Donnerstag, 20. Juni 2024

Da kann aber die Band jetzt nichts für Pt. XXI

Meine Schulter riecht nach Teer. Zugsalbe. Hab da ein Pickel. Das riecht auch die Frau, die neben mir steht, denn sie schaut skeptisch zu mir rüber. Man riecht sich hier sehr schnell, weil der Frannz Club, in dem wir uns gerade befinden, ausverkauft ist.

400 Leute sind hier, und alle wollen NICHTSEATTLE bei letzten Konzert ihrer "Haus"-Tour sehen. Die Platte ist cool, ich hör mir das zuhause gern mal an, wenn ich was ruhiges haben will. Über die sehr gute "Fleißig"-Single habe ich mich ja schon vor einiger Zeit hier ausgelassen.


Ich bin hier allerdings eher zufällig, denn JENS AUSDERWÄSCHE von BAUMARKT spielt vor NICHTSEATTLE und hat mich auf die Gästeliste gesetzt. Der Frannzclub macht schon am Eingang nicht den sympathischsten Eindruck. Halbvolle Wasserflaschen müssen abgegeben werden, Kollege Huber wird es verweigert, ein paar Flyer seiner Bookingagentur an der Garderobe auszulegen. Die stellen sich ganz schön an hier.

Drinnen dann erster Halt bei der Frau, die meine Schulter riecht. Ich mag den Geruch von Teer und auch wenn der streng ist. Es ist ein geiler Gestank. Werde mich demnächst mal komplett mit Zugsalbe einreiben und dann auf einen Keller-Rave gehen.
Ich schiebe mich weiter nach vorne, um zu sehen, was JENS AUSDERWÄSCHE so auf der Bühne macht. Nur mit einer Akustik-Gitarre sitzt sie barfuß auf einem Hocker. Bringt ihre leicht verträumten, man könnte sagen, angenehm versponnenen Songs in den unsympathischen Club. Das Publikum klatscht nach jedem Song höflich bis zurückhaltend. Zugabe wird nicht gefordert.


Als NICHSTEATTLE anfangen, bin ich irgendwie rechts neben der Bühne an der Bar gelandet. Treffe dort YXILONIA, eine alte Freundin, bei der ich mich sehr lange nicht gemeldet habe. Dafür gibt's Gründe, aber die gehören nicht hierher. Wir kommen ins Reden, auch als NICHTSEATTLE den zweiten, dritten Song spielen. Wir reden über das Hamburger Internat und die dazugehörige Doku, über die gerade alle diskutieren. Über die Schluffiklamotten der Musiker*innen auf der Bühne, die so grunge-slacker-mäßig aussehen, wie ein Hamburger-Schule-Reenactement. Über die Tatsache, dass die Band recht jung ist, der Großteil des Publikums, aber recht alt. Wir ja auch. Warum die Band keine jüngeren Leute im größeren Maß anspricht. Warum wir nicht mehr in so komischen Tocotronic-Oma-Klamotten rumlaufen würden. Wir lachen recht viel.

Dann neben uns ein empörter Einwurf von links. Unsere Gespräch sei doch eher kontraproduktiv für die Atmosphäre. Wir sollen doch gefälligst mal ruhig sein.
Das kommt von irgend so einem Pferdegesicht in Adidasjacke mit Goldstreifen. Steht da mit seinem versträhnten Freund in Trainingsjacke rum.
Oha. Wir quasseln also zuviel und zu laut. Na sowas. Wir sind ziemlich baff, wegen der rüden Ansprache und der Tatsache, dass wir ja hier auf einem ausverkauften Clubkonzert sind, wo mit ein paar Hintergrundgeräuschen zu rechnen ist.

Ganz Sozialarbeiter versuche ich mich rasch an einem Perspektivwechsel. Wie wäre das, wenn ich auf einem Konzert wäre, und neben mir quatschen zwei Leute für mich zu laut? Wie ich reagieren würde, weiß ich nicht genau. Ich weiß aber, dass ich andere Leute nicht zurechtweisen würde wie eine doofe Deutschlehrerin. Wahrscheinlich würde ich entweder woanders hingehen oder das einfach akzeptieren.
Gehört zum Konzert mit 400 Leuten nun mal dazu, dass sich Leute unterhalten. Die Adidas-Jacke schaut uns nochmal böse an und gibt sich dann mit ihrem fransenhaarigen Boyfriend wieder der Atmosphäre hin. Wir wispern noch ein wenig, bis YXILONIA sich eine Sitzgelegenheit sucht.

Dieses Gemecker hängt mir nach. Meine Fresse, "Kontraproduktiv für die Atmosphäre". Ich war vorher schon genervt von einem langen Arbeitstag. Dann vom scheiß Prenzlauer Berg, der mir bei der Fahrt durch Husemann- und Sredzkistraße und seinen Edel-Restaurant-Altbaufassaden immer abgehobener und arroganter erscheint. Einem Stadtteil, der sich echt zum Schlechten entwickelt hat. Vom Frannzclub. Vielleicht bin ich auch einfach müde und deshalb schlecht gelaunt.

Und dann stehe ich auf einem Konzert, voll mit Leuten, die ich allein vor ihrer Art ebenso schnöselig und doof finde wie diesen Kiez und deswegen allesamt in diesem Reichenghetto Prenzlauer Berg wohnhaft verorte. Alle zusammen hier im Laden kriegen wir sicher 1000 Menschenjahre zusammen, ich nehme schon mal 50 davon. Trotzdem ist mir der Großteil dieser Menschen fremd und eigentlich finde ich 395 von den 400 Leuten in diesem Laden scheiße. Grundlos. Andererseits: Eigentlich mal wieder ganz geil, wegen nix Scheißlaune zu haben.

NICHTSEATTLE spielen derweil ihren zart-melancholischen Indie-Rock/Pop mit PJ Harvey-Versatz souverän runter. Da sitzt alles perfekt, kein schiefer Ton, kein versauter Einsatz, alles gut, aber eben auch keine Unberechenbarkeit. Sie sind so gut eingespielt, wie es am Ende einer Tour sein sollte. Eigentlich genau wie auf Platte. Tja.



Der Band ist kein Vorwurf zu machen, dass ich mich hier nicht wohlfühle. Eher dem Publikum. Ich finde die Pärchen scheiße, die bei den romantischen Klimpersongs nicht gestört werden wollen und damit eine angestrengte Atmosphäre kreieren, die nach Stock im Arsch riecht.
Ich finde aber auch die rücksichtslosen Typen scheiße, die sich wie selbstverständlich an allen anderen vorbei immer weiter Richtung Bühne bohren, OBWOHL offensichtlich kein Platz mehr ist und damit kleineren Menschen auch den letzten Blick auf die Bühne nehmen.
Wie gesagt, alles meine Alterskohorte, daran liegt es nicht. Ich befürchte, hier drückt mich eher der Klassismus, denn wir sehen hier ein eher gutbürgerliches Publikum. Gut gekleidet und frisiert, bissl alternativ, aber stilvoll, nicht zu schick, aber man kann das Geld schon erkennen.

PrenzlBergbewohner*innen halt. Leute, die in den Wohnungen sitzen, die NICHTSEATTLE meinen, wenn sie von "arschhohen Decken singen". Und die nicht verstehen, dass genau sie angesprochen sind. Leute, die auch "Bodentiefe Fenster" nicht verstehen würden. Keine Alkis, keine Kern-Assis im äußerlichen Sinn. Die wahrscheinlich auch Max Giesinger und den ganzen Deutschpop-Poetenscheiß gut finden. Und früher mal "die Tocos" (lach!). Und deshalb eben auch NICHTSEATTLE. Wegen der Musik, nicht wegen der Texte.

Das triggert was in mir. Eine große Abneigung gegen ähnliche Typen, gut gebildet, gut aussehend, gut verdienend. Meistens von Haus aus. Schick. Aber irgendwie auch unglaublich uncool. Langweilige Gestalten allesamt. Ich habe das Gefühl, der ganze Club ist voller Lehrer und Lehrerinnen. Sind im Frannz wahrscheinlich nur wenige, aber meine Knöpfe sind jetzt gedrückt: Ich find hier alle scheiße. Vielleicht finde ich deshalb auch den ganzen Prenzlauer Berg mittlerweile scheiße, und vielleicht ficken mich da meine Herkunft und meine Erfahrungen seit langer Zeit mal wieder ganz hart.

Irgendwann mache ich die Augen auf. NICHTSEATTLE bringen gerade den "Frau sein"-Song. Auch der voller Gefühl und zart gespielt, wie alles. Kennen hier auch alle und finden alle dufte. Die Sängerin hat schöne Hände, das sieht man beim Gitarre spielen deutlich. Die Musiker*innen alle nett und zurückhaltend, ganz ohne Posen. Ist das an sich schon eine Pose? Ich merke, dass mir jetzt schon zweimal im Stehen die Augen zugefallen sind. So spannend ist das hier. Wäre aber bei jedem anderen Konzert genauso. Also gehe ich, bevor ich komplett einschlafe. Zuhause lege ich eine Platte von LA TWAL auf. Das bringt Ruhe rein.



Wenn NICHTSEATTLE irgendwann wieder in kleineren Läden spielen, so mit 100 Leuten, alles ein bißchen stinkiger und kaputter, dann schau ich wieder mal rein. Aber sicher nie mehr im Frannz. Bis dahin reicht mir das auf Platte. Da kann aber die Band jetzt nichts für.

Gary Flanell

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