: Die Sache mit der Geriatrie. Wie willst du als Punk-Opa mal gepflegt werden, wenn's alleine nicht mehr geht? Oder als HipHop-Oma? Oder als Techno/Electro-Nerd, der sich an den sedierenden Schlagersoundtrack in der Altersresidenz nur schlecht gewöhnen kann? Was, wenn du dein Leben lang vegan gelebt hast und der Mobile Soziale Hilfsdienst bringt dir jetzt mindestens 1x die Woche Sauerbraten mit Klößen oder Tote Oma? Oder schütteln wir alle unsere über Jahrzehnte geformte Szene-Identität einfach am Eingang vom Pfegeheim ab und lassen uns widerstandslos in beigefarbene Übergangskamotten und Gesundheitsschuhe stecken?
Wahrscheinlich wird eh alles nicht so schlimm. Möglicherweise schleicht sich eine gewisse Gelassenheit und Altersmilde ein, eine gewisse Freude an anderen Dingen als Lederjackendesign, Iropflege und Abkotzen über Dinge, die man eh nicht ändern kann, Schweinesystem und so. Aber ihr merkt: Die durch Punk lange mittransportierte Angst vor dem Altern, dem damit einhergehenden körperlichen Verfall und Identitätsverlust schwingt immer noch in diesen Zeilen mit.
Können die subkulturelle Identität und damit verbundene Lebensweisen, die du dein Leben lang entwickelt hast, komplett über Bord geworfen werden, weil in den vorgesehehen Pflegestrukturen diese Gewohnheiten gar nicht eingeplant sind? Kann darauf in einer Pflegeeinrichtung Rücksicht genommen werden? Ist dort überhaupt ein Verständnis für alternative Lebensstile vorhanden? Oder, und das wäre ja vielleicht das schönste: Gibt es schon subkulturelle, selbstverwaltete Altersheime, Mehrgenerationenhäuser oder ähnliches? Früher wurden AJZs und das Leben in Hausprojekten am laufenden Band organisiert, warum sollte das nicht möglich sein, Wohnformen für Greis*innen zu entwickeln, die auf eine subkulturell geprägte Biografie Rücksicht nehmen? Ein subkulturelles Avalon oder Shangri-La, wo die Punks alt werden dürfen, wie sie möchten.
Dass die Peitsche des Alters erbarmungslos knallt, habe ich selber vor ein paar Jahren erfahren. Wie es häufig so ist, durch eine Krankheit. Gicht war die Diagnose. Gichtanfälle sind große Scheiße. Aber die Krankheit ist gut behandelbar und wenn man sich nicht zu blöd anstellt, kann man damit gut leben. Aber: Alkohol ist halt nicht mehr drin, Fleischkonsum wird ebenfalls sehr eingeschränkt.
Ehrlich gesagt, finde ich das gar nicht so schlecht. Saufen wurde mit zunehmendem Alter eh immer anstrengender und spaßloser. Mittlerweile ist es zumindest in Berlin, auch akzeptiert, dass man keinen Alkohol trinkt. Ich merke allerdings auch, dass viele Anlässe, zu denen man sich früher getroffen hat, oft über Alkohol funktioniert haben und so manche durchzechte Nacht ins Mythische erhoben wurde, obwohl eigentlich gar nichts passiert ist. Ewig lange Nächte in Punkrock-Kneipen und -Clubs von Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain sind für mich jetzt nicht mehr so spannend, deshalb hänge ich da auch eher selten herum. Ein gewisser Rückzug aus Szenetreffpunkten geht damit einher, aber ehrlich gesagt, gefällt mir das ganz gut. Und ich liebe es total, morgens wach zu werden und keinen Kater zu haben, der mich drei Tage begleitet. Vor 10-15 Jahren war das noch komplett anders.
Also: Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf. Das ist natürlich alles sehr auf Punk/Indie-wasweißich bezogen. Interessant wäre es sicher auch, das ganze nochmal in Bezug auf Männer und Frauen zu betrachten. Altern Frauen in Subkulturen anders als Männer? Werden sie anders wahrgenommen? Und was noch gar nicht so gesehen wurde: Wie geht man als Punk-Opa denn mit Altersarmut um? Denn die ist ja auch mit dem Thema Arbeit und der punkimmanenten Verweigerung derselben verbunden. Bestimmt kein uwichtiges Thema für die alten Punks, die sich im Rentenalter immer noch prekär mit dem Jobcenter rumschlagen müssen, weil die Rente eben nicht reicht.
Soviele Fragen. Ich denke, es wird Zeit für eine Publikation.
Eigene Ideen und Gedanken zu dem Thema? Bock, mitzuschreiben? Einfach eine Mail an renfield-fanzine@hotmail.de schicken.
Gary Flanell
Donnerstag, 15. August 2024
Schön, wenn die Chemie stimmt Pt. I
MARTINA CLAUSSEN UND KATHARINA KLEMENT - ALCHEMICAL ALLURES
Das österreichische Duo Claussen-Klement, auch bekannt als DUO 3-KANAL (zu zweit in Korrespondenz mit einer Lautsprecherbox) stilisiert mit Alchemical Allures eine wohlgeplante Klang-Collage bestehend aus dinglich-zithrig-vocaloiden Geräuschfetzen, flatternd in einem elektro-ätherischen Corpus. Durchdacht arrangiert, auch wenn sich der Sinn dessen nicht unmittelbar erschließt. Aber das ist womöglich schon die titulierte Alchemie, die ja auch undurchsichtig und umstritten ist.
Alchemie, das ist die mittelalterliche Stofflehre mit ihren unzähligen reaktiven Versuchen, ferner das Veredeln unedler Stoffe. Ob Claussen und Klement mit ihrem vierteiligen Album ein güldenes Erzeugnis vollbracht haben, soll im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein.
Alchemical Allures ist in vier Teile gliedert: Helium, Silver, Sodium und Neon, je sieben bis zehn Minuten lang. Unklar ist, ob diese chemischen Elemente bereits das Produkt sein oder als Reaktant herhalten sollen. Helium beispielsweise ist zwar kein Gold, aber immerhin ein edler Stoff, nämlich ein Edelgas.
Helium, altgriechisch für Sonne, eröffnet den Ohren einen tatsächlich hörbar hell beschienen Wiesengrund mit Grillengezirpe und Wind im Hintergrund. Die Stimmung indessen wird schnell düster-schaurig, ob der claussen’schen Lippenbekundungen: Hauchen, pressiertes Gluckern, Piep und Plopp, Hecheln und flinke Zungenakrobatik. Eine schizoide Mischung aus Erotik und Horror, aus indigenem Kauderwelsch und Würgereiz. Derweil klackert Klement grazilen Schrittes auf kühlem Grund durch einen fernhallenden Korridor und ergänzt die Naturelle mit maschineller Kulturstruktur.
Silver, das argentische Übergangselement, erklingt sofort als das, was es ist, als Metall, hier spiraliert und verschieden dick aufgetragen. Man kann sich gar einen silbernen Vogel vorstellen, der routiniert durch seine Metallfedern schnäbelt. Dabei schrammelt und döngelt es anmutig, das Federvieh bürstet dabei schwingelnd über den Boden, stößt mit seinem Bürzel hin und wieder an einen Becher oder an eine Klangschale, aber viel mehr passiert eigentlich nicht.
Sodium brummt. Sodium knistert. Dies reine Element, auch Natrium genannt und auch ein Metall, scheint sich dick- und dünnflüssig durch etwas zu winden. Hier dominieren die elektrischen Frequenzen, viel Strom, sowohl solo also auch angenehm resonant in verschiedenen Tempi. Überraschend ineinander fallend in die sämig-wogenden Elektronenteppiche wispert erneut die bereits bekannte Stimme hie und da, von links nach rechts, von hinten nach vorne, ähnlich schizo-schrill wie in Helium, doch diesmal inmitten eines großvolumigen Rauschens, das wie Sodbrennen durch die Röhren der Mensch-Maschine blubbert.
Eine Reise durch das Innere, achtsam aufgebaut, füllig verwoben und am Ende fummelt ein blonder Barde auf seiner Laute zum Geleit durchs Gedärm Groß aufgebaut, ganz seicht ausgeblendet mit pfiffelndem Tön und in Folge dessen doch nur ein feuchter Furz.
Neon schließlich ist die vierte Komponente und wiederum ein edle, ein Edelgas und insofern im gleichen Aggregat wie der alchemistische Auftakt. Zurückhaltend und argwöhnisch begegnen sich Metallquellen und perkussive Rascheleien. Ein bisschen Stimme, ein bisschen No-Input-Mixing, ein bisschen Rausch, ein bisschen Plastik, ein Gong, der nicht gongt, überspannte Saiten und Kling und Klang. Eher abwechselnd und tatenlos, so wie das reaktionsträge Neon in seinem ureigensten Element. Der Schluss geriert zaghaft zur geigenhaften Horrorfilmbegleitung, aber finalisiert das Album mit offenem Ende und erschöpftem Fragezeichen.
Ist die Transmutation gelungen? Das Opus magnum, der Stein der Weisen, ist dies wohl nicht. Alchemical Allures hört sich weniger wie Musik und mehr wie eine Performance an.
Als Sound-Installation für eine Kunstausstellung, wo in einem weißen Raum Grasbüschel, Federn und Zweige an einer Schnur von einem Motor im Kreis gezogen werden und eine groteske Puppe dazu tanzt und launenhafte Phrasen tönt, ist dieses Klangerlebnis besser verortet. Eine Mixtur aus artifizieller Inszenierung und Kontemplation bis hin zum Allerlei, denn nur allzu oft und besonders in Silver werden an sich schöne Sounds weitestgehend brav aneinandergereiht wie in einem Hexenkessel, in den Elemente geworfen werden, die sich schlechterdings kaum verbinden lassen.
Das großräumliche der elektronischen Komponenten und die zumeist effektlosen perkussiven und vokalen Elementen stehen sich zu singulär gegenüber und lediglich in Sodium bricht die Membran auf und breitere Teppiche entrollen sich zu einer verwobenen Melange. Alles andere klingt gekünstelt und ist darob Kunst, aber es hat gleichsam einen unauthentischen Beiklang, der zuweilen vorführend und gar besserwisserisch rüberkommt.
Ist das Wiener Schmäh oder arrangierte Scharlatanerie? So allüresk die Kompositionen auch sein mögen, sie fügen sich ein in ein versuchungsreiches Konzeptalbum ritueller Elektrokunst: Alchemical Allures ist ein fundiertes Klangexperiment von Martina Claussen und Katharina Klement, eine intellektuelle Akustik-Performance zweier Künstlerinnen aus Österreich.
Gustav Roland Reudengeutz
MARTINA CLAUSSEN UND KATHARINA KLEMENT - ALCHEMICAL ALLURES ist auf Ventil Records erschienen.
Donnerstag, 8. August 2024
Schön, wenn Psycho Analyse noch Musik macht Pt. II
Brezel Göring & Psychoanalyse -
Friedhof der Moral
Er hat es wieder getan.
Trug sein erstes Solo-Album noch den Namen „Psychoanalyse (Volume 2)“, so hört nun beim Nachfolger gleich mal Brezel Görings Begleitband auf selbigen.
Ok, ohne „Volume 2“, das wäre aber auch ein wenig zu absurd. Hinter der Band verbirgt sich eine illustre Truppe durchgeknallter Untergrund-Musiker, die Kreuzbergs Punkprinzessin zielsicher um sich geschart hat.
Die bringen sich da alle mehr oder weniger mit ein und sorgen somit für einen kongenialen Stilmix, den man so in dieser Form ein zweites Mal vergeblich suchen muss.
Auf „Friedhof der Moral“ trifft Punk auf Pop, Disko auf Polka, Trash auf Blues. Brezel hat außerdem ein Faible für klassische Musik und natürlich und vor allem für den französischen Chanson.
Hat der Tod von Françoise Cactus und damit das Ende von Stereo Total eine riesige Lücke in die Berliner Musiklandschaft gerissen, so darf man doch ausgesprochen froh sein, dass Brezel nicht aufgegeben hat und weiter musiziert. Dass er an diesem Verlust allerdings fast zerbrochen wäre, kann man seinen Texten doch gelegentlich anhören. Normal ist hier gar nichts, abgründig eigentlich alles. Immer wieder gewährt Brezel Einblicke in die Tiefen seiner Seele, die Perversionen seiner Sexualität (wenn es so etwas überhaupt gibt) oder seine Vorliebe für berauschende Substanzen.
„Tilidin“ könnte auch fast eine Liebeserklärung an die Angebetete sein. Aber nein, es geht nicht um eine Frau oder einen Mann, sondern um das Mittelchen. Darüber hinaus laufen einem auf diesem Album „Feuerlöscher“ über den Weg, führt einen die Reise nach „Tschernobyl“ oder lässt es den Hörer auf dem „Friedhof der Moral“ erwachen. Eine Tour de Force in die Niederungen des menschlichen Seins. Und das macht dabei stets unheimlich viel Spaß.
Denn eines ist und bleibt Brezel Göring in erster Linie: Ein begnadeter Entertainer, der sein Publikum einfängt, mitnimmt und dann irritiert zurücklässt. So auch auf diesem grandiosen Meisterwerk mit dem formvollendeten Titel „Friedhof der Moral“.
Abel Gebhardt
BREZEL GÖRING & PSYCHO ANALYSEs Album "Friedhof der Moral" erscheint am 20.09. als Vinylchen, Silberling und Kassettchen auf Stereo Total Records/Flirt 99 erschienen.
Mittwoch, 7. August 2024
Sex-positive alien amoeba entity
CUMGIRL8 - KARMA POLICE (Single release)
Die Überschrift mag verwirrend sein, aber so bezeichnet sich das Kollektiv (um mal den Begriff Band auszutauschen) cumgirl8 aus New York selber - wenn man Wikipedia glauben möchte. Ich möchte Wikipedia jetzt mal glauben und bin gespannt wie sich das erste cumgirl8-Album auf 4AD in gänze anhört.
Morgen gibt es schon einmal die erste Single "Karma Police", ist kein Radiohead-Gedöns, was ein Glück. Sondern eher ein interessantes feministisches Post-Punk-Wave-irgendwas-Projekt. Multimedia muss noch erwähnt werden, denn cumgirl8 machen nicht nur Musik, sondern sind auch im Bereich Film, Publishing und Fashion unterwegs. Alle machen alles, also. Ich hoffe, ihr verzettelt euch dabei nicht.
Was bisher auf Youtube rumschwirrt klingt schicko! Viel 80ies-Wave klingt hier durch, hier etwas Siouxsie da etwas Delta 5 und ein bissl von dem Mo-Dettes. Bald kommt also das Debut-Album "the 8th cumming"auf 4AD. Da geht's dann um das Konzept Cyberfeminismus, das die Beziehung zwischen Mensch, Maschine, Natur und Technologie im Blick hat. Klingt irgendwie spannend nach Utopie, sowas kann die Welt ja derzeit ja ganz gut gebrauchen. In so eine Musik verpackt, erst recht.
Wie gesagt, morgen 08.08., ab 16 Uhr hochoffizielle Videopremiere von cumgirl8s Video-Single Karma Police hier.
Donnerstag, 1. August 2024
Schön, wie vor 10 Jahren Musik gemacht wurde Pt. I2XU
SLEAFORD MODS - DIVIDE AND EXIT 10th Anniversary Edition (+ Flexi-Disc-Bonus-Tracks)
2014 war ich in Berlin unterwegs. Die Dinge liefen mal so, mal so. Meist eher so. Die Sleaford Mods wären ein guter Soundtrack für eine leicht prekäre Berliner Existenz gewesen. Ich war dafür allerdings nicht so wirklich offen. Natürlich habe ich damals irgendwas von diesen beiden mitbekommen, die wurden damals ja sehr abgefeiert, auch und viel von diversen Punkpublikationen, obwohl das musikalisch kein herkömmlicher Punkrock war.
Die Anschlußfähigkeit an unsere liebste Motz-Rum-Subkultur kam bei Jason Williamson und Andrew Fearn wohl eher vom Auftreten und der Einstellung, die sie an den Tag legten. Die beiden Typen sahen aus wie leicht angegangene, mürrische Clubgänger, damit hätten sie auch gut in die Fortsetzung von Trainspotting gepasst. Dazu kam dieser Minimalismus, der fast schon dreist oder auch provokant zu nennen wäre. Nicht zu vergessen: Die recht gute Vernetzung im DIY-Punk-Kontext, die Sleaford-Mods-Single "Bambi" erschien 2013 auf X-Mist Records, Armin Hoffmann wusste es halt schon immer.
Was da passierte, war in seiner Dreistigkeit schon sehr Punk: Einer von den beiden schießt am Rechner die Elektrotracks ab, der andere nölt dazu in breitestem britischem Slang über alles und jeden rum. Über die Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation an sich. Britisches Englisch hat eh launenunabhängig eine charmante Melodie und nun flucht da einer rum, eben zu Billo-Beats und einfachen Basslinien, die am Rechner zusammengebastelt wurden. Dazu wird ungelenk über die Bühne gehupft. Das haben auch die verstanden, die nicht jede Zeile verstanden haben.
Die Musik ist das Vehikel, möglicherweise kein besonders luxuriöses. Aber eins, das funktioniert. Eins, mit dem hervorragend die frustigen Lyrics über alles, was damals in GB im alltäglichen Leben der nicht ganz so Privilegierten schieflief, transportiert werden. Da Punkrock seine Relevanz und Schärfe als Mecker-Medium im Laufe der Jahrzehnte verloren hat, brauchte es eben eine neue Herangehensweise. Denn zum Motzen gibt es immer noch genug, also warum nicht mal neue Methoden ausprobieren? Auf musikalische Filigranität wurde geschissen, auch auf eine Besetzung im herkömmlichen Rock-Sinn und das ist ja schon mal sehr Punk. Scheiß auf Gitarren, scheiß auf Instrumente, scheiß auf Songschema oder tricky Strukturen. Aber live auch sehr unterhaltsam. Also Haken dran.
Weil soviel textreich rumgemeckert wurde und die Songs dann auch einfach nach einer bis drei Minuten einfach aufhörten, sind SLEAFODS MODS sowas wie eine Konsensband, auf die sich verschiedenste Gruppen einigen konnten: Punks und Indieloddels, die diese trashige, schlecht gelaunte und somit sehr nachvollziehbare Rangehensweise eben deshalb schätzten. Dazu Elektroconnaisseure, weil es nun mal eine erfrischend andere Art von Elektro war. Vielleicht auch ein paar versprengte Britcore-Überlebende, die ebenfalls die rohe, ungeschminkten Texte schätzten, weil es authentischer klang, näher dran war an der eigenen Lebensrealität und so gar nichts von gekünsteltem DickeHose-Gangster-Werdereichoderstirbdabei-HipHop hatte. Denn straßencredibel wirken die Mods auf alle Fälle. Eine Band, die Fans von The Fall und The Streets gleichermaßen abfeiern, kann nur interessant sein.
Davon ab krachen die Hits auf DIVIDE AND EXIT auch nach 10 Jahren wie eine Röhre Mentos in der Cola-Flasche: "Git some balls", "Tied up in Nottz", "Tweet Tweet Tweet", "Tiswas" oder "The Corgi" - alles Kracher, die sich schon jetzt schon ins Alzheimer-immune Gedächtnis der Popkultur eingeschrieben haben. Tanzte zu letzterem übrigens gerade nur im Bademantel durch die Plattenbauwohnung und hoffte, dass es laut genug war, damit die Nachbarn mitfeiern können.
Das hat natürlich alles seine Geschichte. DIVIDE AND EXIT war nicht das erste Album der Band, sondern schon das siebte. Sieben Alben von 2007 bis 2014, eine fast serielle Produktionsweise, alle DIY-mäßig rausgebracht, das zeugt von Hartnäckigkeit, jeder Menge Ideen und dem ziemlich tief sitzenden Glauben an das, was man tut. Man kann es ihnen gönnen, dass sie mit ihrem Scheiß abgefeiert worden sind. Eine Schritt zurückgetreten ist die Geschichte dieses Duos somit auch eine, die sehr gut in die mythenhafte Geschichtenbuch der Popkultur passt. Die Geschichte von den beiden Underdogs, die es mit dem, was sie kompromisslos tun, selber ikonisch geworden sind.
Das schöne an den Sleaford Mods ist natürlich, dass es einfach zwei Kerls in Freizeitsportkleidung (oder Campingplatz-Outfit) sind, die so auch seit 20 Jahren am Tresen in der Perspektivlos-Kneipe eines Berliner Vororts neben dir sitzen könnten.
Dabei sollten immer die gesellschaftlichen Umstände in Großbritannien mit in die Betrachtung der Band einbezogen werden. Thatcherism und die troslosen Folgen, die gerade abseits der Metropole London, wahrscheinlich auch in Nottingham, wo die Sleafords Mods herkommen, so richtig für sozialen Kahlschlag und Tristesse gesorgt haben. Es ist leicht zu sehen, dass damals nicht alles erstes Sahne war, und dass nicht wirklich was besser geworden ist - eh klar. Gründe zum Abkotzen gab es vor 10 Jahren genug und heute wahrscheinlich auch noch.
Dass es schon wieder 10 Jahre her ist, seit "Divide and Exit" erstmals erschienen ist, verwundert ein bißchen. Denn so einfach und billig das erscheint, was Williamson und Fearn machen, so zeitlos klingt es auch. Zumindest wenn man es in der Distanz von 10 Jahren sieht. Wer weiß, mit welchen Ohren das in 20 Jahren gehört wird.
Was irgendwie vorhersehbar war: Auch die Sleaford Mods sind nicht gegen die Strategien der popkulturellen Wiederverwertungsmühle gefeit. Zum 10. Jahrestag wird "Divide and Exit" also nochmal rausgebracht, auf Doppel-Vinyl, mit Bonustracks und Flexi-Disc (legt sowas eigentlich irgendwer wirklich auf den Plattenteller?). So werden die Plattensüchtigen geködert, damit die Zweitverwertung funktioniert.
Es sollen mit dieser Neuauflage wohl die damals Zuspätgekommen (das wären dann so Typen wie ich) oder Nochgarnichtgeborenen unter den Vinyljunkies von der Bushaltestelle am Plattenmarkt abgeholt werden. Für alle anderen, die Spotify-Zombies und Youtube-Nuckler, ist das eh alles immer und überall verfügbar und Menschen, die Musik meistens auf diese Art konsumieren, ist es wahrscheinlich auch egal, ob dieser Bonustrack jetzt verfügbar ist oder jener Track neu abgemischt wurde oder der Doppelvinylversion eine Flexidisc beiliegt.
Mir tendenziell auch, trotzdem freue ich mich, dass dieses Album nun wieder für einige Zeit als Vinylversion erhältlich sein sollte und das nicht zu Mondpreisen, die die Erstveröffentlichung wohl mittlerweile erzielt.
Gary Flanell
Sleaford Mods - Divide and Exit 10th Anniversary Edition (+ Flexi-Disc-Bonus-Tracks) ist am 26.Juni auf Beggars Banquet erschienen.
Schön, wenn Melancholie zart dröhnt Pt. XXXVI
JOANNA GEMMA AUGURI - HIRAETH
Tastende Töne, zartes Dröhnen - behutsam baut sich die Musik auf, über die Joanna Gemma Auguri ihre Stimme schweben lässt.
Wehmut, Melancholie und tröstliche Vibrationen machen sich breit, während die Arrangements mit jedem Stück mehr Kontur annehmen.
Auf einen nebulösen Auftakt folgt lupenreines Songwriting im Schneckentempo – erst mal ganz ruhig hingetupft mit Bass, Drums und Slide-Gitarre. Unterschwellig omnipräsent und mitunter nur schattenhaft wahrnehmbar ist ihr Akkordeon. Wenn dann noch Piano und später gar Streicher und Bläser hinzukommen, hinterlassen sie minimale Fußabdrücke bei maximaler Wirkung (z.B. Gänsehaut).
In „Little Bird“ bäumt sich alles dramatisch zu orchestraler Drone-Kulisse auf, doch zumeist herrscht eine Stimmung der inneren Einkehr und Selbstbefragung.
Dieses wohltemperierte Album lässt sich prima zwischen Mazzy Star, Chelsea Wolfes stilleren Arbeiten und Beth Gibbons & Rustin Man einsortieren.
Sun Ra Bullock
Joanna Gemma Auguri – Hiraeth